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Die trotzkistische Hypothek

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In die unstete Zeit der literarischen Gehversuche und des Suchens nach einer konkreten beruflichen Perspektive nach dem Schulabgang (1927) und dem Eintritt in die Charkower Lokomotivenfabrik (1930) fällt im Frühjahr 1929 Lews erste ernsthafte Konfrontation mit dem stalinistischen Macht- und Polizeiapparat. Die Episode spitzte sich zwar für einige Tage dramatisch zu, ging aber für ihn zunächst verhältnismäßig glimpflich aus. Doch auch bei späteren Säuberungswellen wie 1935 in Charkow, vor allem aber nach seiner Verhaftung als Major der Roten Armee vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs wegen angeblicher Unbotmäßigkeiten gegen die Vorgesetzten und wegen „Mitleids mit dem Feind“ sollte Kopelew die bittere Erfahrung machen, dass ihm seine „trotzkistische Vergangenheit“ von den Anklage-Organen immer wieder vorgehalten wurde. In den willkürlichen Strafverfahren, bei denen er zu insgesamt fast zehn Jahren Haft im Gulag verurteilt wurde, ist der Hinweis auf seine trotzkistische Jugendsünde notorisch als Vorwand ausgeschlachtet worden.

Zum jugendlichen Aktivisten gegen Stalins zunehmend diktatorische Herrschaft in der sowjetischen Führungsspitze und zum zeitweiligen Verehrer des Gegenspielers Trotzki wurde der 17-jährige Lew hauptsächlich durch den Einfluss seines Cousins Mark Poljak. Mark äußerte sich zwar auch gegenüber Trotzki kritisch, doch das scheint die Zusammenarbeit der Cousins als Untergrund-Aktivisten nicht beeinträchtigt zu haben. Er war sieben Jahre älter als Lew und der Sohn seiner Tante Polina Borissowna, einer Schwester seiner Mutter. Mark hatte bereits sein Biologiestudium abgeschlossen und eine Broschüre mit dem Titel „Traum und Tod“ veröffentlicht. Lew verehrte den Cousin als „großen Gelehrten und Besitzer einer riesigen Bibliothek“.8 Genau genommen, schreibt Kopelew in seinen Erinnerungen, waren es aber nicht nur politisch-ideologische Gründe, die ihn zur Beteiligung an der revolutionären Konspiration veranlassten, sondern auch „derselbe Impuls“, der einige Jahre früher „unsere leidenschaftlichen Kriegsspiele oder das Kosaken- und Räuberspiel inspiriert hatte“.9

Mark wurde zusammen mit einigen seiner Freunde Anfang März in Charkow verhaftet. Kurz zuvor hatte er Lew angeheuert, um eine Handpresse der Marke „Amerikanka“, die in einem Koffer verstaut war, zu transportieren. Die Presse wurde offenbar für den Druck von oppositionellen Flugblättern gebraucht, die dann in Charkow konspirativ verteilt wurden. Lew musste das Gerät auseinander montieren, anschließend versteckte er die Teile bei verschiedenen Freunden. Am 29. März 1929 wurde auch er von der Polizei abgeholt, mitten in der Nacht. Die Mutter weinte, der Vater war blass und aufgeregt. Es gab eine Hausdurchsuchung, bei der alte Bücher von Trotzki und anderen früheren Größen der bolschewistischen Führung beschlagnahmt wurden, auch ein Buch Stalins über „Fragen des Leninismus“ in der Ausgabe von 1924, das nicht mehr zur aktuellen ideologischen Linie passte, war mit dabei. Konfisziert wurden außerdem Tagebücher und Notizhefte von Lew. Eine Aktentasche mit oppositionellen Flugblättern, auf die er sich während der Hausdurchsuchung geistesgegenwärtig gesetzt hatte, wurde nicht entdeckt.

