Читать книгу Die Industrielle Revolution - Rainer Liedtke - Страница 22
2.8 Konkurrenz und Abstieg
ОглавлениеIn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhielt Großbritannien Konkurrenz durch andere aufstrebende Industrienationen und hatte zunehmend Mühe, seine wirtschaftliche Vormachtstellung zu halten. Zahlreiche Ursachen für den relativen wirtschaftlichen Abstieg des Landes sind diskutiert worden. Mitentscheidend war sicherlich, dass Großbritannien sich so viel früher industrialisiert hatte als der Rest der Welt und lange keinerlei Konkurrenz fürchten musste. Es bestimmte die Preise für den Import von Rohstoffen und den Export von Fertigwaren. Aufgrund dieser Sonderstellung war es unnötig, Marketing zu betreiben, Verkaufsstrategien zu entwickeln oder seine Produkte durch eine Preispolitik attraktiv zu machen. In Forschung und Entwicklung, die die Industrialisierung seit dem späten 18. Jahrhundert in Großbritannien so massiv vorangebracht hatte, wie auch in die Qualitätskontrolle wurde zunehmend weniger investiert, was die Wettbewerbsfähigkeit britischer Erzeugnisse angesichts zunehmender Konkurrenz durch aufstrebende Industrienationen leiden ließ. Unternehmer aus anderen Teilen der Welt waren von Anfang an darauf bedacht, international konkurrenzfähig zu sein; die Briten mussten dies in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts erst mühsam lernen. Deutsche, Amerikaner und andere entwickelten etablierte Produktionsverfahren weiter, da sie erfolgshungriger und innovativer waren als der Vorreiter in der Industrialisierung. Zusätzlich kam es seit den 1860er Jahren verstärkt zum bereits genannten Abfluss von britischem Investitionskapital ins Ausland, wo häufig höhere Renditen zu erzielen waren. Beispielsweise ließ sich im amerikanischen Eisenbahnbau viel mehr Gewinn machen als durch Investitionen in die meist soliden, aber technisch zurückgebliebenen britischen Industrien, denen dadurch
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jedoch zunehmend Investitionskapital fehlte, gerade um ihre Rentabilität erhöhende Modernisierungen finanzieren zu können.
Zwar wuchs die britische Wirtschaft auch im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, jedoch gab es Sektoren, die zunehmend in Schwierigkeiten gerieten, wie etwa die Landwirtschaft. Durch eine Reihe aufeinanderfolgender harter Winter in den späten 1870er Jahren waren die Kornkammern Großbritanniens, die Midlands und der englische Süden, stark in Mitleidenschaft gezogen worden, was zum Massenimport von Getreide zwang. Ausländisches Getreide war jedoch um so viel billiger, dass die einheimische Landwirtschaft im Anschluss nicht mehr auf die Erträge der Zeit vor der Krise zurückkommen konnte. Große Flächenstaaten, wie die USA, Kanada, Argentinien oder Australien, produzierten preiswerter als das kleinteilig bewirtschaftete Großbritannien. Die Eisenbahn und die Dampfschifffahrt machten einen raschen, preisgünstigen und zuverlässig kalkulierbaren Import von landwirtschaftlichen Produkten möglich. Mit etwas Verzögerung galt dies auch für den Import von Frischfleisch. Seit den 1880er Jahren war es möglich, Laderäume von Schiffen maschinell zu kühlen, was die Einfuhr preiswerten Rindfleischs aus Argentinien oder von Lammfleisch aus Neuseeland ermöglichte und die britische Viehwirtschaft stark in Mitleidenschaft zog. Im Jahr 1900 wurde bereits ein Drittel des in Großbritannien konsumierten Fleisches importiert. Die Verkleinerung der Landwirtschaft zwang eine nicht unerhebliche Zahl von Landarbeitern zur Emigration, da sie nicht mehr, wie in den Jahrzehnten zuvor, durch industrielle Arbeitsplätze aufgefangen werden konnten.
