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Synchrone Analyse
Оглавление1In Am 1,1 haben wir die Überschrift zum Amosbuch vor uns. Sie stellt keinen Satz dar, sondern besteht aus dem Registervermerk „Die Worte des Amos“, der mehrfach erweitert ist. Die erste Erweiterung, mit אשׁר (ʾašær) eingeleitet, bezieht sich auf die Person des Amos. Es heißt von ihm, er sei „unter den Schafzüchtern“ von Tekoa gewesen. Das Wort נקד (nōqēd) kommt in der Hebräischen Bibel außer hier nur noch in 2 Kön 3,4 vor.6 Dort wird Mescha, der König von Moab, als נקד (nōqēd) bezeichnet, der (angeblich) Hunderttausende von Kleintieren als Tribut an den König von Israel lieferte. Er ist jedenfalls nicht als Hirte, sondern als Besitzer oder Züchter gewaltiger Herden vorgestellt. Dem entspricht die Verwendung des Wortes in ugaritischen Texten. „Taking the Ugaritic evidence as a whole, it seems clear enough that the nqdm had something to do with sheep, but that their status was considerably higher than that of ordinary shepherds or rʿym.“7 Mit der Wahl des Wortes נקד (nōqēd) wird Amos also eher als der Besitzer von Schafherden denn als Wanderhirt präsentiert.
Trotz des anderen Wortes lässt sich 1,1 nicht von 7,14f. trennen, wo sich Amos – der fiktive Amos der Erzählung von 7,10–17 – als einer bezeichnet, der Rinder züchtet oder hütet und von seinem Kleinvieh weg zum Prophezeien gebracht wurde. Vielleicht wählt 1,1 das Wort נקד (nōqēd), das semantisch mit Kleinviehzucht in Verbindung steht, um die Spannung zwischen der Rinderzucht von 7,14 und dem Kleinvieh von 7,15 in Richtung auf die Kleinviehzucht aufzulösen.8
Die Aussagen von 1,1 und 7,14f. lassen kaum zuverlässige historisch-biographische Rückschlüsse zu, weil schon 7,10–17 ein fiktionaler Text ist und 1,1 diesen vorauszusetzen scheint. Dass Amos als Herdenbesitzer vorgestellt wird, widerspricht jedenfalls nicht seiner Botschaft, derzufolge er sich für die Schwachen und Armen einsetzt. Es wäre eine in der Geschichte vielfach widerlegte sozialromantische Unterstellung, dass nur Arme sich für Arme einsetzen könnten.9
Angefügt wird eine Ortsangabe: Amos sei „unter den Schafzüchtern von Tekoa“ gewesen. Der Ort Tekoa gehört zum judäischen Kernland (Jer 6,1; Neh 3,5.27; 2 Chr 11,6). Er liegt etwa 15 km südlich von Jerusalem. In den Erzählungen über die Königszeit spielt er eine herausgehobene Rolle; man erzählt sich, dass von dort eine „weise Frau“ stammt, die mit Davids General Joab zusammenwirkt (2 Sam 14,2.4.9), ebenso wie einer der dreißig „Helden Davids“ (2 Sam 23,26 = 1 Chr 11,28).10
Eine zweite, ebenfalls mit אשׁר (ʾašær) eingeleite Erweiterung qualifiziert die Worte als etwas, das Amos „geschaut“ hat und gibt dann an, „über“ wen er diese Worte geschaut hat, nämlich (das Nordreich) Israel. Zusammen mit der voranstehenden Angabe des Herkunftsortes des Amos entsteht dadurch eine Spannung: Amos stammt aus Juda, aber seine Worte richten sich gegen Israel. Die Spannung zwischen der Herkunft des Amos und seiner Anrede an Israel ist für die gesamte Komposition des Buches bestimmend.
Das Gewicht der zweiten Näherbestimmung liegt auf den Zeitangaben. Sie sind doppelt. Zum einen wird Amos in die Chronologie der Könige von Juda und Israel eingereiht, zum andern wird eine relative Datierung vor „dem Erdbeben“ gegeben.
