Читать книгу Ein letzter Gruß - Reiner Sörries - Страница 12

Genderspezifische Aspekte der anonymen Bestattung

Оглавление

Dass Männer und Frauen sich jeweils anders verhalten, belegt ein Blick auf die anonyme Bestattung, die gewissermaßen als Indikator für eine veränderte Bestattungs- und Friedhofskultur gelten kann. Da sie in den späten 1980er- und den 1990er-Jahren rasch an Akzeptanz gewann, steht sie gewissermaßen auch am Beginn des Wandlungsprozesses. Als man sich kritisch mit ihr auseinanderzusetzen begann, hielt man finanzielle Erwägungen für ausschlaggebend bis hin zur Diffamierung der Bevölkerung, der die Bestattung ihrer Angehörigen nichts mehr wert sei. Völlig unbeachtet blieben dabei geschlechtsspezifische Unterschiede in den Beweggründen für eine anonyme Bestattung. Es ist das Verdienst der Soziologin Nicole Sachmerda-Schulz und des Sozialwissenschaftlers Paul Sebastian Ruppel, auf diese Sachverhalte aufmerksam gemacht zu haben. Für ihre Forschung bedienten sie sich der Methode offener Leitfadeninterviews mit Personen, die sich für eine anonyme Bestattung entschieden hatten.

Bei der Wahl einer anonymen Bestattung, so die beiden Forscher, zeigen sich auffällige Differenzen zwischen Männern und Frauen: „Die Präsentation bzw. Repräsentation von Weltanschauungen und Werthaltungen stellt für die (männlichen) Interviewpartner eine Triebfeder für die Entscheidung für eine Anonymbestattung dar. Aussagen der (weiblichen) Interviewpartnerinnen indes verweisen darauf, dass diese Entscheidung primär einer pragmatischen und am sozialen Umfeld ausgerichteten Orientierung folgt.“29 Wählen Männer die Anonymität, so wollen sie vielfach tatsächlich ganz verschwinden („ein Verschwinden in der Masse“) und sehen darin eine bewusste antichristliche Haltung. So äußerte sich ein Befragter, dass das Grab als ortsgebundene Erinnerungsstätte religiöser Praxis entspreche, welche er ablehne: „Das ist für mich typisch christlich oder an bestimmte Religionen gebunden, und die sind für mich nicht relevant.“ Ein anderer präferierte ein anonymes Friedwaldgrab, weil er darin einen Gegenentwurf zum christlich konnotierten Friedhof sieht. Bemerkenswert ist zudem der Schluss, dass Männer diese quasi unsichtbare Form der Bestattung gleichzeitig als Manifestation ihrer Anschauung im öffentlichen Raum verstehen. Sie wollen damit etwas über ihren Tod hinaus ausdrücken.

Für Frauen spielten diese Gedanken, so Sachmerda-Schulz und Ruppel, eine eher untergeordnete Rolle. Sie orientieren sich bei ihrer Entscheidung eher an den Bedingungen ihres sozialen und privaten Umfeldes. Eine Frau erläuterte, die anonyme Bestattung sei eine pragmatische Alternative, um den Angehörigen Aufwendungen in Form von Zeit und Geld zu ersparen. Der Beweggrund, den Hinterbliebenen nicht zur Last fallen zu wollen, scheint demnach eher für Frauen maßgeblich zu sein, während er für Männer allenfalls eine untergeordnete Rolle spielt.

Frauen wiederum lassen sich zudem von der Sorge leiten, ihr Grab könnte dereinst ungepflegt sein und nicht ihren Vorstellungen einer Gedenkkultur entsprechen, wobei zusätzlich eine denkbare Verwahrlosung der Grabstätte die Angst vor den Blicken der anderen schürt: „… jeder guckt, diese Woche war die gar nicht aufm Friedhof und hat geharkt oder es wurden noch keine neuen Blumen gepflanzt und das Gesteck, na das ist bestimmt von Aldi oder so. Also da wird so richtig drüber hergezogen, und das ist was, was mir total gegen den Strich geht.“ Damit kann die anonyme Bestattung für Frauen eine Möglichkeit darstellen, sich den Konsequenzen der sozialen Normen und Konventionen in Bezug auf die Grabpflege zu entziehen.

„Die Interviewpartnerinnen messen dem Aspekt der Grabpflege bei der Bestattungsentscheidung eine zentrale Rolle bei. Zum einen sollen die Angehörigen mit einer anonymen und damit pflegefreien Bestattung entlastet werden. Zum anderen wollen sie mit dieser Entscheidung einem verwahrlosten Grab vorbeugen, das – beziehungsweise die Vorstellung davon – sie sich selbst nicht zumuten möchten. Durch die Bestattungswahl realisieren sie eine autonome Fortexistenz nach dem Tod, die sie, beziehungsweise ihre Grabstätte, unabhängig von Pflege durch Angehörige macht.“30 Dass für Frauen der Aspekt der Grabpflege eine zentrale Rolle spielt, korrespondiert mit einem traditionellen Rollenverständnis von Frauen, die eben für die Grabpflege zuständig sind. Männer ficht das weniger an, und sie beharren auf ihrer Rolle, das Heft des Handelns nicht aus der Hand zu geben.

Noch stecken die Forschungen zu den geschlechtsspezifischen Aspekten der Bestattungs- und Grabwahl in den Kinderschuhen, sie können aber jetzt schon zeigen, dass man nur durch ihre Berücksichtigung den Wandel der Trauerkultur besser verstehen kann.

Ein letzter Gruß

Подняться наверх