Читать книгу Das Theater in mir - Ralf Michael Pape - Страница 9
ОглавлениеDes Himmelreichs Schlüssel
Unaufgeregt wartet der alte, rostrote Theatervorhang auf seinen nächsten Einsatz. Er muss bereit sein, denn jeden Moment kann die neue Szene beginnen, und dann wird er wieder einmal majestätisch und wie von Geisterhand gezogen nach oben schweben, um auch diesen neuen Akt zu eröffnen, so wie er es schon hunderttausende Male gemacht hatte.
Die Darsteller des Improvisations-Theaters sind mucksmäuschenstill. Unbekannte Musik dringt durch den Vorhang von außen auf die Bühne. Ansonsten geschieht momentan rein gar nichts auf diesen Brettern, die doch angeblich die Welt bedeuten.
Normalerweise können sich die Darsteller entspannen, solange der Vorhang geschlossen ist. Aber jetzt ist alles anders. Sie haben eine Aufgabe zu bewältigen und keine Ahnung, wie sie das anstellen sollen. Ratlose Sekunden verrinnen, bis plötzlich eine merkwürdige Gestalt auf der Bühne erscheint.
Ein Mantel aus goldenem Licht scheint sie zu umgeben, wobei das Licht ständig in Bewegung ist. Es ist kein Gesicht zu erkennen, und doch ist alles an ihr irgendwie vertraut. Diese strahlende Erscheinung steht auf einmal mitten unter den Darstellern und lässt einen merkwürdigen Satz auf die Bretter des Theaterbodens fallen:
„Ich möchte Dir des Himmelsreichs Schlüssel geben.“
Jakob ist einer der Darsteller, der in diesem Moment mitten auf der Bühne steht. Seine Gesichtszüge erfrieren geradezu, sein Kopf fährt herum, und seine Augen blicken in die Richtung dieser Licht-Gestalt, die ihm direkt gegenübersteht, nur wenige Meter entfernt.
Jakob ist knapp eins achtzig groß, hat dunkelbraune Augen, und sein kurzes, blondes Haar zeigt erste graue Ansätze an den Schläfen. Nun erstarrt sein ganzer Körper. Er kann sich keinen Millimeter mehr rühren.
In seinem Kopf zieht für einige Sekunden eine wohltuende Leere ein, die bald dem ersten neuen Gedanken weicht.
„Dieser Satz passt überhaupt nicht auf diese Bühne, passt so gar nicht in dieses Theaterstück.“
Er muss es wissen, denn er ist schon sehr lange Teil dieser Truppe. Im nächsten Januar wird er seinen 50. Geburtstag feiern. Damit ist er der Älteste im Ensemble. Seine Augen wurden allmählich schlechter, aber er ist stolz darauf, dass er vom Kopf her immer noch spielend mit den Jüngeren mithalten kann. Im Laufe der Jahre hatte er immer mehr Verantwortung und eine Führungsrolle im Team übernommen.
Das war ihm wichtig.
Inzwischen stellen alle auf der Bühne anwesenden Akteure das Atmen ein. Eine unheimliche Stille kriecht über den Boden in alle Richtungen und scheint jeden möglichen Ton zu schlucken. Obwohl von außen immer noch Musik auf die Bühne dringt, herrscht hier absolute Stille.
Das Ensemble hatte schon sehr viel gemeinsam erlebt, aber nun war eine völlig neue Situation entstanden.
„Wer ist dieses Wesen, wie kommt es überhaupt hierher, und was soll der merkwürdige Satz?“
Dieser Gedanke scheint bei allen gleichzeitig in den Köpfen zu kreisen oder springt von einem auf den anderen über und wieder zurück, um dann noch eine weitere Runde zu drehen, wie auf einem Karussell. Niemand von ihnen hatte sich jemals gefragt, wer die Darsteller ausgesucht hatte, die in diesem Theater mitwirken. Aber auch ohne eine Antwort auf diese nie gestellte Frage ist die Anwesenheit einer fremden Gestalt ein völlig neues, rätselhaftes und verwirrendes Ereignis.
