Читать книгу Amos - Rainer Kessler - Страница 22
Diachrone Analyse
ОглавлениеÜberschriftDie sprachliche Analyse der Überschrift in V. 1 hat zwei Auffälligkeiten gezeigt, die als Hinweise auf literarisches Wachstum interpretiert werden können. Die erste ist die doppelte Näherbestimmung durch zwei אשׁר (ʾašær)-Sätze. Die beiden Relativsätze am Anfang der Überschrift schließen sich zwar sachlich nicht aus, weil der erste die Herkunft des Amos und der zweite den Adressaten seiner Worte bezeichnet. Aber sprachlich sind sie holprig, insofern der erste auf „Amos“ und der zweite auf „die Worte“ zurückbezogen ist. Nun ist es im Hebräischen möglich, die Herkunft eines Menschen direkt mit der Präposition מן (min) an den Eigennamen anzuhängen.15 Das legt nahe, dass in der Überschrift ursprünglich nur von den „Worten des Amos aus Tekoa, die er über Israel schaute“, die Rede war.
Weil es „[v]erwunderlich“ sei, dass „Amos ‚die Worte von Amos‘ schaut“, hat man hinter dieser Überschrift eine ursprünglich noch kürzere Form „Die Worte von Amos aus Tekoa“ vermutet.16 Das kann ebenso wenig bewiesen wie mit Sicherheit ausgeschlossen werden.
Bei den beiden Zeitangaben steht die Datierung nach der Synchronie der Könige von Juda und Israel an erster Stelle. Bei der literarischen Analyse war schon darauf hinzuweisen, dass sich ähnliche Überschriften in einer ganzen Reihe von Buchüberschriften finden. Dies verweist auf bewusste redaktionelle Tätigkeit und setzt bereits die Sammlung von Prophetenschriften voraus.
Anders verhält es sich mit der zweiten Zeitangabe: „zwei Jahre vor dem Erdbeben“. Sie hat, wie oben ausgeführt, zwar auch einen Bezug ins Amosbuch hinein. Doch wirklich verständlich wird sie nur, wenn ihr eine außertextliche Referenz auf ein den Leserinnen und Lesern bekanntes Erdbeben zugrunde liegt. Dies setzt eine Verschriftung in einer Zeit voraus, die „das Erdbeben“ noch in Erinnerung hatte und es in sinnvolle Beziehung zum Auftreten des Amos setzen konnte. Nach den Erkenntnissen über den Zeithorizont des kollektiven Gedächtnisses ist dabei selbst bei einer epochalen Katastrophe von nicht mehr als zwei bis drei Generationen auszugehen.17 Dem widerspricht keineswegs der Verweis in Sach 14,5 auf das „Erdbeben in den Tagen Usijas, des Königs von Juda“, denn dieser beruht nicht auf historischer Erinnerung, sondern auf Amos-Exegese.18
Von den beiden Zeitangaben in Am 1,1 ist also „zwei Jahre vor dem Erdbeben“ mit großer Sicherheit die ältere. Damit ergibt sich als ursprüngliche Überschrift über das Amosbuch: „Die Worte des Amos … von Tekoa, die er über Israel schaute … zwei Jahre vor dem Erdbeben.“19
Die Überschrift in ihrer (vermutlich) ursprünglichen Form gibt an, von wem die folgenden Worte stammen (vgl. Jer 1,1; Spr 30,1; 31,1), und hält zugleich die auffällige Tatsache fest, dass ein Mann aus dem judäischen Tekoa Worte „über Israel schaute“. Sie setzt sein Auftreten mit einem katastrophalen Erdbeben in Beziehung, das bei den Leserinnen und Lesern dieser Worte als bekannt vorausgesetzt wird. Die Tatsache, dass das Auftreten des Amos nicht mit dem geschichtlich gesehen so viel folgenreicheren Untergang des Nordreichs in Verbindung gebracht wird, lässt darauf schließen, dass diese Gestalt der Überschrift vor 722 v. Chr. entstanden ist.
