Читать книгу Zwischen den Stühlen - Rainer Stuhlmann - Страница 17
Оглавление2. ZWISCHEN VERGANGENHEIT UND ZUKUNFT
Das Wunder, dialogfähig zu werden
Ich war 1962 als Siebzehnjähriger das erste Mal in Israel. Eine Erfahrung bei dieser Erstbegegnung hat sich mir besonders eingebrannt. Es war schon dunkel, als ich zusammen mit meinen Eltern ein Bad im Meer nahm. Neben uns ein Israeli mit seinem Sohn. Als wir aus dem Wasser kamen, sprach er uns auf Englisch an: „Kommen Sie aus Elberfeld?“ Verblüfft fragten wir zurück: „Woher wissen Sie das?“ „Das habe ich gehört.“ Man musste sich schon gut auskennen mit der deutschen Sprache, um uns so treffsicher zu lokalisieren. Und das im fernen Israel.
Dann erzählte er uns auf Englisch, dass auch er in Elberfeld geboren wurde und Deutsch seine Muttersprache ist. Mit acht Jahren wurde er aus dem Land gebracht, während seine ganze Familie in den Lagern ermordet wurde. „Sie werden verstehen, dass ich nie wieder ein deutsches Wort sprechen werde“, beendete er diese kurze, aber eindrückliche Begegnung.
Befangen fühlte ich mich schon, als ich damals nach Israel kam. Meine Befangenheit wurde durch diese Begegnung noch verstärkt. Und ich habe sie bei allen späteren Begegnungen nicht verloren.
Umso mehr hat mich überrascht und berührt, dass ich in den letzten drei Jahren, seit ich in Israel lebe, keinem einzigen Vorbehalt gegenüber Deutschen mehr begegnet bin. Wo immer ich mich als Deutscher zu erkennen gebe, werde ich aufs herzlichste willkommen geheißen. „Warum sind wir Deutsche so beliebt?“, frage ich einen Israeli. Ohne Zögern antwortet er: „Ich glaube, die ganze Welt hasst uns, nur die Amerikaner und die Deutschen nicht.“
In Haifa lernen Israeli im Rentenalter Deutsch oder frischen es auf. Sie wollen mit den „neuen Deutschen“ sprechen, sagen sie und haben nicht nur die Anwendung ihrer Sprachkenntnisse im Sinn. Sie brechen die Tabus ihrer Kindheit und arbeiten die Verdrängungen in ihren Elternhäusern auf. Unter ihnen könnte auch der Junge sein, dessen Vater mir damals am Strand begegnet ist.
Was ist da geschehen, siebzig Jahre nach dem Holocaust?! Der wird nicht verschwiegen. Aber er verhindert nicht mehr die Kommunikation. Es ist wie ein Wunder. Israelische Juden und nicht-jüdische Deutsche sind dialogfähig geworden. Sie bejahen die Rollen der Opfer und der Täter, aber sie lassen sich nicht mehr darauf beschränken.
In der Bibel werden Erfahrungen der Gegenwart oft im Licht ähnlicher Erfahrungen der Vergangenheit gesehen. In einem Psalm lese ich: „Der Herr sah ihre Not an, als er ihre Klage hörte, und gedachte an seinen Bund mit ihnen.“ (Psalm 106, 44-45) Und ich denke: Ja, es ist ein Wunder.
Am Leiden der anderen teilnehmen
An diesem Apriltag war ich aufgeregter als üblich, als ich in Israel mit einer Gruppe junger Deutscher unterwegs war. Es war Jom ha Schoah, der Tag, an dem alle um zehn Uhr morgens im ganzen Land unter Sirenengeheul für zwei Minuten die Arbeit ruhen lassen. Seit sechzig Jahren gedenken die Menschen in Israel an diesem Tag der Opfer der Schoah (des Holocaustes).
Wir waren als Deutsche zu einer Gedenkveranstaltung in einen Kibbuz eingeladen worden. Nach unserer Ankunft verschwand meine Aufregung augenblicklich, als ich sah, wie freundlich wir Deutsche bei Tee und Gebäck willkommen geheißen wurden. Es war wie bei anderen Begegnungen auch, zu meinem Erstaunen und ganz anders als noch vor Jahrzehnten. Auch an diesem Gedenktag gab es nicht einmal eine Spur von Ressentiment und Vorbehalt uns Deutschen gegenüber.
Etwa achtzig Menschen hatten sich in der Aula der Schule versammelt, zwei Drittel jüdische Israeli, ein Drittel arabische (oder wie sie sich selber nennen: palästinensische) Israeli und etwa zehn in Israel lebende Deutsche. Eine Jüdin und eine Deutsche erzählten, was sie von ihren Eltern und Großeltern über die Schoah gehört hatten oder was ihnen verschwiegen worden war. Überraschend für mich war, dass auch eine Palästinenserin das Wort bekam, um zu erzählen, was sie von ihren Eltern und Großeltern über die „Nakba“ erfahren hatte.
