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Sichtbares und unsichtbares Judentum

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Woran erkennt man Juden und Jüdinnen? Das war schon immer eine blöde Frage. Z.B., wenn man an die rassistische Nasendiskussion denkt. Wer aber wie wir jedes Jahr im August nach Safed in Obergaliläa zum Klezmer-Festival fährt, der kann einiges aufzählen, was auffällt und jemanden als Juden oder Jüdin zu erkennen gibt. Mehr als neunzig Prozent der Abertausenden an Männern und Jungen, die an diesen drei Abenden durch die überfüllten Straßen und Plätze Safeds wandeln, tragen eine Kippa. Viele tragen Schläfenlocken (Peot), weiße Hemden und schwarze Anzüge und große schwarze Hüte. Viele haben ihr rechteckiges weißes Hemd (kleiner Tallit) über alle Kleidung angezogen, an dessen vier Ecken jeweils ein langer Schaufaden (Zizit) befestigt ist, dessen viele kunstvoll geknüpfte Knoten den Träger an die Gebote Gottes erinnern. Die Ehefrauen haben ihre Haarpracht unter einem kunstvoll gewundenen Kopftuch verborgen oder sie bedecken ihre Haare durch eine Perücke. Bis spät in der Nacht sind die jungen Familien mit ihren acht, zehn oder mehr Kindern unterwegs. Sie genießen wie wir die traditionelle Klezmer-Musik, die von Amateuren und Profis aus ganz Israel und aller Welt an jeder Ecke und jedem Platz der Altstadt präsentiert wird. Die eigenartige Atmosphäre vermittelt den Eindruck einer Zeitreise in die Vergangenheit.

Wir begegnen hier dem „sichtbaren“ Judentum, das nach seinen religiösen Überzeugungen auch sein Äußeres gestaltet. Orthodoxe und modern-orthodoxe Juden kann man an Kippa und Kopftuch erkennen. Manche tragen auch Peot und Ziziot. Die Ultraorthodoxen, die sich selber „Haredim“ (Gottesfürchtige) nennen, tragen diese feierlich-altmodische schwarz-weiße Kleidung, die in sich sehr variabel ist und jeweils zeigt, zu welcher der vielen Gruppen der Haredim die Träger gehören. Viele Jugendliche und junge Erwachsene gehören dem Chabad an, einer messianischen Bewegung, deren letzter Rabbi Schneerson, 1994 verstorben, überall abgebildet ist und der von manchen für den auferstandenen Messias gehalten wird. Sie bemühen sich, säkulare Juden für religiöse Praxis zu gewinnen. In Safed sind sie immer mit eigenen Musikgruppen vertreten, die durch ihren Enthusiasmus auffallen. Für die nichtjüdischen Europäer hat diese Erfahrung am Sommerabend in Safed etwas Exotisches.

Nachdem 1948 die jüdischen Kampfverbände diese arabische Stadt, in der durch die Jahrhunderte immer eine große und bedeutende jüdische Minderheit lebte, erobert hatte, durfte die arabische Bevölkerung nicht mehr zurück nach Safed. Ich stelle mir vor, wie es ihren Nachfahren heute in dieser Bastion des konservativen Judentums ergehen würde. Ich erinnere mich an feurige Reden von Knesset-Abgeordneten der national-konservativen Partei „Israel Beiteinu“, die im letzten Jahr in Safed mit großem Applaus bedacht wurden. Die Partei und ihr Vorsitzender, Außenminister Avigdor Lieberman, sind wegen ihres anti-arabischen Rassismus berüchtigt. Dient das Klezmer-Festival der Aufrüstung reaktionärer Kreise in Israel?

Andererseits kenne ich orthodoxe Jüdinnen und Juden, die ihre Kinder in eine arabisch-hebräisch-sprachige „Hand-in-Hand-Schule“ schicken und sich in der Friedensbewegung engagieren. Und Giora Feidman, der Altmeister des Klezmer, der das jährliche Festival in Safed vor 14 Jahren mit ins Leben gerufen hat, spielt bei seinen Konzerten in Deutschland gerne seine Improvisation, in der die drei Nationalhymnen aufklingen: die israelische, weil er Jude ist, die deutsche, weil er hier zu Gast ist, und die palästinensische, „weil sie unsere Brüder und Schwestern sind“.

