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4. Die immanente Selbstverortung des Buches
ОглавлениеDas Amosbuch ist in Zeit und Raum klar verortet. Die Überschrift gibt die Regierungszeit der Könige Jerobeam II. von Israel (786–746 v. Chr.) und Usija von Juda (786–736) als Zeit des Auftretens des Amos an. Jerobeam wird dann noch in 7,10, das Haus Jerobeams in 7,9 erwähnt.17 Andere Referenzen auf geschichtliche Ereignisse im Buch lassen sich in dieser Zeit verorten, so die Übergriffe der Aramäer von Damaskus in Gilead (1,3) oder die Verweise auf die (wahrscheinlich assyrischen) Eroberungen von Kalne, Hamat-Rabba und Gat (6,2) oder die eigenen Eroberungen von Lo Dabar und Karnajim (6,13); allerdings wäre ohne den zeitlichen Referenzrahmen der Überschrift keines dieser Vorkommisse aus sich heraus sicher datierbar. Diese Determination durch die Angaben der Überschrift gilt noch stärker für die auffällige Tatsache, dass die ab Mitte des 8. Jh.s alles dominierende Großmacht im Amosbuch nicht erwähnt wird. Dies passt in die 1. Hälfte des 8. Jh.s, wäre aber ohne die Vorgabe der Überschrift ohne jede Aussagekraft.18
Die nähere Datierung in 1,1: „zwei Jahre vor dem Erdbeben“ gibt zwar einen präzisen Jetztpunkt an. Da aber innerhalb des Textes der Zeitpunkt dieses Erdbebens nie fixiert wird, bleibt dieser Jetztpunkt merkwürdig in der Schwebe.
Von der Jetztzeit der Regierung Jerobeams II. und Usijas blickt der Text einerseits in die Vergangenheit zurück. Dazu wird man allerdings nicht die Aussagen über Jhwh als Schöpfer in den hymnischen Stücken (4,13; 5,8–9; 9,5–6) zählen können. Die sind fast ausschließlich partizipial formuliert und denken nicht an eine creatio prima, sondern sprechen von der göttlichen creatio continua. So geht der Blick am weitesten zurück, wenn er von der Herausführung Israels aus Ägypten spricht (2,10; 3,1; 9,7); ihr werden in 9,7 Herausführungen der Philister aus Kaftor und der Aramäer aus Kir an die Seite gestellt, von denen wir sonst nichts wissen. Auch die im kanonisch gewordenen Geschichtsbild auf die Herausführung folgende vierzigjährige Wüstenzeit sowie die Landnahme finden Erwähnung (2,10; 5,25). Wohl nach der Landnahme muss man sich die Übergriffe gegen Gottgeweihte und Propheten vorstellen, die 2,12 erwähnt. Danach kommen wir in die Königszeit, die mit der zweimaligen Erwähnung von David evoziert wird (6,5; 9,11); in 9,11 wird die Epoche Davids als „Tage der Urzeit“ bezeichnet. Am nächsten in die Gegenwart reichen die Vorwürfe, die den Nachbarvölkern im Völkergedicht gemacht werden, ohne dass der Text sich auf eine genauere zeitliche Fixierung festlegen würde. Dasselbe gilt für die Schläge, die Jhwh nach dem Kehrversgedicht von 4,6–11 in der Vergangenheit über Israel gebracht hat. Auch die geschichtlichen Ereignisse, auf die 6,2.13 anspielen, liegen offenbar in der jüngeren Vergangenheit, ohne genauer datiert zu werden.
Vom (fiktionalen) Jetztpunkt geht der Blick sodann in die Zukunft. In den meisten der prophetischen Drohungen bleibt sie zeitlich unbestimmt. Das ändert sich auch dann nicht, wenn von einem Tag (3,14; 8,9.13) oder kommenden Tagen (4,2; 8,11) die Rede ist. Auch der „Tag Jhwhs“ liegt zwar in der Zukunft, wird aber zeitlich nicht fixiert (5,18–20). Aus inhaltlichen Gründen ist allerdings davon auszugehen, dass die Tage des Heils in den Schlussversen (9,11.13) noch später liegen als die vorher angekündigten Unheilstage.
Die Konzentration auf die Geschichte Israels zwischen dem Exodus aus Ägypten und der künftigen Aufrichtung der Hütte Davids spiegelt sich in der räumlichen Verortung des Buches wider. Nach der Überschrift ist der Adressat der Worte des Amos, der selbst aus dem judäischen Tekoa stammt, Israel; weil gleich anschließend der König von Juda und der König von Israel unterschieden werden, muss mit Israel hier das Nordreich gemeint sein. Vom Nordreich sprechen auch die allermeisten Amosworte von 1,3 – 9,6. Ganz eindeutig ist das, wenn mit Samaria (3,9.12; 4,1; 6,1; 8,14), Bet-El (3,14; 4,4; 5,5f.; 7,10–17), Gilgal (4,4; 5,5) und Dan (8,14) Orte aus dem Norden genannt werden.
Zwei Ausnahmen stechen heraus. Die eine ist die gelegentliche Erwähnung von Juda, so in der Judastrophe des Völkergedichts (2,4–5) und in der Adressatenangabe in 6,1 (Zion). Angesichts des dominanten Fokus auf den Norden soll offenbar in Erinnerung gehalten werden, was schon der Mottovers in 1,2 sagt, dass nämlich das Wort Jhwhs von Zion und Jerusalem ausgeht und also Juda zumindest mit betroffen ist. Nach der Ausweisung des Propheten nach Juda (7,10–17) bleibt der Süden immer im Blick, auch wenn er erst mit der „Hütte Davids“ in den Schlussversen (9,11) ausdrücklich genannt wird.19
Die zweite Ausnahme von der Konzentration auf das Nordreich Israel sind die Stellen, an denen „Israel“ eine weitere Bedeutung hat. An Exodus, Wüstenwanderung und Landnahme waren nach dem biblischen Geschichtsbild nicht nur die Nordstämme beteiligt. So sehr das Amosbuch bis zur Ankündigung des Endes für „mein Volk Israel“ (8,2) vor dem Hintergrund des schon in der Überschrift gesetzten Dualismus von Israel und Juda zu lesen ist, ist doch immer im Blick zu behalten, dass „Israel“ auch eine weitere Bedeutung hat als die des Staatsnamens für den Norden. Der Schluss stellt es sich so vor, dass zwar die staatlichen Strukturen des Nordreichs vernichtet werden, dass aber das „Haus Jakob“, also die Bevölkerung des Nordens, überlebt (9,8) und unter dem Schutz der Hütte Davids eine Zukunft hat (9,11).
Das Amosbuch ist räumlich auf Israel im engeren und weiteren Sinn fokussiert. Aber es ist dies vor dem Hintergrund eines Bildes von Gott, der universal wirkt. Im Völkergedicht zieht er sechs Nachbarvölker Israels und Judas zur Rechenschaft. Und in den Schlussversen erinnert er daran, dass er eine eigene Geschichte mit den Kuschiten, Philistern und Aramäern hat (9,7) und die Überlebenden der kommenden Katastrophe aus den Völkern ebenfalls unter den Schutz der Hütte Davids stellen will, indem er seinen Namen über ihnen ausruft (9,12).