„Nakba“ ist das arabische Wort für Katastrophe, und das heißt auf Hebräisch „Schoah“. „Nakba“ meint aber nicht die „Schoah“ des jüdischen Volkes, den Holocaust, sondern die Leidensgeschichte der Palästinenser bei der Staatsgründung Israels. Über vierhundert arabische Dörfer wurden damals zerstört und ihre Bewohner getötet oder vertrieben. Das wurde in Israel jahrzehntelang verschwiegen, wird heute aber in der israelischen Gesellschaft offen und kontrovers diskutiert (siehe Bildteil).
Ich staunte, wie sichtbar bewegt die Jüdinnen und Juden der Palästinenserin zuhörten. Das hätte ich vorher nicht für möglich gehalten. Möglich wurde dieses Wunder dadurch, dass zuvor die Palästinenser und Palästinenserinnen der Jüdin zugehört hatten. In gemischten kleinen Gruppen ging das vertrauensvolle Gespräch weiter: erzählen und zuhören.
Eine Solidarität der Leidenserfahrungen war gewachsen. Die Anteilnahme der anderen an der eigenen Leidensgeschichte ermöglicht die Anteilnahme an deren Leidensgeschichten. So wenig wie wir Deutsche bei dieser Gelegenheit von Juden auf die Anklagebank gesetzt wurden, so wenig die jüdischen Israeli von Palästinensern.
So wächst Versöhnung. Langsam. Aber Schritt für Schritt und Jahr für Jahr. Es ist erst ein Anfang, aber ein vielversprechender. Ich erinnere mich gerne an die Geschichten der kleinen Anfänge. Sie stiften Hoffnung. Sehnsucht nach mehr. Sie wehren der Resignation und leiten an, zu warten und zu erwarten.
Wenn ein Palästinenser in Israel der „Kristallnacht” gedenkt
Jedes Jahr laden wir in Nes Ammim am 9. November zu einer Gedenkfeier für die „Kristallnacht“ ein. Das bei uns eher vermiedene Wort benutzt man in Israel betont als deutsches Fremdwort sowohl im Hebräischen wie in Englischen, um die von den Nazis mit diesem Propagandawort verbundenen Konnotationen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Die Hauptrede halten dabei jeweils abwechselnd nicht nur Christen aus Deutschland und Juden aus Israel. In diesem Jahr hatten wir einen palästinensischen Redner. Allein das hatte vor allem unter den Juden gespannte Erwartungen ausgelöst. Man befürchtete anti-israelische Attacken. Eine Jüdin hatte ihre Absage ausdrücklich damit begründet, dass ihr die Feier „zu politisch“ sei, obwohl seit zwanzig Jahren die Gedenkfeier in Nes Ammim immer auf die gegenwärtige Situation in diesem Lande zielt.
Nun, ihre Enttäuschung muss groß und heilsam gewesen sein, als man ihr von der Feier berichtete. Der Palästinenser, der die Rede gehalten hat, ist Dr. Munib Younan aus Jerusalem, Bischof der Evangelisch-lutherischen Kirche in Jordanien und im Heiligen Lande und zugleich Präsident des Lutherischen Weltbundes. Er erinnerte an die unbeteiligte zuschauende Haltung der meisten Menschen, als im November 1938 in Deutschland die Synagogen brannten. Ohne unangemessene Vergleiche zu ziehen, folgerte Bischof Younan aus dem menschlichen Versagen damals in Deutschland Forderungen für ein besseres Verhalten angesichts der Lage im Nahen Osten. Von den brennenden Synagogen damals kam er zu den brennenden Kirchen heute – in den arabischen Nachbarländern wie in Israel. Einen Augenblick lang entstand der Eindruck, er würde das Judentum attackieren, als er die von ultraorthodoxen Juden geschändeten Kirchen und Klöster beklagte, oder den Islam, weil Muslime Kirchen in Ägypten und in Syrien in Brand steckten.
Im gleichen Atemzug beklagte er, dass im Nahen Osten auch Moscheen und Synagogen attackiert werden. Gegen die Fanatisierung der Religiösen warb er für eine interreligiöse Verständigung. Zusammen mit anderen Bischöfen, den beiden Oberrabbinern und dem Großmufti in Jerusalem wirkt Bischof Younan selbst seit Jahren an dieser Verständigung mit.
Seine kritischen Anfragen an Juden und Muslime wurden gehört, weil sie von einem Christen selbstkritisch vorgetragen wurden. Der Lutheraner begann mit einer kritischen Rückschau auf den kirchlichen Anti-Judaismus gerade auch der lutherischen Kirche und im Besonderen der judenfeindlichen Äußerungen Martin Luthers, die 1938 in Deutschland eine schlimme Rolle gespielt hatten.
