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2. Blöcke und Fortschreibungen

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Auszugehen ist von den voranstehenden Überlegungen, wonach sich zum einen größere Blöcke im Endtext unterscheiden lassen und zum andern eine historische Tiefendimension anzunehmen ist. Unter diesen Voraussetzungen liegt es nahe, sich die Entstehung des Amosbuches in Blöcken vorzustellen, die sukzessive fortgeschrieben wurden. Dabei verzichte ich bewusst auf eine versweise Zuteilung zu den einzelnen Stufen, weil ich davon ausgehe, dass bei der Fortschreibung auch die älteren Textbestände neu gefasst werden können und so eine Rekonstruktion früherer Stufen aus dem späteren Text nur mit einer gewissen kontrollierten Unschärfe vorgenommen werden kann. Die einzelnen Stufen der Entstehung des Amosbuches sind jeweils vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklungen zu sehen und orientieren sich an Einschnitten in der Geschichte Israels. Dabei ist durchaus mit der Möglichkeit zu rechnen, dass auf einer bestimmten Stufe mehrere Redaktionsgänge anzusetzen sind.45

Erste StufeIn einer ersten Stufe ist mit dem Auftreten eines Propheten Amos zu rechnen, der um die Mitte des 8. Jh.s. v. Chr. Entwicklungen im Nordreich kritisiert und mit Unheilsankündigungen verbindet. Den Grundbestand der auf Amos zurückgehenden Worte wird man, das ist weitgehender Konsens, in Kap. 3–6* suchen müssen. Da die Überschrift in 1,1 in ihrer ursprünglichen Form das Auftreten des Amos nach einem den Lesern und Leserinnen bekannten Erdbeben – und nicht nach dem Untergang Samarias – datiert, ist sie wohl noch vor der Zerstörung von Samaria entstanden. In dieser Form („Die Worte des Amos … von Tekoa, die er über Israel schaute … zwei Jahre vor dem Erdbeben“) ist sie die Überschrift über eine erste Sammlung von Amos-Worten, die noch vor 722 v. Chr. entstanden sein dürfte. Die Erwähnung des samarischen Elfenbeins (Am 3,15; 6,4) und die Tatsache, dass Assur in den Unheilsankündigungen nirgends erwähnt wird, weisen in diese letzte Blütezeit des Staates Israel.46 Auf dieser Textebene ist zwar schon von drohenden Deportationen die Rede, die zur üblichen Kriegspraxis der Epoche gehörten; ein ausgeprägtes Konzept von Exil liegt dagegen noch nicht vor.47

Göran Eidevall hat die Frage aufgeworfen, ob der Prophet (oder die Gruppe von Propheten), die hinter der frühesten Schicht des Amosbuches steht, überhaupt in Israel gewirkt hat oder nicht auch von Juda aus gesprochen haben kann.48 In der Tat können prophetische Sprüche aus der Ferne gesprochen werden (Jes 28,1–4). Was den historischen Amos angeht, bewegen wir uns hier auf dem Feld der Spekulation. Der Amos des Buches jedenfalls wirkt im Norden.

Freilich ist in Am 3–6 mit Überarbeitungen zu rechnen. Zu den größeren Einfügungen zählen die Eröffnung in 3,1–2, die zwei längeren Dichtungen in 3,3–8 und 4,6–12, die die kleine Sammlung in 3,9 – 4,5 rahmen, sowie die hymnischen Stücke in 4,13 und 5,8–9. Die älteren Bestände sind allerdings nicht einfach Wortprotokolle der Äußerungen des historischen Amos, sondern bereits literarisch gestaltete Kompositionen; darauf ist bei der Auslegung zurückzukommen. Ob diese auf den Propheten selbst oder diejenigen seiner Anhängerschaft zurückgehen, die schreibkundig waren und das Erbe des Propheten weitergeben wollten, ist nur schwer zu entscheiden. Rechnet man mit gewissen zeitlichen Abständen, dann ist eher an schreibkundige Tradenten als an Amos selbst zu denken.

