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4. Rezeptionen von Amos

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In der folgenden Textauslegung wird jeweils am Ende jedes Abschnitts auf die Aufnahme von Amos in der weiteren Traditionsgeschichte verwiesen. Deshalb genügt es hier, einige Grundlinien aufzuzeigen.73

InnerbiblischDie Rezeption von Amos beginnt früh, bereits bei der Bildung von Vorstufen des Zwölfprophetenbuches. Das ist oben im Zusammenhang mit der These eines Vierprophetenbuches schon erwähnt worden. Doch auch die Schriften der sogenannten großen Propheten zeigen, dass ihre Autoren zumindest Teile der Amosüberlieferung bereits kannten. So weist die Jesajaüberlieferung etliche Bezüge zu Amos auf, die auf die Kenntnis der Amosüberlieferung verweisen (das Motiv des Bebens, vgl. Jes 5,25 mit Am 1,1; 2,13; 8,8 [hier dieselbe Vokabel wie in Jes 5,25] und 9,1; das Suchen Jhwhs, das Am 5,4–6 fordert und von dem Jes 9,12 feststellt, dass es nicht erfolgte; die Kultkritik in Am 5,24–27 und Jes 1,10–17 und die Form eines Kehrversgedichts in Am 4,6–12 und Jes 9,7 – 10,4).74 Für das Jeremiabuch ist auf die dort enthaltenen Visionsberichte zu verweisen (1,11–12; 1,13–19 und 24,1–10), die sich deutlich an die im Amosbuch anlehnen. Bei Ezechiel bezieht sich neben den Visionsschilderungen (Ez 1–3; 8–11; 37,1–14; 40–48) die Botschaft vom gekommenen Ende deutlich auf Amos zurück; Ez 7 kann geradezu als Entfaltung von Am 8,2 gelesen werden (Ez 7,2.6 „das Ende ist gekommen“). Die prophetische Überlieferung wiederum speist grundsätzliche Texte der Tora, so etwa die Sintfluterzählung, die ebenfalls vom gekommenen Ende spricht (Gen 6,13), oder den Komplex von Ex 32–34, der sich wie Am 7–9 mit der Möglichkeit von Fürbitte und göttlicher Reue befasst. In all diesen Rezeptionen wird Amos in erster Linie als Unheilsprophet verstanden, der das bevorstehende Ende ankündigt.

Qumran und Neues TestamentUm die Zeitenwende findet sich dann an unterschiedlichen Stellen eine Aufnahme von Amos, die den Akzent viel stärker auf die heilvollen Aspekte der Zukunftsankündigung legt. Die Damaskusschrift der Qumrangemeinschaft nimmt die Verbannungsandrohung von Am 5,26–27 so auf, dass aus dem Strafgericht ein „Heilsexil“ wird.75 In der Apostelgeschichte entnimmt Lukas der ihm vorliegenden griechischen Übersetzung von Am 9,11–12, dass in der von Amos angekündigten Zukunft, die jetzt Gegenwart geworden ist, neben dem Rest Israels auch die Heiden ins Gottesvolk hineingenommen werden sollen (Apg 15,13–21).

MittelalterDie Kunst des christlichen Mittelalters kennt eine Fülle von bildlichen und plastischen Darstellungen alttestamentlicher Propheten. Meist halten sie eine Schriftrolle oder ein Buch. Verstanden werden sie als Zeugen Jesu Christi. So stehen oft Apostel ihnen gegenüber oder über ihnen, bei größeren Kompositionen sind Propheten und Apostel meist auf zentrale Figuren wie Christus oder Maria bezogen. Selten tragen die Propheten individuelle Züge, sodass man sie voneinander unterscheiden könnte; geschieht das durch den Zusatz ihres Namens, ändert das nichts am Typischen ihrer Darstellung. Amos wird ganz gelegentlich als Hirte gekennzeichnet (vgl. Am 1,1; 7,14–15). Wird aus der Amosschrift zitiert, dann erscheint der Prophet als Mahner zur Umkehr, die ja für die christlichen Gemeinden weiter nötig ist – so auf der Darstellung im Ulmer Münster – oder als der, der die Festigkeit der göttlichen Herrschaft betont – vergleiche die Abbildung aus Cluny bei der Auslegung von Am 9,5–6.


