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Nadja – die erste Lebensgefährtin

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Am 14. Mai 1930 haben Lew Kopelew und Nadja Koltschinskaja geheiratet – Lew war etwas über 18-jährig, Nadja ein Jahr älter. Über die näheren Umstände ihrer Heirat, die Geschichte ihrer Beziehung, ihrer Wohnsituation in Charkow, darüber erfährt man in Kopelews Memoiren fast gar nichts. Das erstaunt, da er über einige andere Frauenbeziehungen während der Jahre im Krieg und im Gulag weniger zurückhaltend berichtet. Die Gründe für diese Diskretion sind nicht ganz klar. Möglicherweise haben sie damit zu tun, dass seine erste Frau, von der er sich bald nach seiner Entlassung aus der fast zehnjährigen Lagerhaft scheiden ließ, noch lebte, als Kopelews Erinnerungen erschienen (sie konnten in der Breschnew-Ära natürlich nicht in Russland publiziert werden, dennoch zirkulierten dort unter der Hand Exemplare der von Ardis Press in den USA in russischer Sprache veröffentlichten Bände).

Aber dass Nadja Lews „erste große, echte Liebe“21 war, das geht aus manchen Briefen hervor, die im Kopelew-Archiv an der Universität Bremen einzusehen sind. So schreibt Lew am 23. Juli 1929, ein Jahr vor der Heirat, aus Charkow in einem siebenseitigen, halb verzweifelten, halb schalkhaften Brief an seine „Nadjuscha“, die mit ihren Eltern in die Ferien ans Asowsche Meer verreist war, wie sehr er unter ihrer Abwesenheit leide, während er sich in der Sommerhitze auf die Aufnahmeprüfungen für die Universität vorbereite. Am Ende heißt es halb ernst, halb verschmitzt: „Die Revolution und Du, das ist das Wichtigste. Dann ich. Und dann alles andere. Ist das lustig?“ Später, als Gefangener in der Scharaschka, erinnert er sich, dass er in jenem Sommer täglich an Nadja geschrieben habe, „nicht immer einen Brief, doch mindestens eine Postkarte“.22

Nadjas Familie war ebenfalls jüdischer Herkunft, doch gemäß der Auskunft von Lena Kopelewa, der jüngeren Tochter von Lew und Nadja, die heute in Deutschland lebt, wurde der Glaube in der Familie nicht praktiziert. Lena verbrachte als junges Mädchen nach dem Krieg ihre Sommerferien öfter bei den Eltern ihrer Mutter in Kiew, wohin diese aus Charkow gezogen waren. Nach Lenas Erinnerung war ihr Großvater mütterlicherseits als Buchhalter tätig gewesen, doch lebte er bereits im Ruhestand, als sie dort in den Ferien weilte.23


Lew (dritter von links) und seine erste Frau Nadja Koltschinskaja im Freundeskreis, 1932

Wahrscheinlich aber hat die gemeinsame jüdische Herkunft die Eheschließung von Lew und Nadja erleichtert, zumindest was die familiäre Zustimmung von Lews Eltern betrifft. Man erinnert sich, dass Lews Mutter Sofja Borissowna bei Streitigkeiten mit ihrem Mann diesem immer wieder vorgehalten hatte, dass zwei seiner Schwestern sich hatten „taufen lassen“ und dessen Bruder Mischka obendrein mit einer „Schikse“, einer Nichtjüdin, verheiratet war. Dass Nadja es später, besonders als sie in Moskau zusammen in einem einzigen Zimmer wohnten, mit ihrer Schwiegermutter nicht leicht hatte, davon wird noch die Rede sein.

Lew Kopelew war Nadja schon in der Schule in Charkow begegnet. Jedenfalls schreibt er in seinen Erinnerungen, sie habe im gleichen Schulgebäude, in dem er die 7. Klasse absolvierte, die Abendberufsschule für Chemie und Warenkunde besucht.24 Doch damals, fügt er hinzu, „verachteten sie und ihre Freundinnen unsere Clique als ungebildet, frech, flegelhaft“.

Etwas ausführlicher hat Lew Kopelew erst 60 Jahre später in dem gemeinsam mit seiner zweiten Frau Raja verfassten Band „Wir lebten in Köln“ über seine junge Liebe zu Nadja Koltschinskaja geschrieben. Auf einer Reise nach Jugoslawien erfährt er im April 1988, dass Nadja unheilbar an Krebs erkrankt ist. Traurig erinnert er sich an ihr offenbar erstes verliebtes Stelldichein „an jenem Abend in Charkow im Waldpark … 11. Mai 1929. Und unser erstes Neujahr zusammen, 1930, und dann am 14. Mai das Standesamt.“25 Eine eigene Wohnung konnte sich das junge Ehepaar in Charkow ebenso wenig leisten wie später in Moskau. Offenbar wohnten die beiden in den Charkower Jahren bei Nadjas Eltern. Kopelew scheint die Wohnungsfrage nicht weiter bewegt zu haben, jedenfalls geht er in seinen Charkower Erinnerungen mit keinem Wort darauf ein.

Bald nach der Hochzeit, erinnert sich Lew, reiste das Paar in Begleitung eines „Wanderredakteurs“ einer Charkower Lokalzeitung nach Cherson, einer Hafenstadt im Mündungsgebiet des Dnjepr, etwa 30 Kilometer von der nordöstlichen Küste des Schwarzen Meeres entfernt. Dort hatte Nadja einen Anfall von Blinddarmentzündung. Der Redakteur machte sich aus dem Staub und ließ das mittellose junge Paar im unbezahlten Hotelzimmer zurück. Lew ging zum Kreiskomitee der Druckergewerkschaft und bat dieses, ihm in der Not Geld zu leihen. Die Bitte wurde abgelehnt. Lew reagierte – durchaus nicht zum einzigen Mal in seinem Leben – mit einem heftigen Wutanfall. „Ich brüllte, fuchtelte mit einem Stuhl herum und schrie: ‚Ich bring euch um und mach Selbstmord!‘ Da gaben sie mir zehn Rubel. Ich telegrafierte an Nadjas Eltern. Die schickten Geld fürs Hotel und Fahrkarten nach Charkow.“26

Nadja bildete sich als Chemikerin aus. Sie arbeitete im Labor der gleichen Lokomotivenfabrik in Charkow, in der Lew nach der Heirat als Werkjournalist und zeitweise auch als Schlosser und Dreher tätig wurde. Nach ihren Briefen und anderen Zeugnissen zu schließen, war die Naturwissenschaftlerin Nadja Koltschinskaja eher zurückhaltend-nüchterner Natur. Sie war nicht vom ungestümen, zeitweise blinden Revolutionsglauben beseelt wie ihr jugendlicher Lebensgefährte und scheint auch nicht im gleichen Maße dessen unerschöpfliches Interesse für Literatur, fremde Sprachen und Kulturen geteilt zu haben.

Doch ungeachtet solcher Unterschiede blickte Kopelew Jahrzehnte später mit Rührung auf die ersten Ehejahre zurück. Er erinnert sich an die Charkower Fabrik, „zu der wir frühmorgens zusammen mit der ersten Straßenbahn fuhren, an die Reisen aufs Land; und immer wieder an Jalta im Oktober 1932. Damals waren wir glücklich, das habe ich erst hinterher verstanden.“ Im gleichen Tagebucheintrag schreibt er aber auch von der „Angst, dem Schmerz um Nadja, von meiner Schuld, von der seelischen Erschöpfung“, die ihn quälen bei der Nachricht von der tödlichen Krankheit seiner ersten Frau.

Lew Kopelew

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