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Ein ganz normaler Morgen

Der verhasste Wecker in der Außenwelt klingelte, und der rostrote Vorhang fuhr lautlos, wie in Zeitlupe, nach oben. Jakob war schlaftrunken und wäre am liebsten liegen geblieben, aber er war der »Hauptdarsteller«, und daher war es seine Aufgabe, die ersten Handlungen auf der Bühne zu übernehmen. Den anderen war es schlicht egal, was es für Folgen haben könnte, wenn sie einfach weiterschlafen und die Bühne nicht besetzen würden.

Er vergewisserte sich mit einem kurzen Blick hinüber zur Außenwelt, dass dort keine anderen Menschen zu sehen waren. So konnte er ganz in Ruhe und auf seine Weise in den neuen Tag starten. Er hasste es, früh am Morgen Konversation zu betreiben oder Entscheidungen treffen zu müssen.

Es dauerte ein paar Minuten, dann gesellte sich wie üblich Jan zu ihm auf die Bühne, der grußlos an ihm vorbei bis zur Kontaktlinie ging. Jan war ein großer Fan von Routine. So oft es ihm möglich war, übernahm er das Kommando und spulte die nötigsten Aufgaben fast vollautomatisch ab.

„Möglichst wenig Energie verbrauchen“, sagte er immer, „die brauchen wir für wichtigere Sachen.“

Jan war froh, wenn man ihn einfach machen ließ, denn er war davon überzeugt, dass er selbst für die immer wiederkehrenden Aufgaben die besten Lösungen hatte. Jakob hielt sich im Hintergrund und ließ Jan gewähren. Sie waren ein gut eingespieltes Team, solange in der Außenwelt keine neuen, unbekannten Situationen auftauchten.

„Wieso müssen wir denn heute zu diesem Dr. Becker? Da kann doch alles Mögliche passieren“, sagte Jan mürrisch.

„Das haben wir doch schon besprochen. Es ist ein normaler Vorsorgetermin. Jaison ist für unsere Sicherheit verantwortlich. Er hat den Termin ausgemacht und doch Recht damit, dass wir uns regelmäßig untersuchen lassen. Unser Körper ist inzwischen fast 50 und könnte eine versteckte Krankheit haben. Je eher wir das wissen, desto besser sind unsere Chancen es „reparieren“ zu lassen.“

Jakob war der Verantwortungsbewusste unter allen Darstellern und agierte auch als Vermittler in der Gruppe.

„Falls eine süße Arzthelferin in der Praxis ist, wird natürlich auch Jay nach vorne kommen, aber immerhin bringt das auch Spaß in die Bude“.

Als Playboy der Gruppe war Jay nicht besonders beliebt. Wenn er vorne auf der Bühne war, zog er seine altbekannte Schau für die Außenwelt ab, und alles andere musste hintenanstehen.

Jan verzog das Gesicht und setzte seine Morgen-Routine fort. Er hasste Jays Gehabe.

In der zweiten Szene an diesem Tag verwandelte sich die Außenwelt in das Wartezimmer einer Arztpraxis. Jan hatte sich vom vorderen Rand der inneren Bühne zurückgezogen, denn nun waren andere Darsteller gefragt, um mit dieser nicht alltäglichen Situation umzugehen. Alle waren ein wenig angespannt, denn man wusste nicht, was genau passieren würde.

Im Wartezimmer saß eine Frau, vielleicht Anfang Sechzig, und blätterte in einer der ausgelegten Zeitschriften. Diese Frau strahlte eine Gelassenheit und Ruhe aus, die sich auf die gesamte Szenerie positiv auswirkte.

Wie auf ein unsichtbares Kommando kam Jay nach vorne. Er drängte Jakob zur Seite und sah hinüber. „Wieso ruft ihr mich, obwohl diese Frau überhaupt nicht in mein Beuteschema passt? Die ist mindestens zehn Jahre älter.“

Gewohnheitsmäßig ließ er das Gesicht des Körpers trotzdem lächeln. Noch vor einigen Sekunden hätte ein geübter Betrachter vielleicht noch eine leichte Unsicherheit in den Augen bemerkt, aber nun zeigte eine Maske Selbstsicherheit und Lockerheit.

„Niemand hat Dich gerufen, Jay“, sagte Jakob.

„Hier gibt es nichts für Dich zu tun.“

Also ließ Jay die Gesichtsmuskeln wieder los, und die Mundwinkel sanken der Schwerkraft folgend nach unten.

„OK Leute, weitermachen“, sagte er und verließ die vordere Bühne.

Ein kurzer Blick der älteren Frau in ihre Richtung ließ vermuten, dass sie den Wechsel der Gesichtszüge amüsiert zur Kenntnis nahm. Sie sagte nichts und blätterte die nächste Seite auf.

„Fasten und wandern - Eine ideale Ergänzung für Ihre Gesundheit“, war als Überschrift zu lesen.

„Kommen Sie bitte mit mir, Herr Pracht“, rief in diesem Moment die Arzthelferin, und es blieb dem alten rostroten Vorhang nichts übrig, als die Wartezimmer- Szene zu beenden.

Der Sicherheitsbeauftragte Jaison war auf dem Weg nach vorne. Ohne jede Regung schaute er zu Jay, als sie sich in der Mitte der Bühne trafen und ging weiter in Richtung Kontaktlinie. Das Gespräch mit dem Arzt würde er führen, das war klar.

Das Theater in mir

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