Dies lag daran, dass viele industrielle Sektoren einen schleichenden Niedergang erlebten. Zwar erhöhten sich die britischen Exporte zwischen 1870 und 1900 um 50 %, aber das industrielle Wachstum schrumpfte im Jahresdurchschnitt von 3 auf 2 %. Aufgrund schärferer internationaler Konkurrenz ging der britische Anteil an der weltweiten Industrieproduktion erheblich zurück. Besonders problematisch war die Situation für die traditionellen Industrien Bergbau, Textilherstellung sowie Eisen und Stahl. Seit den 1860er Jahren waren eine Reihe von Methoden entwickelt worden, die die Massenproduktion von Stahl ermöglichten, der widerstandsfähiger und leichter zu verarbeiten war als Eisen. 1879
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wurde in den USA und Deutschland das effiziente „Thomas-Gilchrist-Verfahren“ zur Stahlherstellung eingeführt, das phosphorhaltiges Eisenerz verwendet, über das diese beiden Länder in großen Mengen verfügten. In Großbritannien dagegen wurde noch längere Zeit an traditionellen Verfahren festgehalten, weil das Land einerseits wenig von diesem Erz selbst besaß, andererseits die Unternehmer diese Neuerungen schlicht verschlafen hatten. Dies war symptomatisch für die britische Industrie am Ende des 19. Jahrhunderts. Während die internationale Konkurrenz sich viel vom industriellen Pionier abgeschaut hatte und die modernsten Fördertechniken und Produktionsverfahren benutze, sparten sich britische Industrielle im Glauben an die eigene Überlegenheit technische Innovationen. In britischen Bergwerken wurden mechanische Abbauverfahren erst deutlich später eingeführt als in Kontinentaleuropa, obwohl auch hier immer tiefere und längere Schächte die Grenzen menschlicher Fähigkeiten deutlich machten.
Jedoch war der Niedergang der britischen Industrie nur relativ. Zwischen 1851 und 1914 vervierfachte sich die Zahl der Bergarbeiter, und die britische Kohleproduktion verdoppelte sich zwischen 1870 und 1900. Im Vergleich mit jüngeren Industrienationen jedoch fiel das Land zurück, und auch die Zeit der fantastischen Profite in der Montan- und Baumwollindustrie war im späten 19. Jahrhundert vorbei. Lediglich im Schiffbau blieb Großbritannien bis ins 20. Jahrhundert hinein weltweit führend, was primär auf die immer noch immens starke Royal Navy und eine umfangreiche Handelsflotte zurückzuführen war. Um 1850 führten 3,5 Millionen Bruttoregistertonnen den Union Jack, fünfzig Jahre darauf waren es bereits 11,5 Millionen Tonnen und 1910 gar 16,7 Millionen Tonnen, was nicht zuletzt dem Rüstungswettkampf mit dem Deutschen Reich geschuldet war. Aber Großbritannien setzte viel zu spät auf die bedeutenden „neuen Industrien“. Während deutsche und amerikanische Industrieunternehmen seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verstärkt die neue elektrische Energie einsetzten, wurden viele britische Maschinen noch lange durch Dampf und Gas angetrieben, was die britische Elektroindustrie zum Spätentwickler machte. Zwar machten britische Chemiker viele bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckungen, aber deren industrielle Weiterentwicklung und Anwendung fand
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überwiegend in Deutschland statt. Lichtblicke gab es lediglich in einigen Leichtindustrien, die im späten 19. Jahrhundert zahlreiche neue Konsumartikel auf den Markt brachten. Wer etwa vor dem Ersten Weltkrieg eine Nähmaschine oder ein Fahrrad benötigte, erwarb zumeist ein in Mittelengland hergestelltes Produkt.
Es ist ebenfalls argumentiert worden, dass die einstmals so innovative, die Industrialisierung vorantreibende britische Mittelklasse sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend am gesellschaftlichen Ideal des Gentleman orientierte. Wer zu Wohlstand gekommen war, zog sich nach Möglichkeit aus dem Tagesgeschäft zurück, kaufte sich ein Landhaus und ging lieber gesellschaftlichen Verpflichtungen, der Jagd und wohltätigen Projekten nach. Das Streben nach Profitmaximierung galt als wenig standesgemäß. Solch ein gentlemanly capitalism, der das vorindustrielle Landleben der Oberschicht zum Leitbild machte, sei nach Ansicht einiger Historiker nicht geeignet gewesen, in einer Zeit auf dem Weltmarkt zu bestehen, als die kontinentaleuropäische und nordamerikanische Konkurrenz den Entwicklungsvorsprung der ersten Industrienation weitgehend eingeholt hatte.
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