Zufällig lernten wir einen Tag zuvor eine Gruppe des „unsichtbaren“ Judentums kennen. Natürlich in Tel Aviv, „der“ säkularen Stadt Israels, deren Einwohner weder durch Kleidung noch durch Haartracht als Juden oder Jüdinnen zu erkennen sind. Wir besuchen eine „säkulare Jeschiwa“. Jeschiwa meint eigentlich eine Talmudschule, in die viele orthodoxe und ultraorthodoxe Juden, also das sichtbare Judentum, ihre Kinder schicken oder auch als Erwachsene dort lebenslang den Talmud studieren. „Säkulare Jeschiwa“ klingt wie ein Widerspruch – und das ist gewollt. Auch säkulares Judentum ist in sich sehr vielfältig. Da gibt es nicht nur atheistische oder hedonistische Juden und Jüdinnen. „Säkular“ ist im Judentum kein Gegenbegriff zu „religiös“. Ja selbst Juden, die sich „nicht-religiös“ nennen, bringen damit zum Ausdruck, dass sie ihr Judentum nicht durch ein bestimmtes Aussehen oder eine bestimmte Praxis sichtbar werden lassen. Auch „nicht-religiöse“ Juden fasten aber am Jom Kippur, feiern den Seder-Abend, lassen ihre Söhne rituell beschneiden. Manche würden das, von außen betrachtet, „Religion light“ nennen.

In der „säkularen Jeschiwa“ lernen wir Menschen kennen, deren Judentum keineswegs „light“ ist. Sie studieren mit Eifer die Tora, die hebräische Bibel, den Talmud und andere jüdische Traditionen. Aber sie kommen durch ihr Studium zu anderen Überzeugungen als das orthodoxe Judentum. Sie wollen eine Alternative zum sichtbaren Judentum sein.

Denn einer aus diesem sichtbaren Judentum hat am 4. November 1995 Jizchak Rabin erschossen, weil der mit den Palästinensern Frieden schließen wollte. Geschockt davon, dass ein religiöser Jude den Hoffnungsträger ermordet hat, wurde die säkulare Jeschiwa gegründet. Eine konstruktive tatkräftige Alternative zur verzweifelten Irritation der Mehrheit nach Rabins Ermordung. „Wir wollen auf eine andere Weise Judentum repräsentieren. Im Zentrum unseres Studiums stehen die jüdischen Werte Gerechtigkeit, Gleichheit, Frieden, Nächstenliebe, Gemeinsinn, und wir fragen, wie sie angesichts gegenwärtiger Herausforderungen zu verwirklichen sind …“, sagt Shaul, einer der Freiwilligen. Und sie studieren die Werte nicht nur, sie praktizieren sie auch. Direkt vor ihrer Türe, in dem heruntergekommensten Stadtteil Tel Avivs rund um den Zentralen Busbahnhof. Direkt gegenüber, wo Tel Aviv am hässlichsten ist, steht ihr Begegnungszentrum. BINA steht mit großen Lettern daran (siehe Bildteil). Das heißt „Wissen, (Er)Kenntnis, Einsicht, Verständnis“. Daran wollen sie erkannt werden.

Sie sind verwechselbar mit anderen, die den Menschenrechten verpflichtet sind, Atheisten, Christen, Muslimen, Buddhisten, Bahais … Es stört sie nicht, dass andere aufgrund anderer weltanschaulicher Überzeugungen das Gleiche tun wie sie. Es stört nicht die Unsichtbarkeit ihres Judentums. Wirksamkeit ist ihnen wichtiger als Sichtbarkeit. Ihre Freiwilligen arbeiten mit den Flüchtlingen, den Illegalen, den Drogensüchtigen und Prostituierten, die rings um den Busbahnhof, dieses achtstöckige Betonmonster, hausen. Studium und soziale Arbeit – das ist es, was ihr Judentum ausmacht. Sie sind eine wachsende Bewegung, die Menschen anzieht. Alternatives Judentum, von dem zu wenig in den Medien wahrzunehmen ist, und das sich sogar der Welt der Karikaturen entzieht. Anders als bei sichtbaren Juden findet der Karikaturist hier nichts, womit er sie als Juden erkennbar machen könnte.

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