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4 Vom Ort des Grauens in die Klinik

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Auf dem Weg zum Unfallort versuchte Peter sich einzureden, dass es schon nicht so schlimm sein würde. Unfälle sahen auf den ersten Blick oft viel dramatischer aus, als sie sich im Nachhinein darstellten. Ulli hatte sich schließlich nur im Vorbeifahren ein flüchtiges Bild machen können. Wahrscheinlich war er inzwischen ausgestiegen und sah das Geschehen mit anderen Augen. Peter kannte eine Menge Gründe, warum Robert nicht viel passiert sein konnte. Bei Roberts Porsche handelte es sich um ein sicheres Auto und seit der Freund Familienvater geworden war, fuhr er ausgesprochen vorsichtig. Erst vor kurzem hatte er Peter gesagt, wie viel ihm seine kleine Familie bedeutete und dass er alles für sie tun würde.

Als er auf die Allee zu Beaulieus Anwesen einbog, geriet Peters Optimismus allerdings etwas ins Wanken. Wenn es stimmte, dass Robert gegen einen Baum gefahren war, hatte er auf dieser Strasse keine guten Karten. Die alten Alleebäume besaßen mächtige Stämme und standen verdammt dicht an der Fahrbahn.

Dann tauchte der Unfallort vor ihm auf. Rotierende Blau­lichter ließen die Schatten der Bäume wie irrlichternde Derwische tanzen und tauchten die Straße vor ihm in ein dramatisches Szenario.

Peter stellte seinen Wa­gen ein paar Schritte vor dem ersten Einsatzfahrzeug ab und ging zu Fuß weiter. Dann sah er das Wrack von Roberts Porsche und ihm stockte das Herz. Er musste erst einmal stehenbleiben und durchatmen. Was er sah, war ein Klumpen Blech, der wie eine bizarre Manschette um den mächtigen Stamm eines Alleebaumes gewickelt war. Seine Hoffnung, der Unfall könnte glimpflich ausgegangen sein, zerplatzte wie eine Seifenblase. Wie sollte jemand aus diesem Trümmerhaufen le­bend herauskommen? Fast mechanisch trat er näher, um sich das Wrack genauer anzusehen.

Oberhalb der Fahrertür war die Karos­serie mit der Rettungsschere aufgetrennt worden. Das Armatu­renbrett befand sich fast am Stamm des Baumes, das Lenk­rad war vollständig deformiert und überall war Blut.

Peter wollte sich gerade schaudernd abwenden, als sein Blick auf den Türholm der Fahrer­seite fiel. Dort hing, unbenutzt und unversehrt, der Sicherheitsgurt. Peter konnte es nicht glauben, aber es war eindeutig. Robert war nicht angeschnallt gewesen.

Plötzlich vernahm er eine leise Stimme hinter sich. „Robert ist im NAW.” Es war Ulli. Er deutete mit versteinerter Miene auf den Notarztwagen. Hinter dessen Milchglas­scheiben herrschte hekti­sche Ak­tivi­tät.

„Er lebt?”, fragte Peter überrascht. Nach dem Zustand des Autos hatte er den Freund bereits für tot gehalten. Er sah kurz hinüber zu dem Notarztwagen, dann deutete er auf den Gurt. „Robert war nicht angeschnallt!” sagte er mit tonloser Stimme.

„Ich weiß”, sagte Ulli und schüttelte ratlos den Kopf. „Er muss ein Höllentempo drauf gehabt haben. Ich kann das alles nicht begreifen.“

Ein Wagen kam an der Unfallstelle vorbei und hielt auf Höhe der beiden Freunde. Die Scheibe ging herunter. „Was ist denn hier passiert?”

Es war Günther Bard. Er betrachtete das Wrack mit der distanzierten Neugier eines Schaulustigen. Erst dann erkannte er das Nummernschild und seine Miene erstarrte. „Mein Gott!“, entfuhr es ihm, „das ist ja Roberts Wagen!“

„Ja“, bestätigte Peter und deutete auf den Notarztwagen, „er ist da drin.”

In diesem Moment sprang der Motor des NAW an.

„Sie fahren!”, stieß Ulli hervor, „das bedeutet, dass Robert lebt!“

Peter starrte den Freund an. „Bist du sicher?”

„Ganz sicher”, bestätigte Ulli, „in einem Notarztwagen dürfen nur Lebende transportiert werden.” Als Reporter, der schon von vielen Unfallorten berichtet hatte, kannte er die Vor­schriften.

„Das stimmt!“, schaltete sich Günther ein. Als Arzt musste er es wissen. Er wechselte ein paar Worte mit seiner Begleiterin. Dann sah er die beiden Freunde entschlossen an. „Ich fahre hinterher.”

