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Journalist und Arbeiter in der Lokomotivenfabrik

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Ab dem Sommer 1930 arbeitete Lew Kopelew als Journalist bei der sogenannten Radiozeitung der „Charkower Lokomotivenfabrik Komintern“. Er hatte diesen Posten auf Betreiben von Freunden bekommen, die bereits festangestellte Mitarbeiter der Werkszeitung in diesem Betrieb waren.27 Die Fabrik war noch in der Zarenzeit gegründet worden und produzierte zunächst hauptsächlich Lokomotiv-Motoren für das sich rasch ausbreitende Eisenbahnnetz in Russland. Nach der Revolution wurden in dem Werk neben Lokomotiven auch Traktoren hergestellt und ab 1927 begann die Produktion von Panzern für die Rote Armee. Von der Serie der schnellen sowjetischen BT-Panzer wurden in der Charkower Fabrik bis Anfang der 1940er-Jahre gegen 8000 Stück gebaut. Dann begann die Herstellung des berühmten T-34 Panzers, der laut Einschätzung von Experten zu den besten Kampfpanzern zählte, die im Zweiten Weltkrieg eingesetzt worden sind. Das Charkower Werk wurde 1941 angesichts der herannahenden deutschen Streitkräfte in die Uralgegend evakuiert.

Die Lokomotivenfabrik entwickelte sich in der Zeit, als Lew Kopelew dort tätig war, in rasendem Tempo. Als er 1930 als 18-Jähriger eintrat, beschäftigte das Werk bereits 8000 Arbeiter, vier Jahre später waren es schon 30.000 Beschäftigte Die Fabrik existiert in der seit 1991 unabhängigen Ukraine weiter unter der Bezeichnung „Malyschew Fabrik“ (nach dem längst vergessenen Namen des sowjetischen Politikers und Industrie-Funktionärs Wjatscheslaw Malyschew, der 1957 an der Kreml-Mauer beigesetzt wurde). Doch heute ist das Werk nur noch ein Schatten seiner ehemaligen Größe. Seit dem Ausbruch des Krieges in der Ostukraine im Frühjahr 2014, bei dem Putins Russland lokale Separatisten aktiv unterstützt, werden in der Malyschew-Fabrik in größerer Zahl havarierte Panzer der ukrainischen Armee repariert.

Das „Radio Lokomotivenbauer“ verbreitete über Lautsprecher, die in allen Werkhallen, in der Kantine und sogar in einigen Häusern der Werksiedlung angebracht waren, drei Mal am Tag Nachrichten. Diese dienten selbstverständlich der staatlichen Propaganda und dazu gehörte die Anfeuerung zu erhöhten Leistungen, die Auszeichnung von vorbildlichen Arbeitern, Kritik an Produktionsmängeln, Rapporte über die Erfüllung von Tages- und Wochenplänen.

Am Anfang, beschreibt Kopelew seine Tätigkeit, habe er einfach Meldungen aus der ebenfalls im Werk hergestellten Tageszeitung „Der Charkower Lokomotivenbauer“ verlesen. Bald aber habe er in der Fabrik eigene Arbeiterkorrespondenten angeheuert und er ging selbst durch die Werkshallen, um eigene Informationen für seine Sendungen zu sammeln.28 Gelegentlich kam es zu Konkurrenzneid aufseiten der Werkszeitung gegenüber der Radio-Redaktion, weil Parteifunktionäre argumentierten, das Radio sei erfolgreicher als die gedruckte Zeitung bei der Verbreitung der von oben gewünschten Nachrichten. Schließlich wurde die Radiozeitung mit der Redaktion der gedruckten Zeitung verschmolzen.

Damit Lew Kopelew dort offiziell verantwortlicher Redakteur werden konnte, musste er Mitglied des Komsomol sein. Er stellte einen entsprechenden Antrag, doch das Komsomol-Komitee der Lokomotivenfabrik vermerkte bei der Prüfung seiner Akte, dass er erst im vorangegangenen Jahr „grobe politische Fehler“ begangen und sogar an „trotzkistischer Untergrundarbeit“ teilgenommen habe. Die Funktionäre entschieden, der junge Mann müsse erst „im Arbeitskessel gekocht werden“, bevor er in den kommunistischen Jugendverband aufgenommen werden könne.29

So wurde der Jungjournalist der Reparaturabteilung zugeteilt und arbeitete dort zuerst als Schlosser, dann als Dreher. Ob ihm die Arbeit an der Drehbank, der Umgang mit Feilen oder mit Werksmaschinen gefiel – auf diese Frage geht Kopelew in seinen Erinnerungen nicht ein. Aber man kann sich lebhaft vorstellen, dass ihm die politische und publizistische Tätigkeit wesentlich mehr am Herzen lag. Jedenfalls beschäftigte er sich neben der Arbeit in der Reparaturwerkstätte weiterhin mit redaktionellen Aufgaben für die Werkszeitung und die Wandzeitungen in den einzelnen Fabrikabteilungen. Er leistete während dieser Zeit also eine Art Zweischichten-Pensum. Um das zu bewältigen, übernachtete er meist im Redaktionsbüro.