Die Datierung nach der Synchronie der Könige von Juda und Israel findet sich in einer ganzen Reihe von Buchüberschriften. Sie hat dabei immer die gleiche Form: „in den Tagen von NN, König von Juda, (und NN, König von Israel)“. Einzig bei den Propheten, die im Nordreich gewirkt haben, also Hosea und Amos, steht neben dem König von Juda auch der von Israel, und zwar in beiden Fällen Jerobeam ben-Joasch (Jerobeam II.). Beide Male steht er an zweiter Stelle nach dem bzw. den Königen Judas, was auf die judäische Perspektive der Angaben verweist. Bei den Südreichspropheten Jesaja (1,1), Micha (1,1) und Zefanja (1,1) – und in eine komplexe Überschrift eingebettet auch bei Jeremia (1,2) – stehen dagegen jeweils nur judäische Königsnamen. Die Gleichförmigkeit der Formulierungen ist ein Hinweis darauf, dass hier bewusste redaktionelle Tätigkeit vorliegt. Sie setzt die Sammlung von Prophetenschriften – nicht nur des späteren Zwölfprophetenbuches – voraus und verfolgt deren Eingliederung in die Geschichte der Königszeit vom 8. Jh. bis zum babylonischen Exil. Explizit erwähnt werden so die Herrschaften von Jerobeam II. in Israel (Hos 1,1; Am 1,1) und von Usija (Jes, 1,1; Hos 1,1; Am 1,1), Jotam, Ahas, Hiskija (Jes 1,1; Hos 1,1; Mi 1,1) und Joschija (Jer 1,2; Zef 1,1) in Juda. Für Amos kommt man aufgrund der Angaben in die Zeit vor 750 v. Chr.
Neben der Datierung nach den Königen Usija und Jerobeam II. enthält der Vers noch eine weitere Zeitangabe: „zwei Jahre vor dem Erdbeben“. Sie gliedert die „Worte des Amos“ nicht in große geschichtliche Zusammenhänge ein, sondern bezieht sie auf ein singuläres Ereignis. Dieses ist nicht geschichtlicher Art, wie in der einzigen Datierungsangabe, die entfernt mit Am 1,1 vergleichbar ist, nämlich Jer 1,3, wo die Wegführung nach Babel als Endpunkt des prophetischen Wirkens genannt ist. Am 1,1 nennt eine Naturkatastrophe: „das Erdbeben“.
Auffällig ist der bestimmte Artikel. Er kann als innertextliche Referenz auf spätere Stellen der Amosschrift verstanden werden: „vor dem (im Buch später angekündigten) Erdbeben“.11 Denn aus Am 2,13 („ich lasse es wanken unter euch“), 8,8 („sollte darüber nicht die Erde erzittern“) und 9,1 („dann werden die Schwellen beben“) kann man die Ankündigung eines Erdbebens herauslesen, zumal in 9,1 dieselbe Verbwurzel רעשׁ (rʿš) „beben“ gebraucht wird, von der auch das Nomen רעשׁ (raʿaš) „Erdbeben“ in 1,1 abgeleitet ist. Dennoch ist es wenig wahrscheinlich, dass der bestimmte Artikel nur eine innertextliche Referenz hat. Bei einer nur aus dem Buch entwickelten Entstehung der Angabe hätte jeder gefragt: Welches Erdbeben denn? Vor allem aber wäre gar nicht verständlich, warum ausgerechnet ein dann gar nicht mehr bekanntes Erdbeben als Bezugspunkt genommen wurde und nicht der historisch erinnerte Untergang Samarias, den man zudem viel deutlicher aus den Ankündigungen des Amos entnehmen konnte (3,11.14f.; 4,2f.; 5,1f. u. ö.). Eher stellt der Artikel also eine außertextliche Referenz her: „vor dem (euch Leserinnen und Lesern bekannten) Erdbeben“.12
2Auf die Überschrift folgt in V. 2 ein Satz, der aus dem einen Wort ויאמר (wajjômar) „er sagte“ besteht. Das Subjekt ist Amos. Nach der Überschrift ist also klar, dass nun sofort „die Worte des Amos“ beginnen, deren erstes in V. 2 zitiert wird. Alles, was im Buch bis zum letzten Vers folgt, sind nun „die Worte des Amos“, einzig unterbrochen durch die Stimme des Erzählers in 7,10–17.
Die beiden Zeilen des ersten Amos-Wortes in V. 2 sind im strengen synonymen Parallelismus formuliert. In V. 2a ist Jhwh das „Subjekt“ eines Nominalsatzes, an das zwei parallele Verbalsätze mit Ortsbestimmungen und dem impliziten Subjekt Jhwh angeschlossen sind: „Jhwh – von Zion brüllt er / und von Jerusalem erhebt er seine Stimme“. In V. 2b geht es um die Wirkung. In unpersönlicher Rede werden Orte zum Subjekt, wobei anders als in V. 2a das Subjekt in den beiden Vershälften wechselt: „da verdorren die Weideplätze der Hirten, / und es vertrocknet der Gipfel des Karmel.“
Am 1,2 steht wie ein Motto über dem ganzen Buch. Ab 1,3 folgt, mit der Formel „So spricht Jhwh“ eingeleitet, ein großer Block von Jhwh-Worten (1,3 – 2,16). V. 2 ist demgegenüber ein Wort des Propheten selbst, der in 3. Person über Jhwh spricht.13 Das Wort ist so etwas wie ein Motto, weil es das folgende Buch theologisch charakterisiert. Die Überschrift hatte es in prosaischer Sprache mit dem Propheten als Subjekt ausgedrückt: Ein Prophet aus dem (judäischen) Tekoa schaut Worte über (das Nordreich) Israel. Das Motto drückt dies poetisch mit Jhwh als Subjekt aus: Jhwhs Stimme geht von Zion – parallel Jerusalem – aus, und ihre Wirkungen reichen bis zum Gipfel des Karmel im Norden Israels; denn mit Karmel ist wegen der Erwähnung seines Gipfels das Gebirge im Norden Israels gemeint und nicht etwa der gleichlautende judäische Ort (Jos 15,55; 1 Sam 15,12; 25,2.5.7.40).