Lew verbrachte zehn Tage im Gefängnis. Die Haftbedingungen waren erstaunlich großzügig. Schon am nächsten Tag konnte er ein Paket von seiner Familie in Empfang nehmen. Es gab jeden Tag Fleisch, jeden Morgen kam der fahrbare Kiosk vorbei, bei dem man Wurst, französische Brötchen, Süßigkeiten und Zigaretten kaufen konnte. Auch der Gefängnisbibliothekar kam täglich vorbei, bei dem man Bücher austauschen und Zeitungen kaufen konnte.10 Am dritten Tag kam es zu einer Gefängnisrevolte, bei der die Gefangenen ohrenbetäubenden Lärm veranstalteten und Parolen riefen wie „Wir verlangen den Staatsanwalt“, „Macht die Zellen auf“, „Es lebe der Genosse Trotzki, der Führer der Weltrevolution!“

Lew tat sich offenbar als Anführer hervor. Er wurde von Soldaten aus der Zelle abgeführt und für einen Tag im kalten Karzer im Keller eingesperrt. Es stank widerlich aus dem Fäkalien-Kübel und der Häftling rauchte die ganze Nacht.

Am 9. April 1929, seinem 17. Geburtstag, wurde der jugendliche Aufrührer entlassen, nachdem er unterschrieben hatte, die Stadt Charkow nicht zu verlassen. Die glimpfliche Freilassung hatte aber auch damit zu tun, dass Lews Vater die Bürgschaft für ihn übernommen hatte. Außerdem hatte sich ein alter Freund des Vaters, ein verdienter roter Militärführer im Bürgerkrieg, durch einen Telefonanruf beim ukrainischen Generalstaatsanwalt für Lew eingesetzt.11

Seinen Cousin Mark Poljak hatte die Repression ungleich härter getroffen. Er kam erst zwei Monate später aus dem „Politisolator im oberen Ural“ – einem Konzentrationslager für politische Gefangene – zurück, nachdem er offiziell jeglicher Opposition gegen das Stalin-Regime abgeschworen hatte.12 1935 wurde Mark zusammen mit anderen Freunden und Kollegen Lews erneut wegen angeblicher trotzkistischer Umtriebe verhaftet und zu drei Jahren Arbeitslager verurteilt. Diese Frist wurde später um weitere fünf Jahre verlängert. Er starb laut offizieller Mitteilung an die Familie am 7. Dezember 1944 im Alter von 39 Jahren in einem Lager im Gebiet Kolyma im fernöstlichen Sibirien. Gemäß späteren Nachforschungen wurde er schon Ende Oktober oder Anfang November 1937 im berüchtigten Lager auf den Solowezkji-Inseln im Weißen Meer erschossen.13 Dank der Bemühungen seiner Mutter wurde er 1959 posthum rehabilitiert. Auf diesen Prozess, von dem Lew Kopelew „wie durch ein Wunder“ – und auch dank der ihn dezidiert entlastenden Aussagen seines Cousins Mark – verschont wurde, soll später näher eingegangen werden.14

Im Mai 1929, einen Monat nach seiner Entlassung aus dem Charkower Gefängnis, ging Lew nicht nur aus taktischem Kalkül, sondern aus wachsender Überzeugung auf offene Distanz zu den Kräften der antistalinistischen Opposition. Eifrige Zeitungslektüre und leidenschaftliche Diskussionen unter jungen Revolutionsanhängern, aber auch Vorgänge an der Moskauer Parteispitze wie die sogenannte Entlarvung der „Rechtsabweichler“ Bucharin, Rykow und Tomskji bewogen ihn – neben anderen Einflüssen – zur Ansicht, dass die Generallinie der Partei unter Stalins Führung im Grunde doch richtig war, dass die ungeliebte NEP bald ausgespielt habe und nun im ganzen Land mit vollem Tempo der kommunistische Aufbau vorangetrieben würde.15

