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1. ZWISCHEN JÜDINNEN UND JUDEN Von Juden lernen – Das Programm Nes Ammims

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Sie war ein Abenteuer – die Gründung von Nes Ammim, dem christlichen Dorf im Norden Israels, im Jahr 1963. Angefangen hat es damals in den Köpfen einiger Menschen in Holland, Deutschland und der Schweiz. Der massenhafte Mord an den Jüdinnen und Juden im Zweiten Weltkrieg hatte sie erschreckt. Und sie fragten sich: Wie konnte es dazu kommen? Wo liegen die Wurzeln für die Schoah, den Holocaust?

Eine Wurzel des modernen Antisemitismus und damit der Schoah ist der christliche Antijudaismus. Fast zweitausend Jahre lang erstrahlte das Christentum umso heller, je mehr es sich vom Judentum abhob, das es in schwärzesten Farben malte. Die Christen meinten, sie wüssten mehr als die Juden, sie wüssten es besser und hätten deshalb das Recht, ja die Pflicht, Juden zu belehren, zu missionieren und, wenn es gelingt, zu Christen zu machen. Im Mittelalter wurde diese Sichtweise von Christentum und Judentum symbolisch durch zwei einander gegenüber angeordnete Figuren dargestellt (siehe Bildteil). Die triumphierende Kirche als Königin mit Zepter und Krone, den Insignien der Macht, schaute herab auf die gedemütigte Synagoge als Magd mit zerbrochenem Stab und verbundenen Augen. Dieses christliche Überlegenheitsgefühl muss gründlich zerstört werden, damit es nicht noch einmal zu einer solchen Katastrophe kommen kann, sagten sich die Gründer von Nes Ammim. Eine radikale Umkehr war nötig.

„Kehrt nun um von euren bösen Wegen! Warum wollt ihr sterben?“, heißt es beim Propheten Ezechiel in der Bibel. (Ezechiel 33,11) Die Gründer Nes Ammims waren davon überzeugt, dass das christliche Überlegenheitsgefühl gegenüber den Juden nicht nur korrigiert, sondern um 180 Grad gewendet werden musste. Von jetzt an hieß das Programm: „Von Juden lernen“. Mit diesem Lernprogramm ging eine radikale Absage an jede Form der Judenmission einher.

Nes Ammim ist ein Lernort inmitten der jüdischen Welt. Hier sind die Juden in der Mehrheit und die Christen Minderheit und wir Gäste. Und so lebe ich dort in anderen Rhythmen, als in der christlich geprägten deutschen Gesellschaft. Der freie Tag ist der Schabbat, der am Freitagabend beginnt und bis zum Einbruch der Dunkelheit am Samstag dauert. Am Sonntagmorgen beginnt der harte Alltag einer geschäftigen Arbeitswoche, an dem die Straßen verstopft sind, weil alle aus dem Wochenende kommen. Nicht Weihnachten und Ostern bestimmen, wann Ferien sind, sondern Pessach und Sukkot. Die koschere Küche ist der Normalfall. Schweinefleisch sucht man vergeblich.

Wir Christinnen und Christen in Nes Ammim lernen von Juden, um unsere eigene Religion, das Christentum, besser zu verstehen. Denn das meiste in der christlichen Religion ist Judentum: der Glaube an den einen Gott, der uns in allem zuvorkommt, der gnädig und barmherzig ist, der Gerechtigkeit will. Von den Juden haben wir die Zehn Gebote, das Liebesgebot, das Gebot der Feindesliebe. Mit den Juden warten wir auf das Kommen des Messias. Die Frage, wer der Messias ist, der Retter der Welt aus Not und Leid, ist zwischen Juden und Christen strittig. Christen warten auf den Messias Jesus, auf sein Wiederkommen, Juden auf einen Messias, der noch nicht hier war. Aber darum streiten wir heute nicht mehr.

Wir warten ab – Juden und Christen. Ich bin als Christ ja auch darauf angewiesen, dass Jesus sich am Ende aller Tage tatsächlich als der erweist, als den ich an ihn glaube. Wenn ich das weiß, muss ich nicht streiten, sondern kann in souveräner Gelassenheit sagen: Soll der Messias doch selber sagen, wer er ist! Der jüdische Gelehrte Franz Rosenzweig hat noch eins drauf gesetzt und gesagt: „Wenn der Messias kommt, dann möchte ich ganz in seiner Nähe stehen, und noch bevor er irgendetwas sagen kann, möchte ich ihm ins Ohr flüstern: ‚Verrate es nicht!‘“ Auch am Ende soll nicht eine Religion über die andere triumphieren. Der einzige, der hier triumphieren soll, ist der Messias selbst – nicht die, die an ihn glauben und ihn erwarten.

Die Geschichte von Nes Ammim ist seit über fünfzig Jahren ein Weg der Umkehr und Erneuerung und des Lernens der Menschen unterschiedlicher Religionen.

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