Ulli und Peter tauschten einen kurzen Blick. „Wir auch“, entschieden sie wie aus einem Mund.

Kurz darauf befand sich die kleine Auto-Karawane auf dem Weg nach München. Vorne fuhr der Notarztwagen, dann folgten die Autos von Günther, Ulli und Peter.


Das Spital zum Heiligen Geist war zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts errichtet worden und bestand aus einem drei­stöcki­gen Backsteinbau, dessen Hauptportal von eckigen Säulen mit religiösen Motiven getragen wurde. Gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts waren noch mehrere Nebengebäude dazu gekommen, die sich mit ihrer kastenartigen Nüchternheit deutlich von dem alten Haupthaus abhoben.

Der Notarzt­wagen fuhr seitlich am Haupthaus vorbei zu einem der Nebengebäude. Über einer großen offenen Schie­betür leuchtete in grellen Buchstaben das Wort „Notaufnahme”. Zwei Pfleger warteten bereits mit einer Lafette.

Der NAW war kaum zum Stehen gekommen, als der Patient ausgeladen und ins Gebäude gebracht wurde.

Der Hof der Klinik war zu dieser nächtlichen Stunde fast leer, so dass die drei Wagen in der Nähe des Eingangs parken konnten. Auf dem Weg zur Notaufnahme machte Günther die beiden Freunde mit seiner Begleiterin bekannt. Ulli hatte sie bereits auf dem Fest gesehen. Sie hieß Verena und arbeitete in Günthers Institut.

Der breite Flur der Notaufnahme diente zugleich als Wartezone. Von vier Schiebetüren standen drei offen und gewährten Einblick in leere Räume. Günther ging zur der vierten Tür und schob sie ein wenig zur Seite.

In der Mitte des Raumes lag das Unfallopfer auf einem Operationstisch, angeschlossen an zahlreiche Schläuche. Eine Handvoll Helfer wuselten um ihn herum. Einer hatte gerade einen Blasenkatheter gelegt. Günther sah, dass der Urin blutrot war. Ein untrügliches Zeichen für die massiven inneren Verletzungen, die Robert erlitten hatte. Es wurde kaum etwas gesprochen, doch die wenigen Satzfetzen, die hin- und herflogen, ließen nichts Gutes ah­nen. Günther hörte, dass der Puls kaum noch fühlbar und der systolische Blut­druck auf unter Sechzig abgefallen waren. Jemand meldete, dass die Pupillen eng seien. Und über allem lagen zwei konstante Geräusche. Das Piepen des Herzmonitors und das rhythmische Pumpen der Beatmungsmaschine.

Die Geräusche waren auch draußen in der Wartezone zu vernehmen. Peter sah Ulli fragend an. „Weißt du, was das bedeutet? Enge Pupillen?”

Ulli hatte durch seine Einsätze an Unfallorten Interesse an Notfallme­dizin entwickelt und sich im Internet und durch Gespräche mit Frank ein bescheidenes Wissen zugelegt.

„Ich glaube, enge Pupillen sind ein gutes Zeichen”, sagte er, „erst im Tod werden sie weit und star­r.”

Günther spähte noch immer in den Ambulanzraum. Ein Mann in grüner Operationskleidung bemerkte es und trat hinaus in den Flur. Sein Blick heftete sich auf Günther. „Sind Sie ein Angehöriger?”

„Sein Bruder”, sagte Günther, „ich bin auch Arzt.”

Die Miene des Mannes hellte sich auf. Er stellte sich als Ober­arzt der Unfallchirurgie vor. „Es geht ihrem Bruder nicht gut“, sagte er, „wir tun, was wir können.”

Dann verschwand er wieder zu seinem Patienten und zog die Tür hinter sich zu. Günther blieb etwas ratlos stehen.

„Setz dich!”, sagte Verena und zog ihn auf den Platz neben sich. Schweigend saßen die vier neben der Schiebetür und lauschten dem unregelmäßigen Piepton des Herzmonitors.

Wenn die Tür aufging und Menschen hin und her eilten, wurde das Piepen lauter. Peter versuchte aus den Mienen der Helfer zu entnehmen, wie es Robert ging. Aber er sah nur konzentrierte Anspannung. Oder waren es nicht doch schon Anzeichen von Resignation?

Plötzlich schlug das Piepen in einen hässlichen, schrillen Dauerton um, der nach wenigen Sekunden jäh versiegte. Kurz darauf erstarb auch das Pumpgeräusch der Beatmungsmaschine.

Totenstille lag über der Ambulanz.