Es ist eine unglückliche Wortwahl, wenn für diese Tradenten das Wort „schriftgelehrt“ gebraucht wird.49 Als Schriftgelehrte bezeichnet Luther in seiner Übersetzung die γραμματεῖς (grammateís) des Neuen Testaments (Mt 2,4; 5,20; 7,29 u.ö.). Diese hatten eine heilige Schrift, in der sie gelehrt waren. Das trifft auf die Amos-Überlieferer nicht zu. Sie waren Schreiber oder Schreibkundige. Das englische scribe, das die Unterscheidung zwischen „schreibkundig“ im technisch-intellektuellen und „schriftgelehrt“ im theologischen Sinn nicht macht, hat es da leichter.

Zweite StufeUmgeben ist die erste Sammlung der Worte des Amos von zwei Blöcken. Sie haben ihre Form erst nach dem Untergang des Nordreichs erhalten (Stufe zwei).50 Vorangestellt ist eine Sammlung von Völkersprüchen, die Jhwh als den Gott zeigt, der über Israel hinausgehend in das Geschick der Völker eingreift, dessen Fokus aber auf Israel liegt (1,3 – 2,16). Abgeschlossen wird diese Fassung des Buches mit einem Visionsbericht, der die Härte des Gerichts gegen den Norden verständlich zu machen sucht und zugleich eine mögliche judäische Zukunft andeutet (7,1 – 9,6).

Wie verhalten sich diese Blöcke zu der Sammlung von Worten in Kap. 3–6*, und wie verhalten sie sich zueinander? Auszugehen ist von der Beobachtung, dass beide Blöcke auf die in der Mitte stehende Wortsammlung ausgerichtet sind. Das Völkergedicht setzt mit dem in jeder Strophe wiederholten göttlichen „ich mache es nicht rückgängig“ sachlich die Unheilsansagen des späteren Textes und darüber hinaus die des Visionszyklus voraus.51 Zugleich ist es insofern auf die Wortsammlung in Kap. 3–6* ausgerichtet, als die Drohung gegen die Paläste, die in der Israelstrophe im Gegensatz zu allen anderen Strophen fehlt, ausgeführt wird.52 Der Visionenzyklus seinerseits setzt eine Schuld Israels voraus, wie sie in den voranstehenden Kapiteln expliziert, im Zyklus selbst aber gar nicht entfaltet wird.

Aus diesen Beobachtungen folgt, dass die den Mittelteil rahmenden Blöcke wohl kaum als separate Quellen neben der Wortsammlung in Kap. 3–6* bestanden haben.53 Sie können durchaus eine Vorgeschichte haben, ein kürzeres Völkergedicht (noch ohne Edom-, Tyrus- und Judastrophe), dessen Bestände in die Zeit des Amos zurückverweisen, und einen Visionenbericht ohne die Erzählung in 7,10–17. Aber entstanden ist das Amosbuch nicht durch die Zusammenfügung ursprünglich für sich stehender Blöcke, sondern als Fortschreibung der Wortsammlung, die die Mitte des Buches bildet. Diese Fortschreibung setzt bereits den Untergang des Nordreichs voraus.54 Sie begründet ihn und zieht im Visionenzyklus bereits Folgerungen für die Zukunft, die nach dem Ende für Israel (8,2) nur in Juda möglich sein kann (7,10–17).

Die Fortschreibung greift aber auch in die Wortsammlung der Kap. 3–6* ein. In sie wird ein Bezug auf Jerusalem aufgenommen (6,1), verbunden mit zeitgeschichtlichen Anspielungen (6,2), die wahrscheinlich schon die Eroberungen durch Tiglatpileser III. in den 730er-Jahren voraussetzen. Auf dieser Stufe ist wahrscheinlich auch die Reflexion über die Wirksamkeit des prophetischen Wortes und die verweigerte Umkehr anzusetzen, die in 3,3–8* und 4,6–12 die Sammlung von Amosworten in 3,9 – 4,5 rahmt.

