Читать книгу Das Theater in mir - Ralf Michael Pape - Страница 15

Оглавление

Wahrheiten

Nancy saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher und schaute eine Folge von „Game of Thrones“2, als das Telefon klingelte.

Obwohl es laut genug an ihr Ohr drang, bemerkte sie das Klingeln nicht, denn in dem Film gab es gerade eine handgreifliche Auseinandersetzung zwischen einem Mann und seiner Frau. In Nancy wurden Erinnerungen an ihren sechsten Geburtstag wachgerufen, es war an einem warmen Mai-Sonntag. Ihre Eltern hatten sich wieder einmal heftig gestritten. Die frischgebackene Sechsjährige kannte das von ihren Eltern, die es von Woche zu Woche weniger schafften, ihrer Tochter ein gutes Miteinander vorzuspielen. Doch an diesem Tag eskalierten die Streitigkeiten, und ihr Vater schlug abends auf ihre Mutter ein, die sich nach Kräften wehrte und dabei laut weinte und schrie. Nancy lag in ihrem Bett und versuchte, sich ihre kleinen Ohren zuzuhalten. Sie hatte fürchterliche Angst um ihre Mutter. Dann stand sie aus ihrem Bettchen auf und ging langsam ins Wohnzimmer. Als ihr Vater sie sah, wollte er vermeiden, dass seine kleine Tochter das ganze Drama mitbekam und tat so, als helfe er seiner Frau auf.

„Mama ist nur hingefallen, aber es ist nichts passiert, mein Schatz.“

Ihre Mutter war mit der Situation eindeutig überfordert und wortlos ins Schlafzimmer gegangen, um sich zu sammeln. Ihr Vater roch nach Alkohol und Zigaretten. Er nahm Nancy auf den Arm, lächelte sie an, als hätten sie gerade alle zusammen ein schönes Kinderspiel gespielt und brachte sie zurück in ihr Zimmer.

„Ich will Mama noch drücken, sie hat sich doch weh getan“, sagte Nancy, und ihr Vater versprach ihr, dass er sie zu ihr schicken würde, bevor Nancy dann aber auch endlich schlafen müsse.

Als ihre Mutter zu ihr ins Zimmer kam, sagte sie Worte zu Nancy, die überhaupt nicht zu ihrem Gesichtsausdruck passten. Sie war zwar erst sechs Jahre alt, aber das konnte sie deutlich spüren.

„Es ist alles gut, mein Schatz. Du kannst jetzt schlafen.“

Sie gab ihr einen Kuss und ging hinaus. Nancy schlief die ganze Nacht nicht, denn sie wollte bereit sein, falls Mama ihre Hilfe brauchte.

Als Nancy mit 14 ihren ersten Freund hatte, lagen unzählige Nächte mit wenig Schlaf, turbulente Szenen häuslicher Gewalt und vor allem intensive Erfahrung mit Unwahrheiten hinter ihr. Er musste ihr versprechen, dass er sie niemals belügen würde. Nun ja, was sollte der Junge auch anderes machen, als ihr diesen Gefallen zu tun, ohne zu ahnen, dass er diesen Schwur nach nur zwei Wochen das erste Mal brechen würde, als er lieber mit Kerstin aus ihrer Parallelklasse in den Jugendclub gehen wollte.

Das Telefon klingelte bereits eine Weile, als sie aus ihrem Tagtraum erwachte und den inneren Film anhielt. Den Telefonhörer drückte sie genervt an ihr Ohr.

„Ja bitte“, meldete sie sich wie üblich, mit einem Unterton in ihrer Stimme, der dem Störenfried schon zeigen würde, dass er nicht erwünscht war.

„Hallo Schatz, ich hatte einen kleinen Unfall. Ich bin beim Joggen über eine Hundeleine gefallen und war kurz weggetreten.“

„Was machst Du denn für Sachen“, sagte sie besorgt.

„Es ist ja nichts passiert, und mir geht es gut. Holger ist dann alleine weitergelaufen, und ich bin nach Hause gefahren.“

Nun wurde Nancy richtig wütend.

„Was ist denn das für ein Freund?“

„Du, Holger wollte sogar einen Krankenwagen rufen, aber das wollte ich nicht. Die Besitzerin des Hundes hat mich dann zum Auto begleitet.“

Schlagartig wurde Nancy hellhörig und etwas packte sie, was sie nicht kontrollieren konnte.

„Du weißt, wie sehr ich es hasse, wenn mich jemand anlügt. Wo bist Du jetzt?“, fragte sie energisch.

„Ja, das weiß ich. Ich bin alleine bei mir zu Hause. Du kannst ja gerne zu mir kommen, wenn Du willst.“

„Sorry, so war es nicht gemeint, Chris. Ich vertraue Dir doch, aber das klingt schon sehr merkwürdig“.

„Ja, etwas ungewöhnlich war unser Gespräch auf dem Weg zum Auto dann schon. Obwohl wir uns ja gar nicht kannten, sprachen wir über Zufälle und den Sinn des Lebens. Zum Abschied gab sie mir ihre Karte. Darauf steht »Lebensberaterin«, was immer das auch heißen mag.“

„Und, wirst Du sie wiedersehen?“

Wieder wallten Gefühle in Nancy, die ihrer Stimme einen ungewollt aggressiven Ton verliehen.

„Sie erwähnte etwas von Angeboten und Seminaren. Aber ehrlich Schatz, an der Frau habe ich kein Interesse.“

Nancy fühlte die Wahrheit in seiner Stimme und beruhigte sich.

„Wir können ja nochmal darüber reden. Bring doch ihre Karte mit, dann können wir sie googeln.“

Christoph war erleichtert, dass er beschlossen hatte ihr diese Geschichte zu erzählen. Außerdem hatte es ihn wirklich interessiert, was Nancy zu diesen Themen meinte. Vielleicht konnte daraus etwas Gemeinsames entstehen, was wieder »Leben« in ihre Beziehung bringen würde.

Manchmal musste man eben erst fallen, um wieder aufstehen zu können.

2 US-amerikanische Fantasy-Fernsehserie von David Benioff und D. B. Weiss für den US-Kabelsender HBO, 2011-2019

Das Theater in mir

Подняться наверх