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I. Wandel der Bestattungskultur

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Nicht erst seit heute wird darüber diskutiert, interpretiert, manchmal sogar dämonisiert, was man inzwischen als Wandel der Bestattungs- und Friedhofskultur bezeichnet, nicht selten sogar als dynamischen Wandel, wie es ihn zuvor kaum gegeben hat. Es ist vom Verlust der Pietät die Rede, von einer Neuorientierung im Bestattungsverhalten, die sich ausschließlich an den Kosten orientiert. Man befürchtet gar ein Sterben der Friedhöfe, wie es exemplarisch in dem 2006 erschienenen Büchlein „Friedhof – ade?“ zum Ausdruck kam.1 Vielfach sind die Ursachen durchaus sachlich analysiert worden, und der allgemeine Wandel gesellschaftlicher Prozesse wurde als Auslöser dieser Entwicklung erkannt. Da sind die demografische Entwicklung, die beruflich bedingte Mobilität, der Bedeutungsverlust der Familie oder auch eine erstarkende Autonomie des Individuums, das sich mehr an den eigenen Bedürfnissen als an den gesellschaftlichen Konventionen orientiert. Eine monokausale Ursache darf ebenso wenig angenommen werden, wie eine Patentlösung für die ggf. daraus resultierenden Probleme nicht in Aussicht steht. Das gilt indes nicht nur für das Bestattungswesen, sondern für viele gesellschaftliche Bereiche, in denen Politik, Kulturschaffende, Sozialverbände und Soziologen um die Gültigkeit ihrer Analysen und Zielvorstellungen streiten.

Fragt man danach, wann dieser Wandel der Bestattungskultur mit welchen Folgen eingesetzt hat, so ist es durchaus erhellend, die deutschen Bischöfe zu befragen, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten drei Hirtenschreiben zu diesem Thema verfasst haben: 1994, 2005 und 2011. Diese Jahreszahlen markieren entscheidende Wendepunkte, die an ganz konkreten Phänomenen festzumachen sind.

1994 reagierten die Bischöfe mit ihrem Hirtenschreiben „Unsere Sorge um die Toten und die Hinterbliebenen. Bestattungskultur und Begleitung von Trauernden aus christlicher Sicht“2 auf die seit dem Ende der 1980er-Jahre zunehmende sogenannte anonyme Bestattung, die auch als Bestattung unter der grünen Wiese geläufig ist: „Seit Jahrhunderten bestehende Formen der Bestattung und der Begleitung der Angehörigen werden vielen fremd. Ein Zeichen für diese Entwicklung ist die Zunahme der sogenannten anonymen Bestattungen … Die Friedhofs- und Grabmalkultur sucht nach neuen Gestaltungsformen; neben das Erdbegräbnis als tradierte Bestattungsform – und an seine Stelle – tritt in den alten, ganz besonders aber in den neuen Bundesländern, immer mehr die Feuerbestattung; anonyme Bestattungen und Urnen-Beisetzungen auf See sind keine Seltenheit mehr: Mehr und mehr finden Beisetzungen der Verstorbenen in aller Stille und, unter Ausschluß der Öffentlichkeit, nur im engsten Familienkreis statt.“3

2005 ließen die Bischöfe ein weiteres Hirtenschreiben unter der Überschrift „Tote begraben und Trauernde trösten. Bestattungskultur im Wandel aus katholischer Sicht“4 folgen. Während sich die anonyme Bestattung ungeachtet des ersten Hirtenwortes längst etabliert hatte und auch von evangelischen wie katholischen Christen gewählt wurde, war 2001 mit der Eröffnung des ersten deutschen Friedwaldes im Reinhardswald bei Kassel aus Sicht der Bischöfe eine unchristliche Radikalisierung der Bestattungskultur eingetreten: „Die Konzeption des so genannten ,Friedwaldes‘ (freier, unumfriedeter Wald; völlig naturbelassenes Waldgebiet; Unsichtbarkeit des Urnenfeldes; Baumsymbolik; Anonymität; keine Grabpflege – die Grabpflege übernimmt die Natur) lässt zentrale Elemente einer humanen und christlichen Bestattungskultur vermissen.“5 Selbst wenn man diese schroffe Kritik nicht teilt, wird man die nun gegebene Möglichkeit einer Bestattung in der Natur als qualitative Steigerung des Wandlungsprozesses in der Friedhofskultur bezeichnen müssen. Alle, die beruflich mit dem Friedhof zu tun haben, mussten die Bestattung im Wald gar als substanziellen Angriff auf ihre ökonomische Grundlage empfinden. Den Friedhöfen gingen Gräber mit den entsprechenden Grabgebühren verloren, die Steinmetze mussten einen Rückgang an Grabmalaufträgen verkraften und die Friedhofsgärtner bekamen ebenfalls weniger zu tun, denn im Wald übernimmt die Natur die Grabpflege kostenlos.