Wie immer man im Einzelnen die Zuordnung bestimmter Abschnitte beurteilt, datiert nach dieser Auffassung ein erheblicher Teil der Amosüberlieferung aus vorexilischer Zeit. Tchavdar Hadjiev, der selbst wie Jeremias die Entstehung des Amosbuches aus zwei ursprünglich selbstständigen Kompositionen Am 1–2* + 7–9* sowie Am 3–6* vertritt, hat umfassend die Argumente zusammengestellt, die dagegen sprechen, dass das gesamte Amosbuch erst ein Produkt nachexilischer Schriftgelehrsamkeit sei. Sie seien hier kurz referiert: 1.) Die angekündigten Strafen geben nicht die Probleme der nachexilischen Zeit wieder. Weder werden Assur noch Babylon genannt, noch spielen die politische Schwäche und die ökonomisch prekäre Situation der Perserzeit eine Rolle. 2.) Fremdvölkersprüche, die mit Damaskus beginnen und mit dem Nordreich enden, ergeben nach der Liquidierung beider Größen durch die Assyrer am Ende des 8. Jahrhunderts keinen Sinn mehr. 3.) Die einseitige Konzentration auf Israels Sünde widerspricht den nachexilischen Texten, die vor allem um die Frage neuer Hoffnung für die Zukunft kreisen. 4.) Einzelheiten im Amosbuch, z. B. die Tatsache, dass der mögliche Eroberer nicht namentlich genannt wird, sprechen eher für eine Entstehung während der Königszeit. 5.) Das Vorhandensein von Fortschreibungen und Korrekturen verlangt das Vorhandensein eines älteren Textes. 6.) Die Überschrift weist auf ein früheres Amosbuch. 7.) Hinzu kommt die generelle Erwägung, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass ausgerechnet im kleinen und ökonomisch schwachen Juda der Perserzeit ein Großteil der biblischen Literatur entstanden sein soll.55

Dritte StufeWeitere Fortschreibungen beschränken sich nicht auf die einzelnen Teile des Buches, sondern übergreifen sie. Wir gelangen hier zu einer dritten Stufe der Formierung des Amosbuches, die das Ende auch des Südreichs Juda im Jahr 586 v. Chr. voraussetzt.

Entgegen üblichem Sprachgebrauch spreche ich hier nicht von der Epoche des Exils. Generell ist diese Bezeichnung problematisch, weil es nicht das Exil gab, sondern Wellen von Exilierungen. Insbesondere aber gibt es keinerlei Hinweis darauf, dass das Amosbuch in irgendeiner Phase seiner Entstehung im Exil gewesen sein könnte. Es bleibt auch in allen seinen Fortschreibungen an die Perspektive im Land gebunden.

Drei sich durchziehende Themen seien genannt. Das erste ist die Rolle von Prophetie überhaupt. Das Thema ist in dem die Amosworte in 3,3–6.8 einleitenden Gedicht und in der Erzählung von 7,10–17, die beide noch vor dem Ende des judäischen Königreichs entstanden sind, verankert: Dem Propheten, der in der Autorität Jhwhs auftritt, wird im Norden das Reden verboten, zugleich wird er nach Juda verwiesen. Von da ausgehend wird das Thema im Geschichtsrückblick in 2,12, im zugefügten V. 7 des die Wortsammlung Kap. 3–6 eröffnenden Gedichts (3,3–8) und in dem Spruch 8,11–12 aufgegriffen und generalisiert.

Ein zweites Thema, das das Buch blockübergreifend zusammenfügt, ist die Einbindung in das Bild der (Heils-)Geschichte Israels. Das beginnt in der Israelstrophe des Völkergedichts, wo von Exodus, Wüstenwanderung und Landnahme die Rede ist (2,9–12), und geht über den eröffnenden Höraufruf in 3,1–2 mit seinem Exodus-Bezug bis zum Verweis auf die vierzigjährige Wüstenzeit in 5,25–26. Auch der Schluss, von dem noch zu reden sein wird, greift noch einmal das Exodus-Thema auf (9,7). Vor allem die gleichlautende Formulierung „ich habe heraufgeführt aus dem Land Ägypten“ (העליתי מארץ מצרים – hæʿælêtî mēʾæræṣ miṣrajim) in 2,10; 3,1 und 9,7 verweist auf den Willen, den Text zusammenzubinden. Auf dieser Überlieferungsstufe steht „Israel“ jetzt nicht mehr ausschließlich für den Staat, der 722 v. Chr. untergegangen ist, sondern auch für das Volk, dem nach dieser heilsgeschichtlichen Konstruktion Juda schon immer angehört hat.

