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VI: 2,1–3 – Moab
Оглавление2,1Als sechstes und letztes Nachbarvolk von Juda und Israel wird Moab genannt. Das Siedlungsgebiet Moabs liegt östlich des Toten Meeres, mit den Ammonitern im Norden und Edom im Süden als Nachbarn.
Mit der Moab-Strophe tritt ein markanter Wechsel in den Völkersprüchen ein. Alle fünf bisherigen Strophen behandelten Verbrechen, deren Opfer in Israel oder Juda zu suchen waren. So konnte man die ersten fünf Strophen so lesen, dass sie Verbrechen gegen Juda und Israel anklagen und den schuldigen Nachbarn das Strafhandeln des Gottes Israels ankündigen.
Diese Lesart wird nun durch die Moabstrophe irritiert. Denn Moab werden keine Verbrechen gegen Israel oder Juda, sondern gegen Edom vorgeworfen. Moab habe „die Gebeine des Königs von Edom zu Kalk verbrannt“, also den Leichnam des edomitischen Herrschers geschändet. Die ordentliche Bestattung und die Unverletzlichkeit des Grabes sind in der Antike ein hohes Gut.48 Gräber versucht man auf Inschriften dadurch zu schützen, dass Räuber und Grabschänder mit Flüchen abgeschreckt werden, so in Jerusalem (HAE Jer[7]:1–2), im phönizischen Sidon (KAI 13 und 14) und in den umliegenden Kulturen. Dass die Gräber geöffnet und die Gebeine unter freiem Himmel ausgestreut werden, gilt als schwere Drohung wegen schlimmster Vergehen (Jer 8,1–2). Wenn es hier heißt, man habe die Gebeine „zu Kalk verbrannt“, soll wohl damit „die Wirkung des Feuers als vollständig … charakterisiert“ werden, wie aus der Parallele in Jes 33,12 hervorgeht, wo es heißt, dass „Völker zu Kalk verbrannt werden“.49
Brutalitäten wurden auch in den vorangehenden Strophen beklagt. Aber in der Moabstrophe ist ein fremder König das Opfer, gar der König eines Landes, das selbst im Völkergedicht beschuldigt und bedroht wird. Damit beginnt das, was in den ersten fünf Strophen offenblieb, sich zu schließen. Man konnte sie so lesen, dass es um die Rachewünsche gegen die ging, die Juda und Israel bedrängten. Schon da lag gelegentlich die Frage nahe, ob sich das dann nicht auch gegen eigenes Verhalten richten müsse. Nach der Moabstrophe wird eine triumphalistische Lesart fast schon unmöglich. Die Brutalität der Anderen wird nicht verurteilt, weil sie gegen Israel gerichtet ist. Sie wird vielmehr verurteilt, weil sie, modern gesprochen, den Charakter eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit hat.
Eine solche Qualifizierung ist hier so wenig wie in anderen Strophen des Gedichts selbstverständlich. Sie setzt voraus, dass der Prophet die Rolle der Opfer einnimmt. Denn wie das „Dreschen“ von Landschaften oder das Aufschlitzen von Schwangeren kann auch die Schändung von Gräbern auf das Konto der Ruhmestaten eines Königs gebucht werden. Für den assyrischen König Assurbanipal (668 – ca. 630 v. Chr.) ist es ein legitimer Vorgang, die Gräber des Königs von Elam geöffnet zu haben: „I took their bones to the land of Assyria, imposing restlessness upon their ghosts. I deprived them of ancestral offerings (and) libations of water.”50 Solche Heldentaten damaliger Könige werden im Völkergedicht von Am 1–2 durchgängig als Verbrechen gekennzeichnet.
2,2Die folgenden Elemente des Moabspruchs verbleiben ganz im für die Völkersprüche Üblichen. Wie immer sind durch das Feuer die Paläste bedroht, also die Wohnsitze der Mächtigen. Im Parallelismus zum Land Moab wird die Stadt Kerijot genannt, die also als die Hauptstadt des Landes angesehen wird. Die Stadt findet auf der Stele des moabitischen Königs Mescha aus dem 9. Jh. Erwähnung, wonach sich in ihr ein Heiligtum des Nationalgottes Kemosch befindet.51 Außerdem wird sie in Jer 48,24 in einer Aufzählung moabitischer Städte und in Jer 48,41 als einzige und also wohl wichtigste Stadt des Landes genannt.
2,3Das 5. Formelement, die Erweiterung durch weitere Drohungen, zeigt zum einen wie bei der Ammoniterstrophe, dass die Katastrophe für Moab durch kriegerische Ereignisse kommt. Zum andern sind wie in den anderen Strophen, die dieses Element enthalten, ausdrücklich die Herrscher als primäres Ziel der Vernichtung genannt, hier der „Regent“ (שׁופט, šôfēṭ). Ihm zur Seite stehen, wie dem König der Ammoniter, „seine Beamten“.