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Wilde Zeiten als Student

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Im Wintersemester 1970, ein halbes Jahr nach dem bestandenen Abitur fing ich an, Mathematik an der alt-ehrwürdigen Georg-August-Universität in Göttingen zu studieren. („Nach Kiel zum Segeln, nach München zum Skilaufen, nach Göttingen zum Studieren...”)

Die wilden sechziger Jahre, Jahre der technischen, gesellschaftspolitischen und kulturellen Innovation und Revolte wirkten noch einige Zeit nach, bis mit dem Ölpreis-Schock – Benzin kostete mit einem Male vierzig statt vorher nur zwanzig Pfennig pro Liter –, der Roten Armee Fraktion und den nachfolgenden Berufsverboten (vor allen Dingen, aber nicht nur für links gesinnte Lehrer) ab Mitte der siebziger Jahre erneut die politische Reaktion Einzug in Deutschland hielt.

Doch die Ölkrise war noch in weiter Ferne, und so war ich schon etwas enttäuscht, als ich in Göttingens Hörsälen nicht die erwarteten wild kiffenden, langhaarigen Hippies oder bärtigen und eine Mao-Bibel unter dem Arm tragenden Revoluzzer antraf. Sondern überwiegend ganz normale und in meinen Augen daher ziemlich stieselige Bürgertöchter und -söhne, die brav studierten und an ihrer zukünftigen Berufskarriere bastelten.

In der Geschichte ist Göttingen eben nie das Zentrum umwälzender Weltrevolutionen gewesen. Trotz der „Göttinger Sieben“ (Professoren), die gut hundert Jahre zuvor gegen ihren König in Hannover rebelliert hatten. Und dafür umgehend des Landes verwiesen wurden. Sogar die Gebrüder Grimm waren dabei und mussten ihre Märchen von da an woanders aufschreiben. Doch für das bürgerlich-brave Göttingen sind diese, den Aufstand gegen die Obrigkeit probenden Professoren eine absolute Ausnahmeerscheinung geblieben.

Tatsächlich war das mit Abstand Wildeste, das mir von den Göttinger Studentenprotesten ein, zwei Jahre vor meiner Zeit berichtet wurde, die ruchlose Schändung eines Kriegerdenkmals, das das seltene Pech hatte, zufälligerweise direkt vor dem Eingang zum alten Audi Maximum, dem ehemals größten Hörsaal der Universität, aufgestellt worden zu sein. Das Denkmal war damit ein ständiger Stein des Anstoßes für alle Studenten, die täglich daran vorbeigehen mussten.

Und so kam es, wie es kommen musste: Aus Protest gegen was auch immer wurden eines Nachts die Genitalien der überlebensgroßen nackten Männer, die auf ihren Händen gemeinsam einen gefallenen Soldaten zu seiner letzten Ruhestätte trugen, mit Leuchtfarbe angepinselt. Da das solchermaßen verunstaltete Kriegerdenkmal auch ohne diesen innovativen farblichen Akzent schon immer absolut potthässlich gewesen war, kann ich mir sehr gut vorstellen, wie hoch die Wellen der Empörung in der Göttinger Bürgerschaft damals geschlagen sind und wie sehr sich alle an diesem harmlosen Spaß beteiligten und unbeteiligten Studenten ins Fäustchen gelacht haben.

Von Anbeginn an stand über dem Eingang des alten Göttinger Audi Maximums eine Statue des sagenumwobenen Barons von Münchhausen. (In unmittelbarer Sichtweite des heutigen Heinz-Ehrhard-Denkmals!) In jener Nacht, als das graue Denkmal so farbenfroh verschönert wurde, so erzählt man sich noch heute in Göttingen, soll sich auch in das Gesicht des Barons, der zu den vier Gründungsvätern der Göttinger Universität gehörte, ein leises Lächeln geschlichen haben. Vielleicht war das die Geburtsstunde der berühmten Göttinger „klammheimlichen Freude“…

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