Читать книгу Mysteriöse Museumsschätze - Reinhard Habeck - Страница 8
Kreative Geistesblitze
ОглавлениеDas Auftauchen des anatomisch modernen Menschen in Europa wird mit der ältesten archäologischen Kultur der jüngeren Altsteinzeit in Verbindung gebracht. Wissenschaftler nennen diese Epoche Aurignacien, benannt nach einem Dorf im französischen Département Haute Garonne, wo im 19. Jahrhundert in einer Höhle die ersten Funde gemacht wurden. In dieser Epoche vor bis zu 43.000 Jahren waren kreatives und abstraktes Denken bereits voll entwickelt. Inmitten der letzten Eiszeit entstanden damals einzigartige Kunstwerke: kunstvoll bemalte und gravierte Steine, farbenprächtige Höhlenmalereien, meisterhafte Reliefs, filigraner Schmuck, geschnitzte Musikinstrumente, formreiche Werkzeuge und erstaunliche körperliche Kleinplastiken. Die bis jetzt bekannten ältesten Belege stammen aus den Höhlen am Südrand der Schwäbischen Alb. Was dabei verblüfft, ist die Modernität der Relikte. Schon Pablo Picasso (1881 – 1973) erkannte beim Anblick eiszeitlicher Kunstwerke: „Uns ist seither nichts mehr Neues eingefallen!“
Dank vieler eindrucksvoller Funde sind die Anfänge der Kunst recht gut dokumentiert. Dagegen wissen wir über die genialen Künstler relativ wenig. Es gibt aus dieser Epoche der Altsteinzeit kaum Skelettreste. Nach jüngstem Forschungsstand könnten zwei Milchzähne aus der Grotta del Cavallo („Höhle des Pferdes“) im süditalienischen Apulien der älteste Nachweis für den modernen Menschen in Europa sein. Sie wurden in einer geologischen Schicht gefunden, die auf 45.000 bis 43.000 Jahre datiert wird. Zu diesem Ergebnis kam 2011 ein Wissenschaftsteam unter der Leitung des Departments für Anthropologie der Universität Wien. Die Zähne, die bereits 1964 gefunden wurden, sind mit modernsten Techniken der Zahnmessung sowie der „virtuellen Anthropologie“ neu datiert und bewertet worden. Als bislang älteste anerkannte Funde des europäischen Homo sapiens gelten Kieferstücke und Zähne aus der südfranzösischen Fundstelle La Quina im Département Charente.
Im Museum der Universität Tübingen aufbewahrt: Elfenbeinplastik eines Wildpferdes, hergestellt vor 40.000 Jahren in der Schwäbischen Alb
Seltener Fund aus Krems-Wachtberg, ausgestellt im Naturhistorischen Museum Wien: zwei Säuglingsbestattungen aus der Altsteinzeit
Ihr Alter wird mit 38.000 Jahren angegeben. Sie sind somit etwas jünger als die ältesten Eiszeitkunstwerke der Schwäbischen Alb. Wenn die kunstvoll gestalteten Hinterlassenschaften vom Homo sapiens stammen, wovon wir ausgehen dürfen, muss seine Einwanderung früher angesetzt werden, als das Fossilmaterial nahelegt. Wer mehr als Zähne sucht: In der Anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums in Wien lagern die am besten erhaltenen Überreste unseres direkten Vorfahren, der Gattung intelligenter „Jetztmensch“, in Europa. Die Knochen wurden im tschechischen Mladeč gefunden und sind 31.000 Jahre alt.
Ein anderer seltener Fund der Altsteinzeit kam 2005 auf dem Wachtberg in Krems an der Donau zum Vorschein. Er führt 32.000 Jahre zurück in die Vorzeit. Damals erlebte eine Siedlergruppe des Homo sapiens einen traurigen Tag: Zwei Säuglinge mussten zur Ruhe gebettet werden. Liebevoll legten sie die Toten in eine mit rotem Farbstoff aufgefüllte Mulde, gaben ihnen eine Kette mit Schmuckperlen mit ins Grab und bedeckten die zarten Körper mit einem Mammutschulterblatt. Es sind die ältesten Knochenfunde des modernen Menschen in Österreich.
Die Doppelbestattung zweier Kleinkinder ist eine absolute Rarität und gilt als archäologische Sensation. Bisher ist in Österreich erst einmal ein derart altes Grab gefunden worden: in Spitz an der Donau. 1896 wurde es allerdings von der Besitzerin des Grundstücks aus Aberglauben zerstört und in den Bach geworfen. Wie viele Kunst- und Kulturschätze der Menschheitsgeschichte wurden wohl durch Ignoranz und Fanatismus zerstört, weil ihre wahre Bedeutung nicht erkannt wurde? Welche Artefakte der Menschwerdung verschwanden in dunklen Kellerarchiven der Museen, sind von der Wissenschaft vergessen worden und warten auf ihre Wiederentdeckung? Ich behaupte: Es gibt unzählige Container, Wandschränke und Regale voll mit brisanten Artefakten.