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Polnische Erfahrungen und Esperanto-Begeisterung

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Den Sommer 1923, vor Lews Eintritt in die staatliche Schule, verbrachte die Familie Kopelew in einem Dorf namens Sobolewka in der Nähe der Stadt Winniza, etwa 260 Kilometer südwestlich von Kiew. Der Vater war dort in der örtlichen Zuckerfabrik beschäftigt. In dem Haus, in dem die Familie untergebracht war, wohnten polnische Familien, deren Kinder untereinander polnisch sprachen. Alle waren gläubige Katholiken. Lew freundete sich bald mit den polnischen Jungen an, sie nannten ihn Leon. Zwischen den polnischen Kindern aus der Zuckerfabrik und der barfüßigen, ärmlichen ukrainischen Dorfjugend gab es Spannungen und Kämpfe. Seine polnischen Freunde erklärten diese Auseinandersetzungen als Teil „des ewigen Krieges zwischen den polnischen Rittern gegen die ‚Bauernflegel‘, ‚Schismatiker‘, das ‚Vieh‘.“30

Weil Lew sich ukrainisch mit den Dörflern verständigen konnte und eine Menge ukrainischer Volkslieder kannte, gelang es ihm, auch mit einigen Dorfjungen ein freundschaftliches Verhältnis herzustellen. Inspiriert vom Gedankengut der Pfadfinder und der Jungen Kommunisten bemühte er sich, Frieden zwischen den beiden verfeindeten Parteien zu stiften, was ihm aber nicht so recht gelingen wollte. Eines Tages berichteten polnische Mädchen aufgeregt, dass im Dorfladen ein schreckliches Bild hinge, eine schreckliche Verhöhnung der Gottesmutter. Ganz aus eigenem Antrieb ging der elfjährige Lew hin zu dem Laden. Das große, gelbbraune Plakat hing an der Tür. Es zeigte „Lord Curzon mit schiefem Mund als Madonna und Tschernow als bärtiges Jesuskind“.31

Lew riss nach kurzem Zögern das Plakat ab, verbarg es unter seinem Hemd und lief möglichst unauffällig zu seinen polnischen Freunden zurück. Von diesen wurde er begeistert als Held gefeiert und von einigen Mädchen sogar geküsst. Das anstößige Plakat wurde feierlich verbrannt. Als die Familie Kopelew im Spätherbst 1923 aus Sobolewka abreiste, hatte Lew gelernt, polnisch zu sprechen und zu lesen. Er hatte die Bücher von Sienkiewicz und Mickiewicz entdeckt und mit seinen Freunden die polnische Nationalhymne „Noch ist Polen nicht verloren“ gesungen. „Dort, in Sobolewka, wurde ich für immer von der Feindschaft gegen die Polen geheilt“, die in Russland und in der Ukraine verbreitet war.32 Seine Polnischkenntnisse hat Lew Kopelew später auch als Frontsoldat beim Einsatz in den von den Hitler-Truppen besetzten polnischen Gebieten und dann nach seiner Verhaftung in den Durchgangsgefängnissen und während der Jahre im Gulag des Öfteren gut gebrauchen können.

Um das Erlernen fremder Sprachen und die damit möglich werdenden engeren Kontakte mit anderen Kulturen hat sich Lew Kopelew vor allem in jüngeren Jahren mit großem Eifer und idealistischer Neugier bemüht. Als er 1926 in die 6. Klasse der Kiewer Einheitsarbeitsschule Nr. 6 kam, besuchte er zusammen mit einigen anderen Schülern einen Kurs für Esperanto, den der dortige Lehrer für russische Literatur, Dmitrij Wiktorowisch, anbot. Lew war hingerissen von dieser Kunstsprache mit den überaus einfachen Regeln, die der im damals russisch besetzten Gebiet Polens lebende jüdische Arzt Ludwig Zamenhof, der selbst mehrere Sprachen beherrschte, geschaffen hatte. Ziel dieses neuen Idioms auf lateinischer Grundlage sollte eine vereinfachte Völkerverständigung und ein Abbau nationalistischer Gegensätze sein. Auf Esperanto verständigten sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mehrere Millionen Menschen. Die eifrigsten Anhänger gehörten dem Esperanto-Weltverband an, der Sennaziza Asozio Tutmonda (SAT).