Im Vergleich mit anderen Prophetenbuchüberschriften ist bemerkenswert, dass Am 1,1 keine Jhwh-Wort-Theologie enthält („Das Wort Jhwhs, das an NN erging“, Hos 1,1; Joel 1,1; Mi 1,1; Zef 1,1). „Diese Beobachtung deutet auf ein hohes Alter der Angabe in einer Zeit, als sich eine spezifische Form der Prophetenbuchüberschrift noch nicht herausgebildet hatte …“20 Nicht dagegen kann man aus der Form der Überschrift schließen, dass das Buch ursprünglich nur Amos- und keine Jhwh-Worte enthalten habe, weil damit ein falscher Gegensatz aufgemacht würde. „Die Worte des Amos“ sind durchaus Worte Jhwhs, weshalb er diese Worte „schaut“.
Später wird die Überschrift um die Aussage ergänzt, Amos sei „unter den Schafzüchtern“ von Tekoa gewesen. Dies dürfte die Erzählung von 7,10–17 voraussetzen und die dort bestehende Unklarheit, ob Amos Rinder- oder Kleinviehzüchter war, in Richtung auf die Kleinviehzucht auflösen. Die Hinzufügung in 1,1 wäre also jünger als die Einfügung von 7,10–17 in den Amos-Text.
Die weitere Ergänzung der Datierung nach den Königen von Juda und Israel setzt sowohl den Überblick über die Geschichte der Königszeit, wie er sich jetzt in den Königebüchern niederschlägt, als auch den Prozess der Sammlung von Prophetenbüchern voraus. Die Überschrift grenzt so Amos als eigenständiges Buch ab und verlangt zugleich dessen Lektüre im Zusammenhang der übrigen Prophetenbücher. Zeitlich kommt man damit frühestens in die Epoche nach der Zerstörung Jerusalems 586 v. Chr.
MottoMit V. 2 geht die Präsentation des Propheten fort. Er ergreift selbst das Wort („Und er sagte“). Die ihm in den Mund gelegte Zion-Jerusalem-Theologie wird man nicht auf den Amos des 8. Jh. und seine frühen Überlieferer zurückführen können. Vielmehr haben wir es hier mit der judäischen Rezeption des Amos zu tun. Sie greift aus 3,4 den Parallelismus von „brüllen“ und „seine Stimme erheben“ sowie aus 3,8 den Parallelismus auf, dass „der Löwe brüllt“ und „Jhwh redet“.21 Der Verfasser von 1,2 kontrahiert das zu der kühnen Aussage, dass „Jhwh brüllt“.
Möglicherweise greift auch der zweite Halbvers auf den vorliegenden Text des Amosbuches zurück, indem er aus dem Kehrversgedicht in 4,6–13 das Stichwort „vertrocknen“ (יבשׁ, jābēš) aufnimmt. Das reale Vertrocknen aufgrund ausbleibenden Regens (4,7) würde dann im Motto theologisch überhöht.
Vor allem aber findet sich das Stichwort אבל (ʾābal) = „verdorren“ bzw. „trauern“ in 8,8 und 9,5 wieder, wo es auf die Bewohner der Erde bezogen ist. Zudem erscheint der „Gipfel des Karmel“ erneut in der 5. Vision, wo die Unmöglichkeit genannt wird, sich vor dem Zugriff Jhwhs „auf dem Gipfel des Karmels“ zu verstecken (9,3). In der so entstehenden Umklammerung von Am 1,2 – 9,6 lässt sich wohl bewusste redaktionelle Tätigkeit erkennen. Sie begreift mit dem einleitenden Motto sowie der abschließenden 5. Vision und dem Hymnenstück 9,5f. die Gerichtsbotschaft des Amos als Einheit in kosmischer Dimension, bevor dann in 9,7–15 die Heilsperspektive des Buchschlusses folgt.