Vor allem aber, schreibt Lew in seinem Erinnerungsband „Aufbewahren für alle Zeit“, sei es seine Freundin und spätere Frau Nadeschda (Nadja) Koltschinskaja, in die er schwer verliebt war, gewesen, die ihn davon überzeugte, sodass er im Sommer 1929 freiwillig ins Stadtkomsomolzen-Komitee ging, um dort eine schriftliche Erklärung zur Abkehr von der Anti-Stalin-Opposition abzugeben.16 Da Nadja weniger direkt und leidenschaftlich in der Politik engagiert war als Lew, kann man vermuten, dass auf ihrer Seite nicht nur ideologische, sondern mehr noch pragmatische Überlegungen eine Rolle spielten, um Lew zu diesem Schritt zu bewegen. Ihr waren wohl die Gefahren, die Lews frühere Verbindungen zu den Trotzkisten weiterhin nach sich ziehen konnten, intensiver bewusst. Deshalb beschwor sie ihn zu diesem „Canossa-Gang“ – eine Charakterisierung, der Lew damals sicher heftig widersprochen hätte.

Der Vorsitzende der Komsomol-Kontrollkommission, Wolkow, empfing den reuigen Abweichler indessen keineswegs gerührt als verlorenen Sohn, sondern ziemlich barsch mit den Worten: „So. Hast es eingesehen. Was für einen Quatsch deine Genossen gemacht haben. Immerhin, besser spät als nie.“ Dann forderte ihn der Funktionär auf, die Namen aller Oppositionellen, die er kenne, und die Verbindungen zu ihnen säuberlich aufzuschreiben – „Trotzkisten, Dezisten,17 Leningrader, Sinowjewisten und so weiter“. Kopelew setzte sich an Wolkows Tisch und schrieb eine längere Liste auf. Er war damals fest davon überzeugt, dass man vor der Partei und dem Komsomol nichts verheimlichen dürfe. „Trotzdem unterschlug ich ein Dutzend Namen, notierte keinen, der noch nicht verhaftet gewesen, noch kein Mal ausgeschlossen, noch nicht ‚aufgefallen‘ war.“18

Lew schämte sich insgeheim bei dieser Geschichte: Einerseits unterschlug er ja die ganze Wahrheit gegenüber der Partei, andererseits war ihm klar, dass er sich noch mehr schämen müsste, wenn er auch jene Namen früherer Oppositioneller, die noch nicht ins Visier der Partei geraten waren, aufschreiben würde. Auch in den folgenden Jahren musste er als Werkjournalist in der Lokomotivenfabrik und später als Student am Moskauer Fremdspracheninstitut mehrfach schriftlich oder mündlich Beobachtungen über die politische Gesinnung bestimmter Arbeitskameraden oder sogenannte „Charakteristiken“ über einige Lehrer und ausländische Studenten abgeben. Begründet wurden solche Aufgaben mit der Notwendigkeit äußerster Wachsamkeit gegenüber getarnten Klassen- und Volksfeinden. „Heute weiß ich“, schreibt Kopelew in seinen Erinnerungen, „auch eine zutreffende Anzeige bleibt Denunziation. Heute sehe ich keinen essenziellen moralischen Unterschied zwischen einem Lügen-Zuträger und einem Wahrheitszuträger. Scham quält mich in Gedanken an all diese Probeaufgaben und meine damaligen geheimen Reflexionen darüber. ‚Doch die traurigen Zeilen wisch ich nicht weg.‘ (Puschkin)“19

Ein halbes Jahr nach seiner Gefängnishaft im April 1929 wurde Kopelew im Winter 1929/30 als Leiter und Lehrer einer Abendschule für Halbanalphabeten an der Eisenbahnstation Osnowa bei Charkow angestellt. Er unterrichtete Arbeiter des Eisenbahndepots und Frauen, die an der örtlichen Kantine beschäftigt waren. „Mein jüngster Schüler war ungefähr zehn Jahre älter als ich“, schreibt Kopelew in seinen Erinnerungen.20 Unterrichtet wurde nur an vier Tagen in der Woche. Lew blieb genug Zeit, als freier Mitarbeiter Meldungen, Artikel und poetische Texte für örtliche Zeitungen zu schreiben.

Lew Kopelew

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