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„Ich wagte nicht, Mitleid zu empfinden“

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Doch die eifrigen Getreide-Eintreiber hatten noch wesentlich härtere Methoden, um widerspenstige Bauern zur Getreideabgabe zu zwingen. Wer trotz allen Zuredens nicht einlenkte, konnte vom Vorsitzenden des Dorfsowjets „ins Kalte“ gesperrt werden.45 Das war ein unbeheizter und daher im Winter eiskalter Arrestraum mit vergitterten Fenstern im Hause des Dorfsowjets. Dort wurden Männer und Frauen untergebracht, sie lagen durcheinander auf Stroh und mussten von ihren Angehörigen mit Essen versorgt werden. Laut Vorschriften durften solche Häftlinge nicht länger als eine Woche „im Kalten“ des Dorfsowjets bleiben. Manchmal habe man aber die Frist auch auf zehn Tage verlängert, fügt Kopelew in seinen Erinnerungen hinzu.

Am Ende eines solchen Arrests trieben die Dorfpolizisten „die durchfrorenen, schmutzstarrenden Leute in ihren zerrissenen Pelzen oder sackleinen Fetzen nach draußen“. Sie durften nach Hause mit der Auflage, umgehend das vorgeschriebene Getreide-Soll abzuliefern. Wer das nicht tat, dem wurde der Abtransport ins Gefängnis des Rayon-Hauptorts Mirgorod angedroht. „Dann geht’s ab nach Norden, Eisbären hüten. Da wird’s noch kälter“, warnte der Sowjet-Vorsitzende Waschtschenko die freigelassenen Elendsgestalten. Dass die Drohung mit der Deportation in den hohen Norden kein leeres Geschwätz war, dürfte den geplagten und verängstigten ukrainischen Bauern durchaus bewusst gewesen sein.

Übereifrige Sammelbrigaden schreckten im Zuge der Getreidebeschaffung auch nicht davor zurück, bei Razzien in noch nicht kollektivierten Bauernhöfen, in denen noch Getreideablieferungen ausstanden, alles zu beschlagnahmen, was irgendwelchen Wert hatte – Kleidung, Ikonen, Samoware, silberne Beschläge, kleine Bildteppiche, in Verstecken aufgefundenes Geld, eine Kuh, ein Pferd und Schweine aus dem Stall und sogar noch vorhandene Nahrungsmittel der Hofbewohner. Kopelew berichtet in seinen Erinnerungen, dass er und sein redaktioneller Stellvertreter Wolodja mehrmals bei solchen „Raubüberfällen“ dabei waren. Sie hatten den Auftrag, Listen von den Beschlagnahmungen aufzustellen, die dann an die „Genossen Chefs“ im weit entfernten Charkow weitergeleitet werden sollten.46 In kaum einem Fall dürften die ausgeraubten Bauern aufgrund solcher Listen ihr Eigentum je wieder zurückbekommen haben.

Es gibt indessen noch drastischere neuere Berichte über das rücksichtslose Wüten fanatisierter jugendlicher Brigaden in den ukrainischen Dörfern zu Beginn der 1930er-Jahre. So schildert der Historiker Timothy Snyder, gestützt auf ukrainische Quellen, in seiner umfassenden Darstellung über die verschiedenen Massenmorde unter Stalin und Hitler in den „Bloodlands“ (Blutgebieten) zwischen Deutschland und der Sowjetunion das Verhalten von Tausenden von jugendlichen Agitatoren bei den Kollektivierungs- und Getreidebeschaffungs-Kampagnen der Jahre 1932/33 wie folgt: „Wie eine Invasionsarmee lebten die Parteiaktivisten vom Land, nahmen, was sie konnten, und aßen sich satt, wodurch wenig übrig blieb, was ihre Arbeit und ihren Enthusiasmus bezeugen konnte, außer Elend und Tod. Vielleicht aus Schuldgefühl, vielleicht auch aus Triumphgefühl demütigten sie die Bauern, wo sie konnten. Sie urinierten in Fässer mit eingelegten Lebensmitteln, befahlen hungernden Bauern zu boxen, ließen sie wie Hunde kriechen und bellen oder im Schlamm niederknien und beten. Frauen, die auf den Kolchosen beim Diebstahl ertappt wurden, wurden ausgezogen, geschlagen und nackt durchs Dorf getragen. In einem Dorf betrank sich die Brigade in der Hütte eines Bauern und vergewaltigte nacheinander seine Tochter … Dies war der Triumph von Stalins Gesetz und Stalins Staat.“47

