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Vorwort
ОглавлениеIn einem Zeitzeugengespräch, das in Bonn im Haus der Geschichte stattfand, wurde ich gefragt, welche Persönlichkeit mich in meinem über 50-jährigen Berufsleben in besonderer Weise beeindruckt und beeinflusst hat. Wenn man ein halbes Jahrhundert in bewegten Zeiten als Journalist im In- und Ausland unterwegs war, dann kommen eine Menge Begegnungen und Namen zusammen, von Willy Brandt, Helmut Kohl und Henry Kissinger über Heinrich Böll, Günter Grass, Arthur Miller bis hin zu Andrej Sacharow und Lech Walesa. Die Auswahl war groß, trotzdem war die Wahl für mich einfach. Der Mensch, von dem ich am meisten profitiert habe, war Lew Kopelew. Lew Kopelew – werden Sie sich vielleicht fragen. Vielen jüngeren Menschen ist er möglicherweise nicht mehr so präsent. Doch zu seinen Lebzeiten war Kopelew gerade in Deutschland eine prägnante Figur im öffentlichen Diskurs – vor allem wenn es um die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen ging.
„Verstand kann Russland nicht verstehen.“ Das geflügelte Wort des russischen Schriftstellers Fjodor Tjutschew zitieren wir im Westen gerne, wenn wir im Verhältnis zu Russland nicht weiterwissen. Im Gegensatz zu Tjutschew setzte der russische Germanist Lew Kopelew voll und ganz auf den Verstand, um Russland zu verstehen. Sein Credo lautete: Übereinander Bescheid zu wissen, ist die Voraussetzung für gegenseitige Achtung und ein gedeihliches Miteinander der Völker. Er selbst war dafür das beste Beispiel. Er besaß ein phänomenales Wissen über die Kultur und Geschichte nicht nur der Völker der damaligen Sowjetunion, sondern auch Mitteleuropas. Dementsprechend behandelte er Menschen anderer Kulturen und Nationen mit Großmut und Respekt. Ich kenne keinen Menschen, der aus eigener Erfahrung und Forschung so viel über das komplizierte Verhältnis der Deutschen und der Russen zueinander wusste wie Lew Kopelew.
Ich bin froh darüber, dass sich der Schweizer Journalist Reinhard Meier in das Abenteuer gestürzt hat, nach intensiven Recherchen in der Ukraine, in Russland und in Deutschland eine Biografie über den Brückenbauer und Aufklärer Lew Kopelew zu schreiben. Die Lebensgeschichte dieses Mannes ist ein Streifzug durch die dramatischsten Geschehnisse des 20. Jahrhunderts und das ständige Auf und Ab in den Beziehungen zwischen Ost und West. Wer das Buch liest, wird nicht selten Parallelen zur heutigen Zeit entdecken.
Reinhard Meier und ich waren zur gleichen Zeit Korrespondenten in Moskau. Das waren die 1970er-Jahre, die in der Politik als Zeit der Entspannung bezeichnet wurden. Von Entspannung haben wir westlichen Ausländer im damaligen Moskau wenig gespürt. Wir wurden wie Spione behandelt. Der sowjetische Geheimdienst hatte uns ständig im Visier. Die sowjetischen Medien waren reine Propaganda-Instrumente. Ein Spiegelbild der Wirklichkeit waren sie nicht. Eigene Erkundungen im Land konnten wir nicht unternehmen. Auf eigene Faust durften wir Moskau nicht verlassen. Kontakte zur Bevölkerung herzustellen, war wegen des überall präsenten Geheimdienstes kaum möglich.
Es gab nur wenige Sowjetbürger, die sich trauten, mit westlichen Ausländern zusammenzukommen. Meist waren es Vertreter der sogenannten Intelligenzija wie der Wissenschaftler Andrej Sacharow, der Schriftsteller Alexander Solschenizyn, der Musiker Mstislaw Rostropowitsch, die Dichterin Bella Achmadulina, der Theater-Regisseur Jurij Lubimow und der Germanist Lew Kopelew. Aufgrund seines enzyklopädischen Wissens war er ein besonders begehrter Gesprächspartner für Korrespondenten und Diplomaten. Ich war oft zu Gast bei Lew Kopelew und seiner Frau Raissa Orlowa, einer hochgebildeten Amerikanistin. Meist saßen wir nach russischer Gewohnheit in der kleinen Küche zusammen. Lehrreicher konnte kein Hörsaal sein.
Da Kopelew entschieden für die Wahrung der Menschenrechte eintrat, war er dem Regime ein Dorn im Auge. Er wurde auf üble Weise schikaniert und schließlich ausgebürgert. Für ihn eine Katastrophe, für uns in Deutschland ein großer Gewinn. Wir könnten ihn auch heute gut gebrauchen. In einer Zeit, in der die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen wieder einmal in eine Sackgasse geraten sind, wären Politik und Medien gut dran, wenn sie einen Menschen mit dem Kenntnisreichtum und der Lebenserfahrung von Lew Kopelew konsultieren könnten.
Fritz Pleitgen | Dezember 2016 |