Ich habe gelernt, dass die Bereitschaft, sich von anderen etwas sagen zu lassen, einen eindringlichen Appell ermöglicht, der Gehör bei den anderen findet. Diese Begegnung ist für mich zugleich eine Hoffnungsgeschichte in einem Land, in dem es schwerer als anderswo ist, an der Hoffnung festzuhalten. Solche Erfahrungen stärken Menschen, die mehr erwarten, als heute möglich ist.
Deutscher Volkstrauertag in Israel
Der Militärattaché der Deutschen Botschaft hatte auch mich zu einer Gedenkfeier auf dem deutschen Soldatenfriedhof in Nazaret eingeladen. Nun, wer mich kennt, weiß, dass Feierstunden am Volkstrauertag in Deutschland nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen als Pastor gehört haben und, um ehrlich zu sein, ich sie meist mit Erfolg gemieden habe. Aber in diesem Land ist eben auch am Volkstrauertag alles ganz anders, angefangen beim warmen Spätsommertag unter praller Sonne und strahlend blauem Himmel. Und dann die besondere Situation. Viele Soldaten, die in Palästina im Ersten Weltkrieg gefallen sind, liegen auf diesem Friedhof begraben; anderer, die an anderen Stellen des Landes begraben sind, wird mit einer Grabplatte gedacht. Unter den deutschen Soldaten sind auch jüdische, die daran erinnern, dass rund achtzehntausend jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg ihr Leben für ihr deutsches Vaterland gelassen haben. Erinnert wird aber auch an z. B. indische Soldaten, die „auf der anderen Seite“ gekämpft haben und hier gefallen sind. So war die Feierstunde alles andere als ein „Heldengedenktag“. Nicht nur evangelische und katholische Repräsentanten leiteten die Zeremonie mit Predigt, Lesung von Micha 4 und dem Vaterunser, sondern auch ein Rabbi sang Psalmen und betete das Kaddisch.
Repräsentanten von 15 Ländern legten Kränze nieder, die im Ersten und Zweiten Weltkrieg gegen einander gekämpft hatten. Soldaten der Bundeswehr (die gerade in Israel weilten) und Soldaten der israelischen Streitkräfte waren in Nazaret erschienen. Zu denken gab mir, dass die kirchlichen Repräsentanten neben dem Rabbi stehend mit erhobenen Händen den Aaronitischen Segen sprachen, den der Katholik wie üblich mit dem Kreuzzeichen beschloss. Zunächst war ich irritiert, dass der Soldat Alfred Gerechter, der (wie man damals sagte) mosaischen Glaubens war, auf seiner Grabplatte ein Kreuz hatte, aber später sah ich, dass das die zufällige Dekoration der Gräber dieser Reihe war, während andere Reihen mit dem Davidstern oder floralen Symbolen oder dem Kopf des deutschen Reichsadlers geschmückt waren. Der Friedhof wird von einem in Nazaret wohnenden Deutschen ehrenamtlich betreut, der anbietet, auch Gruppen von Freiwilligen diesen Friedhof zu zeigen und von seiner Geschichte zu erzählen.
Ein KZ auf Israels Boden?
Wir waren erschrocken nach unserer Ankunft in Atlit. Zehn Kilometer südlich von Haifa. Unmittelbar hinter den Dünen der Mittelmeerküste. Stacheldraht, Baracken, Wachtürme, Bahnanschluss. Das Lager wurde 1938 von den Briten errichtet, um bis 1948 illegal eingewanderte Jüdinnen und Juden gefangenzusetzen. Die der Hölle der Schoah entronnen waren, landeten hier in Lagern, die genauso aussahen wie ein KZ. Die Buren in Südafrika hatten für beide das Modell geliefert. Ein anderes „Auffanglager“ stand in Mazra, unweit von Nes Ammim. Als erstes wurden die Ankommenden einer Reinigungsprozedur unterworfen in Duschräumen, die wie die Gaskammern in Auschwitz aussahen. Für viele war das Lager nur Durchgangsstation für einige Monate, bis sie zwangsweise in Lager auf Zypern oder Mauritius gebracht wurden. Wir waren bei unserem Besuch umringt von israelischen Kindern und Jugendlichen, die hier – wie wir – auf anschauliche Weise ein Stück Vorgeschichte ihres Staates lernten. Drei Baracken, einige Wachtürme und das Reinigungsgebäude hat man stehengelassen. Das Modell eines der Einwandererschiffe kann man besuchen und in einer multimedialen Show nachempfinden, wie es denen erging, die ins Gelobte Land wollten und stattdessen im Lager landeten. Ein Archiv ist angelegt und wird ständig erweitert. Viel zu spät hat man begonnen, Zeitzeugen zu interviewen und ihre Geschichten aufzuschreiben. Nach siebzig Jahren drängt die Zeit. Nachdenklich gemacht hat uns auch, dass die Armee Israels in eben diesem Lager 1956 und 1967 arabische Soldaten gefangen hielt …