War bereits mit dem Aufkommen der anonymen Bestattungen die Begrifflichkeit der alternativen Bestattung entstanden, so entwickelten sich erst im Zuge der Naturbestattungen weitere, echte Alternativen von der Luft- bis zur Diamantbestattung. Bis heute haben zwar die Verstreuung der Asche vom Ballon aus oder die Generierung eines Diamanten aus der Asche des Verstorbenen nur einen kaum messbaren Anteil an den Bestattungsarten, aber sie haben unterstützt durch ihre mediale Aufbereitung die Mentalität dahingehend verändert, dass man nun alles für möglich hielt. Selbst die Urne zu Hause war über den halblegalen Umweg über das grenzenlose, benachbarte Ausland und dienstbeflissene Bestatter zu einer Option geworden. Und es entstanden weiterhin sogar echte Alternativen in Gestalt der Urnen- oder Begräbniskirchen. In Aachen und Marl waren 2005 die ersten Kirchen, die man aufgrund der Zusammenlegung von Kirchengemeinden nicht mehr für die Messe benötigte, für die Beisetzung von Urnen geöffnet worden. Damit hatte die katholische Kirche eine Beisetzungsform erfunden, welche die vorausgehende Feuerbestattung voraussetzte, die man bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil 1963 noch für un- und antichristlich gehalten und den Gläubigen verboten hatte.

Dies nahmen die deutschen Bischöfe zum Anlass für ihr drittes Hirtenschreiben zur Bestattungskultur 2011: „Der Herr vollende an Dir, was er in der Taufe begonnen hat. Katholische Bestattungskultur angesichts neuer Herausforderungen.“6 Darin erklärten sie unter anderem, dass und wie sich das Bestattungsverhalten in der Gesellschaft verändert hat: „Die Bestattungskultur unterliegt … einem stetigen Wandel. Neue Formen entstehen, die der Mobilität der Menschen, der zunehmenden Vereinsamung im Alter, dem Rückgang der Religiosität oder auch dem Wunsch, den Nachkommen nicht zur Last zu fallen, geschuldet sind.“7 Weiter verwiesen die Bischöfe auf die nach wie vor als gültig erachtete Haltung, die Körper-Erd-Bestattung sei die menschlich und liturgisch angemessenere Form, doch akzeptierten sie nun die Kremation: „Bei aller kirchlichen Wertschätzung der Bestattung des Leichnams darf dies nicht zu einer pastoralen und liturgischen Abwertung der Feuerbestattung führen.“8

Schließlich formulierten sie eine Rechtfertigung für die Einrichtung der Urnenkirchen aus ökonomischen und theologischen Gründen: „An die Tradition kirchlicher Friedhöfe wird an einzelnen Orten angeknüpft, wenn Kirchen, die vor allem aus finanziellen Gründen nicht mehr gottesdienstlich genutzt werden können, zu Kolumbarien umgewidmet und umgestaltet werden. Sie können vor allem dort sinnvoll sein, wo es keine innerstädtischen Friedhöfe in kirchlicher Trägerschaft gibt. Solche Kolumbarien sind ein augenfälliges Zeichen einer Bestattung in der Nähe der Lebenden. Wenn ausnahmsweise im Kolumbarium die heilige Messe gefeiert wird, machen sie den Zusammenhang zwischen Begräbnis, Totengedenken und Eucharistie in besonderer Weise deutlich.“9

Diese neue Bestattungsmöglichkeit, die erstens nicht neu ist, denn während des Mittelalters war die Bestattung in Kirchen weit verbreitet, und zweitens in der Folge auch in der evangelischen Kirche als sinnvolle Alternative angesehen wurde, macht vollends die mentale Spreizung der Bestattungswünsche in der Bevölkerung deutlich. Schlug das Pendel zunächst in Richtung Natur aus, so erfolgte nur Jahre später die Gegenbewegung in Richtung Kultur. Der eine hält das grüne Dach der Wälder für beruhigend, der andere sucht für die letzte Ruhe das Dach der Kirche. Und irgendwo dazwischen liegen seitdem die Friedhöfe, die ihrerseits nun eine Alternative geworden sind.