Und dazu auch noch diese Botschaft.
Vorne auf der Bühne steht Jack, der sich noch vor einigen Minuten mit Jakob über den recht ungewöhnlichen Tag unterhalten hatte. Jack kann sich als erster wieder regen. Er ist deutlich jünger als Jakob, und oft ist er es, der schnell improvisieren kann, der eine gute Idee hat, um das Stück fortzusetzen, auch wenn unvorhergesehene Dinge passieren. Doch nun steht dieses Wesen auf der inneren Bühne, mitten in dem normalerweise von der Außenwelt hermetisch abgeschotteten Bereich.
„Wie konnte das nur passieren“, denkt Jack bestürzt.
Aus den Augenwinkeln bemerkt er eine Bewegung an der Tür, die sich im hinteren Bereich der Bühne befindet. Von dort führt eine Treppe nach unten in den Keller. Es ist für alle Darsteller ein ungeschriebenes Gesetz, diese Tür immer gut verschlossen zu halten. Irgendetwas musste dort existieren, das für das Theater und seine Darsteller nicht gut war. Doch nun sieht er, dass diese Tür einen Spalt weit offensteht. Er kann die Umrisse einer zierlichen Gestalt erkennen. Seine Nackenhaare stellen sich auf.
Die kleine Gestalt an der Tür bewegt sich leicht und scheint aufgeregt zu sein. Jack spürt Unruhe, aber auch Neugier.
„Merkwürdig, wo kommen denn diese Gefühle auf einmal her?“, wundert er sich.
„Wie ein Kind, das am Heiligen Abend darauf wartet, endlich zur Bescherung gerufen zu werden“, kommt es ihm in den Sinn.
Er hat keine Ahnung, wie er auf diesen merkwürdigen Vergleich kommt, aber sofort zeigen sich einige alte Bilder vor seinem inneren Auge, die ein wohliges Gefühl in ihm auslösen. Er sieht die Szenerie wieder vor sich, als er zusammen mit seinen Geschwistern den ganzen Tag im Kinderzimmer bleiben musste, weil Mama den Tannenbaum schmückte, die Geschenke einpackte und das Essen vorbereitete. Der Fernseher im Kinderzimmer machte die Wartezeit einigermaßen erträglich.
„Ob Papa wohl heute bei der Bescherung dabei sein wird“, flogen alte Gedanken in ihm vorbei, so wie Sprechblasen in Comic-Heften.
Sein Vater hasste Familienfeiern.
„Weil solche Feste immer so viele Gefühle in mir auslösen“, hatte er später einmal gesagt, in einem der wenigen Gespräche, die sein Vater überhaupt mit ihm geführt hatte.
„Damit kann ich einfach nicht umgehen“.
Es waren keine einfachen Kindheitsjahre, aber Jack und seine Geschwister hatten sich im Laufe der Zeit an diese Situation gewöhnt und freuten sich trotzdem jedes Jahr wieder auf Weihnachten, auf ein wenig heile Welt, besonders auf den Moment, wenn es draußen langsam dunkel wurde und endlich das Glöckchen läutete. Dann durften sie ins Wohnzimmer, zu Tannenbaum, Krippe und einem Geschenke-Meer, das Mama herbeigezaubert hatte. Es war wie ein Wunder, und ihre Kinderherzen hüpften vor Freude.
„Fast wie eine richtige Familie“, denkt Jack gerührt an diese Augenblicke zurück.
Sein Vater war endgültig gegangen, als er zehn Jahre alt war. Jack wischt sich ein paar Tränen aus seinen Augen und versucht nicht in den aufkommenden Gefühlen zu versinken.
Das alles hatte nur wenige Sekunden gedauert, als sich der ungebetene Gast auf der inneren Bühne in Bewegung setzt und langsam auf Jakob zugeht. Sofort wendet sich Jacks Aufmerksamkeit zu Jakob, dem förmlich anzusehen ist, dass er sich am liebsten in Luft auflösen würde. Doch es sieht so aus, als könnte Jakob sich immer noch keinen Millimeter bewegen, und damit ist Flucht keine Option.