Lew Kopelew wurde, wie er 40 Jahre später bei der Niederschrift seiner Erinnerungen festhält, zumindest in bestimmten Momenten vom schlechten Gewissen geplagt, wenn er Zeuge von radikalen Willkürakten und Demütigungen gegen die meist wehrlosen Bauern und ihre Familie war oder auch selbst daran beteiligt war. „Ich hörte, wie die Kinder schrien“, beschreibt er die Szenen über rücksichtslose Beschlagnahmungen von Hausrat, Kleidern und den letzten Essensvorräten bei Bauern, die nicht genügend Getreide ablieferten, „wie sie sich dabei verschluckten, kreischten. Ich sah die Blicke der Männer: eingeschüchterte, flehende, hasserfüllte, stumpf ergebene, verzweifelt oder in halbirrer Wut blitzende.“

Und er fügt zu dieser bewegenden Schilderung hinzu: „Es war quälend und bedrückend, all dies zu sehen und hören, und noch bedrückender war es, selbst dabei mitzumachen. Nein falsch: Untätig zuzusehen, wäre noch schwerer gewesen als mitzumachen, zu versuchen, andere zu überzeugen, ihnen zu erklären und dabei sich selbst zu überreden. Denn ich wagte nicht, schwach zu werden und Mitleid zu empfinden. Wir vollbrachten doch eine historisch notwendige Tat. Wir erfüllten eine revolutionäre Pflicht. Wir versorgten das sozialistische Vaterland mit Brot. Wir erfüllten den Fünfjahrplan.“48

In Popowka, dem zweiten Dorf, in dem Kopelew mit seiner Wanderredaktion beim Einsatz in der Getreidebeschaffungs-Kampagne im Dezember und Januar 1932/33 längere Zeit einquartiert war, hatte man wie in anderen Dörfern in verschiedenen Gebäuden oder auch auf offener Straße eine Art Briefkästen „für Eingaben und Beschwerden“ montiert. In Wirklichkeit waren das Aufforderungen zur Denunziation, denn den Dorfbewohnern wurde ausdrücklich erklärt, dass jeder, der von verstecktem Getreide erfahre, dies umgehend auf einen Zettel schreiben und diesen in die dafür bestimmten Kästen werfen sollte. Unterschriften seien nicht nötig.49

Bubyr, der Vorsitzende des Dorfsowjets von Popowka, war für Kopelew das stärkste Vorbild eines aufrechten, selbstlosen Bolschewiken. Er trank nicht, rauchte nicht. Obwohl an Schwindsucht leidend, war er unermüdlich in seinem Einsatz und fand die raffiniertesten Getreideverstecke, die verzweifelte Bauern in ihren Höfen angelegt hatten, um den rücksichtslosen Beschlagnahmungen der Beschaffungstrupps zu entgehen. Bubyr konnte die Denunziationen in den Briefkästen – es waren während Kopelews mehrwöchigem Aufenthalt in dem Dorf nicht viele – souverän beurteilen. Er erkannte schnell, wenn jemand keine substanziellen Hinweise lieferte, sondern nur einen Nachbarn, mit dem er offenbar im Streit lag, in Schwierigkeiten bringen wollte. Auch von anonymen Verwünschungen gegen das Sowjetregime und deren unerbittliche Funktionäre ließ er sich nicht aus der Fassung bringen, darauf reagierte er mit Humor.

Doch Bubyr war entsetzt, als ein Parteisekretär aus Charkow namens Terechow in Popowka eintraf und – weil hier die Getreideablieferungen im Rückstand zu den Planzahlen lagen – kurzerhand befahl, Korn aus den genossenschaftlichen Kolchosen50 einzusammeln, und zwar Saatgetreide! Aus diesem Befehl werden zwei Dinge klar: Erstens, die Kampagne zur Getreideablieferung richtete sich nicht nur gegen die sogenannten Kulaken, also jene Einzelbauern, die bisher nicht bereit waren, sich und ihre Höfe einer Kolchose anzuschließen. Im Jahr 1932 waren bereits über 60 Prozent aller Bauern in Kolchosen getrieben worden.51

Auch die Kolchosen wurden unter schweren Druck gesetzt, einen hohen Anteil ihrer Getreideernte an den staatlichen Erfassungsstellen abzuliefern. Dass Parteifunktionäre von den Kolchosen verlangten, ausgerechnet große Teile ihres Saatgutes herauszurücken, zeigt, dass offenkundig in den Kolchos-Betrieben nicht genügend normales Getreide vorhanden war, um das Plansoll zu erfüllen. Diese katastrophale Maßnahme geht auf einen ausdrücklichen Befehl Stalins vom 5. Dezember 1931 zurück.52