Waren bis zu diesen Zeiten die Bestattungsmöglichkeiten in Deutschland durch ein rigides Gesetzeswerk auf die öffentlichen Friedhöfe eingeschränkt, so hält das 21. Jahrhundert nahezu alle Optionen offen. Die Menschen können wählen, wovon sie glauben, dass es ihren Wünschen, Vorstellungen und vor allem auch finanziellen Möglichkeiten entspricht. Mit den Naturbestattungen und den Urnenkirchen, auch mit der Seebestattung, die ebenfalls als weitere Alternative genannt werden kann, und mit den extravaganten Alternativen, die das liberalere Ausland eröffnet, war der ehedem gültige Friedhofszwang an allen Stellen perforiert. Den vorläufigen Schlusspunkt setzte 2014 die Bremer Bürgerschaft, die mit einem neuen Friedhofsgesetz den Friedhofszwang außer Kraft setzte.10 Nach dem Beschluss der Bremischen Bürgerschaft darf die Asche von Toten ab 1. Januar 2015 auch auf Privatgrundstücken oder besonders ausgewiesenen öffentlichen Flächen verstreut werden, wenn der Verstorbene dies zu Lebzeiten schriftlich so verfügt hat.

Innerhalb von zwei Jahrzehnten hatte sich in Deutschland die Bestattungskultur radikal verändert, und dieser Wandel, der von vielen als dynamisch bezeichnet wird, ist noch nicht an sein Ende gelangt. Eine politische Liberalisierung und eine wachsende Ökonomisierung des Bestattungswesens werden im Sinne einer multioptionalen Gesellschaft weitere Alternativen entwickeln. In der Ursachenforschung waren sich die beteiligten Experten von Kirche bis Gewerke nicht immer ganz einig, doch bekunden sie alle die Befürchtung, es handle sich dabei um einen Verlust religiöser und traditioneller Werte, denen man kritisch gegenüberstehen müsse. Dass die beobachteten Phänomene auch Chancen zu einer Neuorientierung bieten, wurde nur von wenigen in Erwägung gezogen. Dass sie sogar die notwendige Folge einer sich Gehör verschaffenden Einsicht in die Verschiedenheit der Menschen in einer säkularen, multireligiösen und individualisierten Gesellschaft sind, blieb aus den Überlegungen ausgeklammert. Noch hatte das, was unter dem Wissenschaftsbegriff der Diversity erörtert wurde, die Öffentlichkeit und erst recht die Diskussion um die Bestattungskultur nicht erreicht. Sie soll im Folgenden als ein Erklärungsmodell für den Wandel im Bestattungs- und Trauerverhalten dienen.

Denn während die Änderungen der Beisetzungsmöglichkeiten eigentlich nur äußerliche Phänomene beschreiben, hat sich viel schwerwiegender ein innerer Mentalitätswandel vollzogen, der die Trauer und ihre Bewältigung fortan bestimmt. Jeder und jede Einzelne denkt, fühlt und handelt nach inneren Einstellungen und Überzeugungen. Es ist schon richtig, dass der Wandel im Trauerverhalten schon von anderen mit einer zunehmenden Individualisierung erklärt wurde, hier soll diese Individualität weiter im Sinne von Verschiedenheit, eben von Diversity, präzisiert werden. Ausdruck von Individualität ist keineswegs ein Handeln gewissermaßen nach Gefühl und Wellenschlag, sondern Verschiedenheit ist von sehr konkreten Faktoren bestimmt. Indem ein Mensch als Mann oder Frau, als Trans- oder Intersexueller geboren wird, er innerhalb einer bestimmten Gruppe sozialisiert sowie beruflich und gesellschaftlich eingebunden ist, letztendlich religiös und weltanschaulich gepolt ist, bestimmt sich danach seine Lebens- und Verhaltensweise. Freilich kann diese durch gesellschaftliche Normen oder durch gesetzliche Regelungen eingeschränkt oder sogar unterbunden werden, doch ändert dies nichts an den grundsätzlichen Bedürfnissen. Fallen jedoch die Einschränkungen sozialer und politischer Natur, so können sie sich entfalten. Genau dies geschieht wie in vielen anderen Lebensbereichen nun auch in der Bestattungs- und Trauerkultur.

Ein letzter Gruß

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