Jeder wusste, was das bedeutete. Die vier in der Wartezone sahen sich mit versteinerten Mienen an.

Kurz darauf kam der Chirurg heraus und wandte sich an Günther. „Es tut mir leid“, sagte er, „die Verletzungen waren zu schwer. Wir hatten keine Chance.”

In diesem Moment erschienen zwei Polizisten. Ulli hatte sie schon an der Unfallstelle gesehen. Sie wandten sich direkt an den Chirurgen, der in seiner blutverschmierten Operationskleidung unschwer als der richtige Ansprechpartner zu erkennen war.

„Wie geht es dem Unfallopfer?”, fragte der erste Polizist.

„Er ist gerade gestorben“, sagte der Arzt.

Der Polizist nickte. Er wirkte nicht überrascht. „Haben Sie schon seine Identität, seine Papiere?”

Der Chirurg verneinte.

Die Beamten wechselten einen kurzen Blick, dann verschwand einer wortlos in dem Ambulanzraum. Der andere sah die vier auf der Bank an. „Sind Sie Angehörige?“

Der Chirurg deutete auf Günther. „Das ist sein Bruder. Er ist ein Kollege von mir.”

„Mein Beileid”, murmelte der Polizist. Es klang sehr sachlich. „Haben Sie Ihren Bruder schon identifiziert?”

„Nein.“ Günther schüttelte den Kopf. Von der Tür aus hatte er das Gesicht nicht erkennen können.

Der zweite Uniformierte kehrte aus dem Ambulanzraum zurück und reichte seinem Kollegen einen Personalausweis. Der zeigte ihn Günther. „Ist das der Ausweis Ihres Bruders?”

Günther sah auf das Dokument. „Ja”, bestätigte er.

„Könnten Sie dann bitte kurz mit hinein kommen und ihn identifizieren?”

Günther sah den Beamten erstaunt an. Dann deutete er auf den Ausweis. „Aber sie haben doch schon seine Identität!”

Der Polizist setzte eine nachsichtige Miene auf. „Das ist nur die Identität des Halters des Wagens”, erklärte er geduldig, „und die kannten wir schon.“

Peter und Ulli starrten sich an. Beide begriffen im selben Moment, was der Beamte damit sagen wollte. Ulli erhob sich und trat zu dem Polizisten. „Haben Sie seinen Mantel?” Ullis Stimme klang aufgeregt.

Sekundenlang herrschte Schweigen. Die beiden Uniformierten tauschten einen kurzen Blick. „Was für einen Mantel?” fragte der erste.

„Einen blauen Kaschmirmantel”, drängte Ulli, „wir waren gemeinsam auf einem Fest und Robert“, Ulli deutete auf den Ausweis in der Hand des Polizisten, „trug diesen Mantel.“

Die Polizisten sahen sich erneut an, dann schüttelte der erste den Kopf. „Nein“, erklärte er mit Bestimmtheit, „das Opfer trug keinen Mantel und auch im Fahrzeug haben wir keinen Mantel gefunden. Ein so großes Kleidungsstück wäre uns aufgefallen.”

Ulli und Peter sahen sich an. Beiden schoss der gleiche Gedanke durch den Kopf. Der blaue Kaschmirmantel gehörte zu Roberts Lieblingsgarderobe. Er würde ihn niemals irgendwo zurücklassen. Wenn der Unglücksfahrer den Mantel nicht dabei hatte, konnte es dafür eine ebenso naheliegende wie aberwitzige Erklärung geben: bei dem Mann, der soeben seinen Verletzungen erlegen war, handelte es sich gar nicht um Robert! Damit fänden nicht nur der verschwundene Mantel, sondern auch der nicht angelegte Sicherheitsgurt und die unverständliche Raserei eine Erklärung.

Für den Umstand, dass sich Roberts Ausweis bei dem Verunglückten befand, konnte es viele Erklärungen geben. Vielleicht handelte es sich um einen Autodieb, der Robert die Papiere und den Schlüssel entwendet hatte. In der Hitze von Beaulieus Fest hatten viele Herren ihr Sakko abgelegt. Da hätte ein Dieb leichtes Spiel gehabt. Wer achtet in dem Trubel eines solchen Festes schon auf sein abgelegtes Sakko? Vor allem, wenn nur geladene Gäste anwesend sind und man praktisch unter sich ist.

Einer der Polizisten schien in eine ähnliche Richtung zu denken. „Ein Porsche ist ein schönes Auto”, meinte er, „deshalb sollten wir uns Gewissheit verschaffen.” Er wandte er sich wieder an Günther. „Würden Sie das Opfer jetzt bitte identifizieren?“

Peter Prock: Bavaria

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