Katastrophal war dieser Befehl, zweitens, auch deshalb, weil ohne oder mit vermindertem Saatgut ja zwangsläufig die Getreideernte für das nächste Jahr aufs Schwerste beeinträchtigt wurde. Die vom Kreml dekretierte Konfiskation von Saatgut war zweifellos eine der entscheidenden Gründe für die niedrigere Getreideernte des Jahres 1932 und – zusammen mit den erhöhten Quoten für die Ablieferungen an den Staat – die in breitem Ausmaß einsetzende Hungersnot in der Ukraine.

Bubyr, der Vorsitzende des Dorfsowjets von Popowka und Lews bolschewistisches Vorbild, war durch den Befehl zur Beschlagnahmung von Saatgetreide in den Kolchosen wie vor den Kopf geschlagen. „Er hatte sich an diesem Tag“, schreibt Kopelew, „verändert wie nach einer langen Krankheit. Das Gesicht war dunkler und noch hagerer geworden, die Augen trüb und düster.“53 Wie sollte man den betroffenen Kolchosniki diese Maßnahme erklären? Die hätten ja den Plan erfüllt und versteckten kein Getreide, „aber essen nun selbst schon Ölkuchen“ – genannt Makucha, ein Gebäck aus erfrorenen oder fauligen Kartoffeln, die normalerweise als Viehfutter verwendet werden. Und nun sollte man diesen Kolchosleuten „trotzdem die Haut abziehen und noch Enthusiasmus verlangen. Ich kann schon gar nicht mehr schlafen“, klagte der bisher so einsatzfreudige Dorfaktivist Bubyr.

Ende Januar oder Anfang Februar wurde Kopelew von der Werkszeitung der Lokomotivenfabrik wieder zurück nach Charkow beordert. Bei einem Zwischenhalt in der Stadt Mirgorod kamen die Agitatoren der Flugblatt-Redaktion in der Kantine des Parteikomitees zum ersten Mal nach langer Zeit wieder in den Genuss eines richtigen Mittagessens mit Kohlsuppe, Fleisch und Brot. Für die Weiterfahrt im Postzug nach Charkow gab man Lew und seinem Kollegen Wolodja (der Drucker und der Setzer waren wohl in Mirgorod zurückgeblieben) weitere Köstlichkeiten mit auf den Weg – Speck und Konserven, Fisch in Tomatensauce, Süßigkeiten. Dazu kauften sie sich sechs Flaschen Bier. „Wir feierten die ganze Nacht“, heißt es in Kopelews Erinnerungen.54

Kurz nach der Heimkehr in Charkow erlitt der junge Arbeiter und Flugblatt-Journalist einen schweren Anfall von Darm- und Gallenblasenentzündung, eine Krankheit, die ihn, wie er schreibt, nie mehr ganz loslassen sollte. Ob der Ausbruch dieser gesundheitlichen Schwäche mit der schlechten Ernährung in den vom Hunger geplagten ukrainischen Dörfern oder mit dem Ess- und Trinkgelage auf dem Heimweg zu tun hatte oder eventuell mit psychischen Belastungen während der aggressiven Getreidebeschaffungs-Kampagne zusammenhing, auf diese Fragen geht Kopelew in seinen Erinnerungen nicht ein.

Kopelew hat im zuerst verfassten Teilband seiner Erinnerungen („Aufbewahren für alle Zeit“) detaillierter geschildert, was er selbst gesehen hatte von dem grausamen Sterben während der Hungerkatastrophe: „Und in dem furchtbaren Frühling 1933, als ich die Verhungerten sah, die Frauen und Kinder – aufgedunsen, blau, kaum noch atmend, schon mit verlöschenden, tödlich gleichgültigen Augen; die Leichen, Dutzende von Leichen in Bauernpelzen, in zerrissenen Jacken, schiefgetretenen Filzstiefeln und Bastschuhen. Die Toten lagen in den Katen auf den Öfen, auf den Fußböden, im Schneematsch der Höfe in Staraja Wologda, unter den Brücken in Charkow. Ich sah es und verlor darüber nicht den Verstand, brachte mich nicht um, verfluchte nicht diejenigen, die Schuld hatten am Verderben ‚nichtbewusster Bauern‘.“55

Lew Kopelew

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