Читать книгу Das Theater in mir - Ralf Michael Pape - Страница 16

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Die Nachricht

Der alte rostrote Vorhang beendete die Szene im Wartezimmer, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Ha, ein Vorhang mit Wimpern“, kam ein kurzer Anflug von Humor.

Dann Schnitt, alles sauber im Kasten des Lebens. Keine besondere schauspielerische Leistung, keine Szene, an die sich jemand erinnern würde. Keine Höhen, keine Tiefen und keinerlei Gefühle, die Lebendigkeit in diesen Akt des Theater-Stücks gebracht hätten.

Als der wimpernlose Vorhang wieder nach oben ging, saß ihnen ihr Hausarzt gegenüber, der mit ausdrucklosen Augen nur kurz aufsah, um weiter in dem Bericht zu lesen, der auf seinem penibel aufgeräumten, sterilen Schreibtisch lag.

Als Sicherheitsbeauftragter des Ensembles stand es Jaison zu, das Gespräch mit dem Arzt zu führen.

„Ich habe leider keine guten Nachrichten für Sie, Herr Pracht.“

Seine Miene zeigte ein aufgesetztes, professionell wirkendes Mitgefühl. Schon häufig hatte er solche Nachrichten bereits überbringen müssen. Als junger Assistentsarzt zerriss es ihm jedes Mal beinahe das Herz, und damals wurde ihm klar, dass er sich selber schützen musste. Durch Gespräche mit älteren Kollegen fand er diesen Schutz in der kühlen Professionalität und in einem Repertoire an Phrasen und vorgefertigten Sätzen, um das tun zu können, was immer wieder seine Aufgabe war. Menschen zu sagen, dass sie vielleicht bald sterben werden.

„Die Befunde sind eindeutig. Sie haben einen bösartigen Darmkrebs. Es tut mir wirklich leid. Wir werden operieren müssen mit anschließender Chemo-Therapie. Wenn er nicht gestreut hat, werden sie es überleben, da bin ich mir sicher. Alles Weitere werden wir dann sehen. Haben Sie noch Fragen, Herr Pracht?“

Jaison wurde übel. Er ließ sich auf den Boden der inneren Bühne sinken.

„Es war doch nur eine Routine-Untersuchung“, dachte er schockiert.

Die anderen Darsteller kamen auf die Bühne geeilt, und alle schauten hinüber zur Außenwelt, sahen auf dieses Gesicht mit der echten Nickelbrille und dem unechten Mitgefühl, das unbewegt auf eine Antwort wartete.

Damit hatten sie nicht gerechnet. Nach der leicht auffälligen Stuhlprobe wurde letzte Woche die angebliche Routine-Untersuchung durchgeführt, um die gesundheitliche Sicherheit wiederherzustellen.

„Machen sie sich keine Sorgen“, hatte derselbe Arzt noch gesagt.

Und nun hörte es sich an wie ein Todesurteil.

„Wie stehen meine Chancen?“, fragte Jaison den Arzt.

„Das kann ich jetzt noch nicht beurteilen. Ich weiß es wirklich nicht. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, würde ich sicherheitshalber meine Dinge regeln. Bitte verstehen sie mich richtig, das ist jetzt keine negative Einschätzung ihrer Chancen. Ich finde nur, das gehört dazu.“

Jakob hatte sich am besten unter Kontrolle. Er ging zu Jaison, half ihm auf die Beine und schickte ihn in den hinteren Bereich der Bühne. Für Jaison gab es momentan nichts zu tun. Mit einem Tumor im Körper konnte es keine Sicherheit geben.

„Danke, Herr Doktor, ich möchte jetzt sofort nach Hause. Das muss ich erst mal verdauen“, sagte Jakob.

„Machen Sie das. Wir melden uns, sobald wir den OP- Termin haben. Gute Besserung!“

Auf der Fahrt nach Hause herrschte auf der inneren Bühne novembergraues Schweigen. Bei allen Darstellern wehten die Gedanken wie Herbstdrachen in einem starken Wind, aber niemand sagte etwas. Wie bei einem drohenden Gewitter verdichteten sich dunkle Gefühlswolken und ein bedrohliches Donnern schien sich mit jeder vergehenden Minute zu verstärken.

Die Dimension dieser Nachricht war einfach zu groß. Sie wirkte unfassbar und unwirklich, wie eine Geschichte über einen anderen Menschen.

Jakob hatte Janek zu sich nach vorne gerufen, denn in dieser Situation brauchte er unbedingt Unterstützung. Janek war dafür bekannt, die Kontrolle zu behalten, was immer auch passierte. Zusammen schafften sie es, unfallfrei nach Hause zu kommen, und einem ersten Impuls folgend gingen sie zurück ins Bett. Sie zogen sich die Bettdecke über den Kopf, wie sie es schon als Kind getan hatten. Hier fühlten sie sich etwas sicherer, aber insgeheim wussten sie, dass sie nicht ewig unter der Bettdecke bleiben konnten.

Alle Darsteller waren auf der Bühne, denn es war ja jeder von dieser Nachricht betroffen.

Langsam ging Janis in Richtung der Kontaktlinie. Er war der Ängstliche unter ihnen und zitterte am ganzen Körper. In seinen Augen spiegelte sich bereits der Tod.

„Das ist das Ende“, hauchte er.

Seine Worte verstärkten die Gefühle der Angst und der Resignation, die sich wie eine große Last, wie ein schwerer Nebel auf die Bühne legten, um alles Leben ganz langsam zu ersticken.