Abb. 1: Jörg Syrlin (der Ältere) (um 1425–1491), Amos am Gestühl im Ulmer Münster Unserer Lieben Frau (1469–1471). Beischrift aus Am 5,4.6 (Quaerite Dominum et vivetis – Sucht den Herrn, so werdet ihr leben); der Korb als Hinweis auf die Vision vom Erntekorb (Am 8,1–3).

Schon dieser knappe Durchgang belegt, wie sehr die Wahrnehmung des antiken Propheten von den Fragen der jeweiligen Gegenwart geprägt ist. Das verweist auf den hermeneutischen Zirkel, in dem sich jede Auslegung bewegt. Es zeigt aber auch, wie der vorgegebene Text in der Aufnahme ständig neu angereichert wird, wodurch Facetten zum Vorschein kommen, die früheren Leserinnen und Lesern verborgen oder zumindest unwichtig waren.

Gegenwärtige LektürenSo ist seit den gesellschaftlichen Aufbrüchen der 1960er-Jahre Amos ganz neu als Sozialkritiker und Vorkämpfer für Recht und Gerechtigkeit entdeckt worden.76 In seiner berühmten Rede aus dem Jahr 1963 mit der Vision einer von Rassendiskriminierung freien amerikanischen Gesellschaft zitiert Martin Luther King Am 5,24 in diesem Sinn: „until justice rolls down like waters and righteousness like a mighty stream.“77 Im Ruhrgebiet wurden 1968 „Kritische Blätter“ gegründet, die seitdem engagiert für soziale Gerechtigkeit eintreten und sich den programmatischen Namen „Amos“ gaben; die Zeitschrift ist jetzt auch online zugänglich (www.amos-zeitschrift.eu). Als das Sozialinstitut Kommende Dortmund 2006 eine Zeitschrift herausgab, die den Untertitel „Gesellschaft gerecht gestalten“ trägt, nahm es ebenfalls den Propheten Amos als Titel: „Namensgeber der Zeitschrift ist der alttestamentliche Prophet ‚Amos‘, dessen leidenschaftliches Engagement für soziale Gerechtigkeit noch heute fasziniert. Seine Vision: ‚Das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach‘ (Am 5,24).“78

Sind damit alle Schätze der Amosschrift gehoben? Vermutlich nicht. Noch am Anfang steht eine Lektüre von Amos im globalisierten postkolonialen Kontext.79 Sodann erkennt die Menschheit im 21. Jh. zunehmend, dass die Wirtschaftsweise der Industrieländer in den letzten zwei Jahrhunderten zu unumkehrbaren ökologischen Folgen vom Artensterben bis zur Erderwärmung geführt hat. Zweimal wird in den hymnischen Stücken im Amosbuch gesagt, dass Jhwh fähig sei, die Wasser des Meeres zu rufen und sie über die Erde auszugießen (5,8; 9,6). Heute wissen wir, dass tatsächlich in absehbarer Zeit die Wasser des Meeres zahlreiche Gegenden der Erde über­schwemmen werden, wenn es nicht gelingt, die Erderwärmung zu begrenzen. Wir führen das heute nicht auf das Handeln eines über der Erde thronenden Himmelsgottes zurück. Aber das Amosbuch sagt uns in der Spra­che und den Denkvorstellungen seiner Zeit, dass soziale Ungerechtigkeit und ökologische Katastrophen unmittelbar zusammenhängen. Und das ist auch heute noch richtig.80

Im Amosbuch gibt es noch viel zu entdecken.

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