Schließlich sind es in den Text eingestellte hymnische Stücke, die ihn zur Einheit formen. Sachlich gehört schon der Mottovers 1,2 dazu, wenn er auch nicht im für die übrigen Stücke typischen Partizipialstil formuliert ist und ihm das Element „Jhwh ist sein Name“ fehlt. Beides findet sich dagegen in 4,13; 5,7–8 und 9,5–6, die wie ein Netz über dem Text liegen und ihn zusammenhalten. Sie bilden ein Amosbuch von 1,1 – 9,6, das den Untergang beider Staaten deutet, Gott von jedem Vorwurf des Versagens freispricht und mit dem Lob dieses Schöpfung und Geschichte beherrschenden Gottes den Grund für neue Hoffnung legt.56

Vierte StufeDer Amosschluss in 9,7–15 bildet eine vierte Stufe, die in die Zeit der Neukonstituierung eines organisierten Gemeinwesens in der persischen Zeit zu datieren ist. Er greift über den Visionenzyklus hinausgehend Fragen auf, die sich bei der Lektüre des Textes stellen und auf eine Lösung drängen.57 Im Visionenzyklus selbst geht es um die beiden Fragen, warum die kleinen Leute unter der Katastrophe leiden müssen, für die sie gar nicht verantwortlich sind – weil durch die Ausweisung des Propheten die göttliche Vergebungsbereitschaft zum Schweigen gebracht wird –, und wie es eventuell weitergehen kann – nämlich in Juda, wohin der Prophet geschickt wird. Das greift der Schluss mit dem Gedanken der Wiederaufrichtung der Hütte Davids auf (9,11). Zugleich nimmt er das Völkerthema des Buchanfangs auf und erklärt, dass Jhwh eine eigene Geschichte mit den Völkern hat (9,7) und diese auch in der zukünftigen davidischen Herrschaft unter seinem Schutz stehen (9,12). Den Überlebenden des Hauses Jakob, also des Nordreichs, wird ebenfalls eine Zukunft unter davidischer Herrschaft angesagt, wozu die Zerstörung der alten unterdrückerischen Strukturen die Vorbedingung ist (9,8–10). Die Schlussverse (9,13–15) stellen die arbeitende bäuerliche Bevölkerung ins Zentrum, um die es auch in der Sozialkritik von den frühesten Texten an ging.

Anders als andere biblische Texte setzt der Amosschluss keine Hoffnung auf Exilsrückkehrer; eine Restitution der alten Eliten lehnt er sogar ausdrücklich ab (9,8–10). Anders als andere Texte erwartet er auch keine Wiederherstellung des alten davidischen Reiches – etwa einen Herrscher, der „groß ist bis zu den Enden der Erde“ (Mi 5,3) –, wohl aber eine davidische Herrschaft, die den Überlebenden Schutz und Sicherheit gewährt und darin auch den Rest der benachbarten Völker einschließt.

Bei der Beschreibung derartiger Stufen einer Textwerdung ist zu beachten, dass die früheren Texte bei der Fortschreibung und Neufassung erhalten bleiben. Sie tun das nicht unbedingt im unveränderten Wortlaut und in Vollständigkeit; was verändert wurde und was weggefallen ist, lässt sich so gut wie nicht mehr rekonstruieren. Aber in den Grundzügen bleibt das Ältere bestehen und gilt fort. Die judäische und gesamtisraelitische Perspektive nach dem Ende des Staates Israel hebt die Kritik an den Verhältnissen in Samaria nicht auf; diese gilt jetzt auch für Juda. Und die Hoffnungsperspektive der Perserzeit macht die Sozial- und Kultkritik nicht hinfällig. Sie bleibt auch für die Missstände dieser Zeit in Kraft.

Es ist die Vielfalt dieser Aspekte, welche das fertige Amosbuch umfasst, die dessen Rezeption bis heute prägt.

Amos

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