Der beste Arbeiterkorrespondent für die Werkszeitung in der Charkower Lokomotivenfabrik war Ilja Frid. Er war mit seinen 35 Jahren fast doppelt so alt wie der 19-jährige Lew, als sie sich kennenlernten. Frid war ebenfalls ein überzeugter Kommunist, aber 1928 von der Partei ausgeschlossen worden, weil er als Arbeitervertreter in einer Fabrik in Odessa für ein oppositionelles Programm gestimmt hatte. Darauf ging er als Arbeiter nach Sibirien. Seine Frau, so berichtet Kopelew in seinen Jugenderinnerungen, hatte sich nach dem Parteiausschluss von ihm scheiden lassen und auch den Kindern verboten, ihm zu schreiben – was Frid ideologisch verstand und sogar für richtig befand.30

Die Parteifunktionäre in der Lokomotivenfabrik bedrängten Frid, angesichts seiner guten Leistungen als Arbeiterkorrespondent hauptamtlicher Mitarbeiter der Redaktion der Werkszeitung zu werden. Sie deuteten an, dass dies für seine Wiederaufnahme in die Partei nützlich sein könnte. Frid willigte schließlich ein. Er war, wie Kopelew schreibt, „der Älteste, der Erfahrenste und der Klügste von uns allen“.31

Die Betriebszeitung nahm in den frühen 30er-Jahren einen rasanten Aufschwung. Zu Beginn von Lews Tätigkeit in der Redaktion war sie nur dreimal wöchentlich erschienen, mit einer Auflage von 1000 bis 1200 Exemplaren. Innerhalb eines Jahres stieg die Auflage auf 10.000 Exemplare und der „Charkower Lokomotivenbauer“ wurde nun täglich verteilt. Der rührige Redaktionsleiter brachte sogar die Einrichtung einer eigenen Druckerei im Werk zustande. 1932 wurde Lew, gerade 20-jährig, zum Redakteur des Flugblatts „Udar“ (Stoß) ernannt. Dies war eine spezielle Publikation für die Abteilung der Panzerproduktion, für die besonders strenge Geheimhaltungsregeln galten. Manchmal wurden mehr als zehn „Udar“-Flugblätter pro Tag produziert.

Ob dieser publizistische Eifer die Produktion der Lokomotivenfabrik wirklich beflügelte, kann man bezweifeln. Denn wenn die Fabrikarbeiter sich mit Hochdruck ins Zeug legen sollten, könnte die Verteilung ständig neuer Flugblätter die Arbeiter in ihrer Konzentration auch gestört und abgelenkt haben. Lew Kopelew war von der Wichtigkeit seiner Arbeit fraglos überzeugt. Ein Foto aus dem Jahr 1932 im Erinnerungsband „Und schuf mir einen Götzen“ zeigt den jugendlichen „Chefredakteur“ des „Udar“, wie er mit Tintenfeder in der linken Hand, in der rechten eine Zigarette, den Text eines neuen Flugblatts redigiert. Auf dem eher schmächtigen Kopf trägt er ein orientalisch anmutendes Rundkäppi, die Haare sind kurz geschoren.

In der Redaktion des „Udar“ wurden anfangs immerhin drei, später sogar fünf Mitarbeiter beschäftigt. Im gleichen Jahr wurde Lew zusätzlich Redakteur der Zeitung „Bauarbeiter“, die einmal wöchentlich erschien. Dieses Blatt war für die Arbeiter an den Baustellen der rasch expandierenden Lokomotivenfabrik bestimmt. Fast ein Drittel unter diesen Bauarbeitern seien Häftlinge gewesen, die in Baracken hinter dem Werk wohnten, abgegrenzt durch einen Bretterzaun.32

Inhaltlich hielten sich diese Publikationen getreulich an die jeweils gerade geltende ideologische Linie des Stalin-Regimes. Kopelew und seine Kollegen waren überzeugt, dass die von oben verkündeten, immer schärferen Warnungen vor inneren und äußeren Feinden begründet waren. „Wir sahen ein, dass es nötig war, noch wachsamer zu sein“ und bei jedem, der abweichender Bestrebungen verdächtig war, „genau hinzuhören, hinzusehen und zu schnüffeln.“ „Wir wurden unsere und unserer Genossen freiwillige Zensoren.“33

Lew Kopelew

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