„Es war ein großartiges Spiel – in ein paar Tagen eine Sprache zu lernen, die überall auf der Welt Menschen sprechen und schreiben“, schreibt Lew Kopelew in seinen Erinnerungen.33 Der Esperanto-Lehrer nahm die Schüler in die große Bruderschaft auf, er verschaffte ihnen Mitgliedsausweise des SAT-Verbandes – grüne Büchelchen, in denen Name und Vorname in lateinischen Buchstaben geschrieben waren. Dazu bekamen sie das Verbandsabzeichen: einen grünen, fünfstrahligen Stern im roten Kreis. Beim Esperanto-Lehrer Dmitrij Wiktorowitsch konnten die Schüler auch fremdländische Briefe und Postkarten mit exotischen Briefmarken aus London, Paris, San Francisco, Tokio usw. bestaunen. In jenen Jahren, in denen Radio und Fernsehen noch unbekannt waren, und in den sowjetischen Zeitungen nur langweilige stereotype Meldungen aus dem Ausland zu lesen waren, wirkten solche Korrespondenzen auf die wissbegierigen Schüler wie eine Offenbarung aus der großen weiten Welt.

Allerdings entdeckten die Esperanto-Jünger nach einiger Zeit, dass ihr Lehrer die Lehr- und Wörterbücher und andere Esperanto-Literatur mit Preisaufschlag an sie verkaufte. „Die begeisterte Verehrung wich Verachtung: Ein Spekulant.“34 Lew machte eine böse Karikatur über den Lehrer und jemand schmuggelte die Seite ins Klassenbuch. Der Lehrer reagierte auf diesen Affront ebenfalls mit einer verächtlichen Bemerkung über das „ekelhafte Geschmier“, sprach aber nicht aus, ob er genau wusste, wer der Sünder war. Offenbar wusste er doch Bescheid, denn von diesem Zwischenfall an wurde Lew nicht mehr ins Haus des Esperanto-Lehrers eingeladen und er wurde im Unterricht nicht mehr aufgerufen.

Die Ideale der Esperanto-Bruderschaft verblassen indessen allmählich vor der „klassenbewussten“ und parteilichen Voreingenommenheit der leninistisch-marxistischen Lehre, die Lew im Laufe seiner Schulzeit zunehmend beeinflusste. Auch wurde ihm, wie er schreibt, im Lauf der Jahre klar, dass eine künstlich konstruierte Sprache, wie rational sie auch gebaut sein mochte und wie idealistisch die zugrunde liegenden Absichten dieser Konstruktion auch sein mochten, „dennoch ein lebloses, papierenes Gebilde sein muss … echte Sprachen wachsen natürlich, sowohl im Wildwuchs wie gesetzesmäßig.“35

Immerhin hat Lew Kopelew selbst später noch neben deutschen auch Esperanto-Briefe mit Korrespondenten aus verschiedenen Ländern ausgetauscht. Unter den Briefpartnern waren Arbeiter, Studenten, Schüler, auch zwei Kaufleute, Kommunisten, Sozialisten, aktive Christen, sogar einen Anarchisten. Weil ihm dieses internationale Sprachenspektrum nicht genügte, begann er noch auf der Schule, sich selbst mit einem Lehrbuch Englisch beizubringen. In Charkow trat er 1931 als Arbeiter in der dortigen Lokomotivenfabrik trotz anstrengender Arbeit im Werk zusammen mit einem Kollegen ins Abendtechnikum für östliche Sprachen ein, um Farsi zu lernen.36

Während des Spanischen Bürgerkriegs 1936 – 1939 – die Kopelews lebten damals bereits in Moskau – solidarisierte sich Lew mit anderen politisch engagierten Freunden begeistert mit den Internationalen Brigaden, die aufseiten der Republik kämpften. Zusammen mit zwei Kommilitonen lernte er eifrig Spanisch. „Mehrmals schrieben wir an Stalin, Woroschilow und Michail Kolzow37 und baten, an die Front geschickt zu werden. Natürlich bekamen wir nie eine Antwort.“ Später, als Häftling in der Scharaschka, hat Kopelew damit angefangen, Chinesisch zu lernen.38

Lew Kopelew

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