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Kiew – „die schönste Stadt der Welt“
(1912–1926)

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Kiew, die Hauptstadt der Ukraine am Dnjepr, wird die „Mutter der russischen Städte“ genannt. Die Kiewer Rus ist die älteste unter den ostslawischen Siedlungsverbänden. Ende des 9. Jahrhunderts hatte der Kiewer Fürst Wladimir sich nach dem byzantinischen Ritus taufen lassen und von hier aus breitete sich das orthodoxe Christentum über die ostslawischen Völker aus. Doch anders als Moskau konnte sich Kiew nach dem Ende der Mongolenherrschaft im 14. Jahrhundert nicht als Machtzentrum eines selbstständigen Reiches durchsetzen. Ein großer Teil der heutigen Ukraine wurde schon ab dem 14. Jahrhundert vom Königreich Polen-Litauen regiert. Nach der ersten Teilung Polens im 18. Jahrhundert fiel die Westukraine mit Galizien unter die Herrschaft der Donaumonarchie. Kiew und weite Gebiete der kosakischen Siedlungsgebiete im Süden bis zur Krim und zum Schwarzen Meer werden zum festen Bestandteil des weit expandierenden russischen Reiches.

Der Erste Weltkrieg und die Revolution in Russland lösten auch in Kiew gewaltige Erschütterungen und eine Serie verwirrender Machtwechsel aus. Der 1891 in Kiew geborene und dort aufgewachsene Schriftsteller und Arzt Michail Bulgakow beschreibt die chaotischen Jahre nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 in seinem Prosastück „Kiew – die Stadt“ wie folgt: „Was sich in dieser Zeit in der berühmten Stadt abspielte, fügt sich keiner Beschreibung. Es war, als sei eine automatische Bombe, wie bei Wells, unter den Gräbern der Fürsten Askold und Dir geplatzt.1 1000 Tage lang dröhnte und brodelte und loderte es nicht nur in Kiew selbst, sondern auch in seinen Vorstädten und Datschensiedlungen, 20 Werst im Umkreis … Nach Rechnung der Kiewer Einwohner erlebten sie achtzehn Umstürze. Einige der vagabundierenden Memoirenschreiber zählten deren zwölf. Ich kann genau mitteilen, dass es vierzehn waren; davon habe ich zehn persönlich miterlebt.“2

Genau zu Beginn dieser fieberhaften Umbrüche und kurzfristig wechselnden Eroberungen trifft im Februar 1917 die Familie von Sinowij Jakowlewitsch Kopelew und seiner Frau Sofja Borisowna in Kiew ein. Sie hat das Dorf Borodjanka, wo Vater Kopelew Kreisagronom war, fluchtartig verlassen – aus Furcht vor Gewalttaten und antijüdischen Pogromen nach dem Sturz des Zaren. Lew ist fünf Jahre alt, sein Bruder Alexander (genannt Sanja) zwei Jahre jünger.


Kiew um 1895, Blick auf den Boulevard Chreschtsatyk

Die Familie wohnt zuerst bei Verwandten der Mutter in der Dmitrjewskaja-Straße 37 in Kiew. In der gleichen Wohnung wohnte, so schildert Lew Kopelew im ersten Band seiner Erinnerungen „Und schuf mir einen Götzen“ auch die deutsche Hausbesitzerin, „die alte deutsche Madame Schmidt“. Dieser gehörte auch der „Cinematograph“, ein Kinobetrieb, in den der fünf- oder sechsjährige Lew gelegentlich hineingelassen wurde, weil dort seine frühere russische Kinderfrau, Polina Maximowna die Kasse bediente. Die alte Hausbesitzerin Madame Schmidt belegte in der Wohnung, in der die Kopelews wohnten, nur noch ein einziges Zimmer. Der kleine Ljowa hörte einmal seine Mutter über die Hausbesitzerin sagen: „Die Schmidtsche hat sich die Wohnung mit Juden vollgestopft, damit die Roten sie nicht enteignen.“3

In einem längeren Bericht in der ukrainischen „Komsomolskaja Prawda“ vom Mai 2012 – dem Jahr des 100. Geburtstags von Lew Kopelew – über das Haus Nr. 37 in der Kiewer Dmitrjewskaja wird als damalige Hausbesitzerin übrigens eine Ida Markowna Stein genannt, die Witwe des Ingenieurs und Baumeisters Wilhelm Stein, der dieses Haus auch gebaut hatte. Weshalb diese Hausbesitzerin in Kopelews Erinnerungen „Madame Schmidt“ genannt wird, ist vielleicht damit zu erklären, dass diese nach dem Tode ihres Mannes wieder ihren ursprünglichen Familiennamen übernahm.4

Gefahren für die Bevölkerung in Kiew drohte allerdings keineswegs nur von den bolschewistischen „Roten“, sondern von allen unter den zahlreichen Armeen und Machtgruppen, die nach dem Sturz des Zarenregimes gegen Ende des Ersten Weltkriegs und während des darauf ausbrechenden Bürgerkrieges die ukrainische Hauptstadt kürzere oder längere Zeit besetzt hielten. Es war eine überaus chaotische und gewalttätige Zeit. Zu den schnell wechselnden Besetzern gehörten zwischen 1917 und 1920 neben den bolschewistischen und den weißgardistischen Bürgerkriegsparteien auch die Truppen des ukrainischen Ultranationalisten Simon Petljura (er wurde 1926 in Paris von einem jüdisch-ukrainischen Anarchisten erschossen, aus Rache für die Ermordung seiner Familie) sowie die deutsche und die polnische Armee.

Im Spätherbst 1920, als Lew acht Jahre alt war, zog die Familie Kopelew von der Dmitrjewskaja- in die Rejterskaja-Straße, die näher beim Stadtzentrum liegt. Die neue Wohnung hatte vier Zimmer, doch die Familie musste in der Folgezeit mehrfach zusammenrücken, weil Rotarmisten einzelne Zimmer für sich requirierten. Die Roten hatten die polnischen Besetzer vertrieben, aber auch Plünderer, die in die Kopelew-Wohnung eingedrungen waren und Gold und andere Wertsachen verlangt hatten.5

Lew Kopelew

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