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Synthese
ОглавлениеBedeutung für das AmosbuchÜberschrift und Motto des Amosbuches präsentieren Amos als Propheten aus Juda, der im Namen des Gottes, der von Zion-Jerusalem aus spricht, gegen das Nordreich Israel prophezeit. Die Überschrift verweist auf die judäische Herkunft des Propheten und datiert sein Auftreten in die Zeit vor 750 v. Chr. Mit dem Verweis auf „das Erdbeben“ soll wohl angedeutet werden, dass seine Botschaft „über“ oder „gegen“ Israel sich bewahrheitete, das heißt, dass die angekündigte Katastrophe auch eingetreten ist. Das Motto, das als Ausspruch des Amos eingeführt wird, unterstreicht, dass der Gott Jhwh, in dessen Namen Amos durchgehend spricht, von Zion und von Jerusalem aus seine Stimme erhebt. Einen Jhwh neben ihm gibt es nicht. Indem die Folge seines „Brüllens“ das Verdorren bis in den Norden des Nordreichs ist, wird auch hier davon ausgegangen, dass Amos’ Botschaft letztlich den Untergang des Nordreichs Israel zutreffend angekündigt hat.
Durch die judäische Perspektive von Am 1,1–2 wird Amos für Juda rezipiert und zugleich eine entsprechende Leseanleitung gegeben. Das Amosbuch soll in judäischer Perspektive gelesen werden. Beschränkt man sich auf die ersten beiden Verse des Buches, könnte diese noch triumphalistisch gedeutet werden: Das Nordreich ist untergegangen, der Gott von Zion hat Recht behalten. Doch schon die direkt anschließenden Völkersprüche mit ihrer Judastrophe (2,4–5) zeigen, dass diese Lesart falsch wäre. In judäischer Perspektive ist der Untergang des Nordreichs eine Warnung, nicht den gleichen falschen Weg einzuschlagen, der notwendig in der Katastrophe enden müsste.
Aufnahme im ZwölfprophetenbuchDie Metapher von Jhwh als brüllendem Löwen findet in den ersten drei Büchern des Zwölfprophetenbuchs eine zweifache Aufnahme, die diese drei Bücher eng zusammenbindet. Die erste steht in Hos 11,10. Am Ende der Komposition von Hos 4–11 kündigt der Prophet den Herzensumsturz in Jhwh an, der dazu führt, dass er das berechtigte Gericht nicht vollstrecken wird. Infolgedessen werden, so 11,11, die Efraimiten aus Ägypten und Assur, wohin sie gebracht worden waren (V. 5), zitternd kommen. Ein Zusatz in V. 1022 greift sowohl das Stichwort „zitternd kommen“ als auch die Löwenmetaphorik aus Am 1,2 (und 3,8) auf: „Hinter Jhwh gehen sie her. Wie ein Löwe brüllt er. Ja, er, er brüllt, und zitternd kommen die Söhne und Töchter von Westen.“
Zum Zweiten wird Am 1,2a in Joel 4,16aα wörtlich zitiert. Dabei ist Joel 4 eindeutig der nehmende Teil,23 wie der Gesamtcharakter von Joel 4 mit seinen zahlreichen Anspielungen an Texte anderer Herkunft (besonders auffällig die wörtliche Aufnahme und Umkehrung von Mi 4,3b in Joel 4,10a) belegt. Anders als in Hos 11, wo keine Aussage darüber steht, von woher Jhwh brüllt, spricht Joel 4,16 wie Am 1,2 vom Zion. Wie in Hosea ist das Brüllen positiv konnotiert, insofern der Zion zum Zufluchtsort wird.
Die wörtliche Übereinstimmung von Joel 4,16 und Am 1,2 beeinflusst im hebräischen Text die Lektüre sowohl des Joel- als auch des Amosbuches. Im Kontext von Joel 4 ist Jhwhs Brüllen gegen die Völker, ja gegen den Kosmos gerichtet. Anders als in Am 1,2 lautet die Fortsetzung: „da erbeben Himmel und Erde“. Sein Wohnen auf dem Zion macht Jhwh zugleich zur „Zuflucht für sein Volk“ (Joel 4,16b). Das könnte, „isoliert gelesen“, den Lesern ein „falsche[s] Sicherheitsgefühl … vermitteln“, aus dem sie durch den Verweis auf die „Anklagen des Amos“ „herausgerissen werden“.24 Für die Leserinnen und Leser des Amosbuches besagt der Rückbezug auf Hosea und Joel umgekehrt, dass sie bei allen Anklagen und bei allen Drohungen gegen das Nordreich, die bekanntermaßen in Erfüllung gegangen sind, dann eine Zukunft haben, wenn sie den Jhwh vom Zion zu ihrer Zuflucht machen. Die judäische Perspektive, in der Amos aufgrund von Überschrift und Motto – in kritischer, nicht in triumphalistischer Absicht – gelesen werden soll, wird durch die Verknüpfung mit Hosea und insbesondere Joel kräftig unterstrichen.
Das Zitat von Am 1,2a in Joel 4,16aα verknüpft in der hebräischen Überlieferung die hintereinander stehenden Bücher Joel und Amos und hat damit eine wichtige Funktion für die Entstehung eines einheitlichen Zwölfprophetenbuches.25 Dies gilt aber nur für den masoretischen Text. In der griechischen Überlieferung steht nämlich Joel hinter Amos und ist zudem durch Micha, der zwischen beiden angeordnet ist, von Amos getrennt. In M, wo zwischen Joel 4,16 und Am 1,2 gerade einmal sechs Verse stehen, sind beide Sätze absolut identisch. G dagegen hat in Am 1,2 die Verben in Vergangenheitsformen und in Joel 4,16 im Futur und gebraucht für „brüllen“ an beiden Stellen zwei unterschiedliche Vokabeln, zudem in Am 3,4.8 noch ein drittes griechisches Wort für „brüllen“. Zusammenhänge, die im hebräischen Text von Joel und Amos mit Händen zu greifen sind, werden in der griechischen Übersetzung praktisch unsichtbar.
Aufnahme in Jer 25,30Verknüpfen die Bezüge zu Hos 11,11 und Joel 4,16 die ersten drei Bücher des Dodekaprophetons untereinander, so wird Am 1,2 darüber hinaus im corpus propheticum in Jer 25,30 rezipiert. In der Mitte des masoretischen Jeremiabuches wird der Übergang vom Gericht an Juda zum Völker- und Weltgericht unter Rückgriff auf Amos vollzogen. Wie Amos in Am 7,15 („Geh, prophezei meinem Volk Israel!“) wird Jeremia von Gott selbst aufgefordert: „Du, du sollst über sie (sc. alle Bewohner der Erde) prohezeien … und zu ihnen sagen: Jhwh – von der Höhe brüllt er, und von seiner heiligen Wohnung erhebt er seine Stimme. Mächtig brüllt er über seinem Weideplatz ...“ (Jer 25,30, kursiv die wörtlichen Übereinstimmungen mit Am 1,2). Zugleich mit dem fast wörtlichen Zitat wird dies auf doppelte Weise ausgeweitet: Gottes Wohnsitz wird von Jerusalem in die Höhe verlegt, also wohl in den Himmel, und die Folge von Jhwhs Brüllen reicht nicht mehr nur bis zum Karmel, sondern „bis zu allen Bewohnern der Erde“. Mit Letzterem wird auf die Tatsache zurückgegriffen, dass Am 1,2 nicht nur Motto für das ganze Buch ist, sondern zugleich die Völkersprüche in 1,3 – 2,16 einleitet.26