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Nicht den leichtesten Weg wählen! – Kritischer Umgang mit jüdischer Tradition
Оглавление„Sehen Sie einen Widerspruch zwischen der jüdischen Religion und dieser Parade?“ Die Frage stellte ich einem jungen Mann in Tel Aviv. Er stand zusammen mit seinem Freund und seiner (oder dessen) Mutter am Rande der GayPrideParade, dem Umzug der Schwulen und Lesben. Sie treten nicht nur in Europa und Amerika, sondern auch in Israel für Ihre Rechte ein. Die Kippa auf dem Kopf wies ihn als orthodoxen, jedenfalls religiös-praktizierenden Juden aus. Mir erschien das wie ein Widerspruch: Homosexualität und orthodoxes Judentum.
Seine Antwort hat mich verblüfft. Ohne zu zögern, sagte er lächelnd: „Das ganze Leben besteht aus Widersprüchen. Als Jude habe ich nicht den leichtesten Weg zu wählen.“ Erst allmählich erschloss sich mir die Weisheit dieser Antwort. Zu leicht sind die Wege, die die Widersprüche des Lebens verdrängen und nicht wahrhaben wollen.
Seine Religion einfach über Bord werfen angesichts seiner Liebe zu einem Mann, das wäre für ihn keine Lösung, das wäre zu leicht. Sicher, viele wählen diesen Ausweg aus dem Widerspruch. Juden und Christen, verletzt von ihrer Religion, drehen ihr den Rücken zu. Kurzer Prozess. Die Sache scheint erledigt.
Zu einfach wäre es aber auch, die eigenen Gefühle zu verleugnen und zu verdrängen, um der Religion treu zu bleiben. Das ist der leichte Weg der jüdischen und der christlichen Heuchler, die einfach den Schein wahren, dass nicht ist, was nicht sein darf. Sie meinen, so dem Widerspruch zu entkommen. Flucht in den scheinheiligen Schein.
Für mich als Christen wird der junge Mann am Rande der Schwulenparade zu einem Lehrer jüdischer Weisheit. Er hält den Widerspruch tapfer aus. Da ist auf der einen Seite die Realität seiner Gefühle, die in der Liebe zu seinem Freund öffentliche Gestalt gefunden haben. Und da ist auf der anderen Seite eine Tradition, der er treu bleibt, obwohl sie ihn infrage stellt – und er sie.
Ich ahne, wie schwer sein orthodox-jüdischer Weg war, seit ihm der Widerspruch bewusst geworden ist. Wie er vielleicht zwischen Bangen und Hoffen hin- und hergerissen wurde. Am Ende ist jüdische Gelassenheit gewachsen. Sie macht Heimlichtuerei und Doppelmoral überflüssig. Sie ermutigt, Traditionen auch zu widersprechen, um den eigenen Weg zu finden. Und das gerade mithilfe der eigenen Tradition.
In der jüdischen Bibel steht ein Gebet, gesprochen von König Hiskia: „Siehe, um Trost war mir sehr bange. Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen, dass sie nicht verdürbe; denn du wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück.“ (Jesaja 38,17) Die Gelassenheit dieses jungen Juden am Rande der Schwulenparade ist eine Frucht seiner Religion. Denn er weiß sich von Gott herzlich angenommen – so wie er ist. Das macht ihn stark genug, um den Widersprüchen dieses Lebens standzuhalten.