Janis konnte diese Last nicht mehr tragen. Wie ein Häufchen Elend saß er nun zitternd auf diesen Brettern, die doch die Welt und das Leben bedeuten sollten und nicht Abschied und Tod.

„Das ist bestimmt eine Fehldiagnose“, kam eine Stimme aus dem Hintergrund.

„Wir sollten weitere Meinungen einholen und uns nicht nur auf einen Arzt verlassen.“

„Scheiße, wir haben Urlaub auf den Malediven für nächstes Jahr gebucht. Was wird denn daraus? Bekommen wir das Geld zurück?“, meinte ein anderer, sehr materialistisch eingestellter Darsteller.

„Es tut mir so leid für Mama und Papa“, sagte Jakob leise mit belegter Stimme. „Ihr größter Wunsch war es, dass ihr einziger Sohn ihnen Enkelkinder schenken würde. Sie haben trotz meines Alters immer noch darauf gehofft.“

In einem Reflex zog der Körper die Beine an den Bauch. In dieser Embryo-Stellung konnte er die ans innere Ufer rollenden Gefühlswellen etwas besser aushalten.

Nur weinen konnte der Körper nicht, es floss keine einzige Träne über das äußere Gesicht, denn das hatte Janek unter Androhung von drastischen Maßnahmen »ein für alle Mal« verboten.

„Oder wollt ihr, dass wir sterben? Die Kontrolle behalten und keine Gefühle zeigen!“, sagte er immer in schwierigen Situationen, wenn starke Emotionen sie zu überwältigen drohten.

„Nur so können wir überleben.“

Keiner der anderen Darsteller konnte sich erinnern, warum Janek diese Aufgabe übernommen hatte, aber scheinbar war diese Taktik erfolgreich, denn sie hatten überlebt.

Nur Janek selbst hatte noch verblasste Erinnerungsfetzen an Erlebnisse aus seiner Kindheit, in denen das Zeigen von Gefühlen und vor allem das Weinen einer Kapitulation gleichkam und von anderen gnadenlos ausgenutzt wurde, um verbal oder physisch draufzuhauen.

„Guck mal, voll die Heulsuse“, hörte er in seiner Vorstellung, wie sich andere Kinder über ihn lustig machten.

Die Gefahr, aus der Gemeinschaft verstoßen zu werden, war plötzlich wieder spürbar. Es fühlte sich an, als wäre er in Lebensgefahr.

Wie ein Stromschlag durchzuckte ein großer Schmerz das gesamte Theater. Es schien, als wären alte Emotionen zu neuem Leben erwacht, und Janek beschimpfte sich selbst, dass er diesen kurzen Gedanken, diese verblasste Erinnerung zugelassen hatte.

„Au, das tut so weh“, kam es von allen Seiten.

Er beeilte sich, die Erinnerung wieder in die kleine schwarze Kiste zu sperren, in der sie normalerweise sicher aufgehoben war.

Das musste in der Kiste unter Verschluss gehalten werden, denn die Erinnerungen waren untrennbar mit den alten Emotionen verbunden. Ließ man Erinnerungen heraus, kamen die Emotionen unweigerlich mit herausgekrochen, wie schwarze Schlangen aus einem dunklen Loch brachten sie die höllischen Schmerzen zurück.

Janek fühlte sich bestätigt. Es war wichtig, unter allen Umständen die Kontrolle zu behalten. Er nahm sich vor, künftig noch besser auf diese kleine schwarze Kiste aufzupassen, und verschloss eilig den Deckel.

Er hatte schon oft darüber nachgedacht, wie man diese gefährliche Kiste loswerden könnte, aber noch nicht mal ansatzweise eine Lösung gefunden.

„Boah, tut das weh! Ist ja kaum auszuhalten! Wie wäre es mit einem starken Drink? Das hilft bestimmt!“

Diese flehenden Worte kamen aus einer Darsteller-Gruppe vom linken Bühnenrand.

„Jakob, Jan, kommt bitte sofort zu mir und helft, dass wir einen klaren Kopf behalten.“

Janek wusste aus seiner langjährigen Erfahrung, dass er starke Verbündete an seiner Seite brauchte, vor allem wenn diese alten, unerträglichen Schmerzen hochkamen.

„Lasst uns gemeinsam überlegen, was wir zu tun haben. Was ist mit unseren Eltern? Ich schlage vor, wir behalten diese Nachricht erst einmal für uns, OK?“

„Ich bin auch dafür“, erwiderte Jakob und stellte sich demonstrativ neben Janek. Auch Jan war inzwischen zu ihnen gestoßen. Die Situation auf der Bühne war unübersichtlich, auch weil einige der Darsteller die aufkommenden Schmerzen eindämmen wollten, was erfahrungsgemäß am einfachsten und schnellsten mit Alkohol möglich war.

Der Schock war ihnen allen tief in die Kleider gefahren, und gemeinsam mit den starken Emotionen aus der schwarzen Kiste war auf der inneren Bühne ein großes Chaos entstanden.

„Wir machen jetzt eine ToDo-Liste, und anschließend gehen wir in unsere Stammkneipe“, versuchte Jakob alle Darsteller von seinem Plan zu überzeugen, doch er hatte nicht genügend Kraft, sich durchzusetzen. Wie bei einer kleinen Revolte drängten andere Darsteller in Richtung Kontaktlinie und übernahmen die nächsten Aktionen.

Als der Vorhang wieder aufging, saßen sie an der Theke und bestellten einen Whiskey. Hastig tranken sie, und die Schmerzen wurden mehr und mehr weggeschwemmt, um einer tiefen Traurigkeit Platz zu machen, die bereits an der Hintertür gewartet hatte.

Das Theater in mir

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