Aufgrund des Stichworts „brüllen“ (שׁאג, šāʾag) ist klar, dass Jhwh hier als Löwe imaginiert wird.14 Dieser symbolisiert Macht. Von ihm geht eine Gewalt aus, der nichts widerstehen kann. Die Metaphorik weist voraus auf Am 3,3–8. Dort erscheint in V. 4 der Parallelismus von „brüllen“ und „seine Stimme erheben“, dort auf reale Löwen bezogen. „Brüllen“ kommt zudem in 3,8 vor, wo es in Parallele heißt, dass „der Löwe brüllt“ und „Jhwh redet“. 1,2 kontrahiert das zu der kühnen Aussage, dass „Jhwh brüllt“.
Ausgangspunkt des göttlichen Brüllens ist Zion-Jerusalem. Dahinter steht die Vorstellung, dass in Jerusalem der eigentliche Wohnsitz Jhwhs ist. Einen anderen Jhwh, also etwa einen „Jhwh von Samaria“ oder einen „Jhwh von Teman“, wie (wahrscheinlich) in Inschriften des 9. Jh. aus Kuntillet ʿAğrūd (HAE I 61f) belegt, gibt es nicht.
Zwar setzt der Vers einen Vormachtanspruch Jerusalems voraus. Aber er tut dies in kritischer Absicht. Das von Zion-Jerusalem ausgehende Jhwh-Wort trifft im Lauf der Amosschrift auch Juda (2,4–5) und die, die „sorglos sind in Zion“ (6,1). Und die Zukunft von Juda hängt davon ab, ob das Wort des Amos, der aus Bet-El ausgewiesen wird, in Juda tatsächlich zu Gehör kommt (7,10–17). Nur dann kann die „Hütte Davids“ in Zukunft wieder errichtet werden (9,11).
Die Wirkung des Jhwh-Wortes wird in V. 2b als „verdorren“ und „vertrocknen“ beschrieben. Dies weist auf das Kehrversgedicht in 4,6–13 voraus. Dieses spricht in 4,7 vom Ausbleiben des Regens und gebraucht wie 1,2 das Stichwort „vertrocknen“ (יבשׁ, jābēš). Davon betroffen sind sowohl die fruchtbaren Weideflächen als auch das bewaldete Bergland. Mit dem Karmel wird dabei ein Ort im Nordreich genannt. Das Brüllen Jhwhs vom Zion reicht bis in den Norden und führt zu seiner Verödung.
„Von hinten gelesen“ erhält V. 2 allerdings noch einen tieferen Sinn. In den Anmerkungen zum Text war schon darauf hinzuweisen, dass das Stichwort אבל (ʾābal) = „verdorren“ bzw. „trauern“ in den Schlusskapiteln des Buches wiederkehrt, in 8,8 und in dem hymnischen Element 9,5. In der direkt davor stehenden 5. Vision ist zudem vom Gipfel des Karmel die Rede, wo die Unmöglichkeit genannt wird, sich vor dem Zugriff Jhwhs „auf dem Gipfel des Karmels“ zu verstecken (9,3). So wie das „Trauern“ kosmische Dimension annimmt, weil alle Bewohner der Erde betroffen sind, so auch der Gipfel des Karmel. Denn er steht in einer Reihe mit der Unterwelt, dem Himmel und dem Meeresgrund, wo sich die mythische Weltschlange aufhält. In diesem Licht ist der Gipfel des Karmel mehr als die bekannte Höhe im Norden Israels. Er wird kosmisch überhöht.
So machen Überschrift und Motto deutlich, dass der Südreichsprophet Amos im Norden des Landes wirkt, dass seine Botschaft aber darüber hinaus eine kosmische Dimension hat. Zugleich legt das Motto zusammen mit der 5. Vision und dem Hymnenstück in 9,5f. eine Klammer um Am 1,2 – 9,6.