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Das Schicksal der Gesinnungsfreunde

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Mitte Mai 1935 kehrte Kopelew aus Kiew nach Charkow zurück. Bei seiner Rückkehr, so schreibt er in seinen Erinnerungen, habe er erfahren, dass sein Cousin Mark Poljak zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt worden war. Ihm wurde die Mitgliedschaft in einer „konterrevolutionären trotzkistischen Organisation“ vorgeworfen. Ilja Frid, Kopelews zwölf Jahre älterer Redaktionskollege beim „Charkower Lokomotivarbeiter“ erhielt ebenfalls fünf Jahre. Dus Rabischanowitsch und Lew Rajew, die auch bei der Werkszeitung tätig waren, wurden mit je drei Jahren Lager bestraft.93

Alle diese Kollegen Kopelews wurden beschuldigt, einer „trotzkistischen Gruppe“ innerhalb der Werkszeitungs-Redaktion angehört zu haben. Kopelews Hinweis, dass er von diesen Verurteilungen bei seiner Rückkehr nach Charkow erfahren habe, ist insofern etwas widersprüchlich, als laut den Prozessakten von 1935 die Urteile erst im September und Oktober verhängt wurden.94 Möglicherweise wurden die Gerichtsurteile tatsächlich schon im Frühjahr 1935 gefällt, aber erst im Herbst von der zuständigen Instanz des sowjetischen Innenministeriums vollzogen.

Dass Lew Kopelew 1935 weder verhaftet noch verurteilt wurde, ist tatsächlich eine Art Wunder, wie der Charkiwer Menschenrechtsaktivist Jewgenij Sacharow im Zusammenhang mit seinen Recherchen in den Prozessakten aus jener Zeit festgestellt hat. Es bleibt schwer erklärbar, dass Kopelew bei der örtlichen Säuberungswelle gegen die angeblichen jungen Trotzkisten nur mit einem vorübergehenden Ausschluss aus dem Komsomol und der Universität davonkam, denn laut Prozess-Protokoll sagten Angeklagte aus, mit Kopelew in engerem beruflichen und teils auch privatem Kontakt gestanden zu haben.

Wie schon an anderer Stelle erwähnt, ist Mark Poljak 1937 im Straflager auf den berüchtigten Solowezkij-Inseln im Weißen Meer erschossen worden. Ilja Frid starb in einem Lager in Workuta im hohen Norden, nachdem seine erste Haftstrafe noch einmal um fünf Jahre verlängert worden war. Lew Rajew wurde 1965 rehabilitiert und lebte später in Rostow am Don.95 Dus (David) Rabischanowitsch wurde 1956 rehabilitiert. Er kam, wie Kopelew in seinen Erinnerungen berichtet, im Sommer 1957 nach Moskau und fand den Ende 1954 aus dem Speziallager Scharaschka entlassenen früheren Charkower Freund über die Redaktion einer Moskauer Zeitschrift.96

Auf einer Bank an einem Moskauer Platz (in sowjetischer Zeit eine verbreitete Praxis, um sich vor dem Abhör-Risiko zu schützen) sprachen sie anderthalb Stunden lang über ihre Erlebnisse und Erfahrungen. Rabischanowitsch wollte von seinem ehemaligen Redaktionskollegen Näheres über dessen Kriegserlebnisse wissen und weshalb er fast zehn Jahre im Lager verbracht habe. Kopelew lud den Jugendfreund ein, ihn später zu Hause zu besuchen.

Rabischanowitsch machte davon keinen Gebrauch und rief auch nicht an. Kopelew fand seine Adresse in Krasnojarsk heraus und schrieb ihm einen langen Brief, dessen Inhalt in seinen Erinnerungen nicht näher ausgeführt wird. Eine Antwort bekam er nicht. „Erst später, schreibt Kopelew, verstand ich: Er will und kann mir nicht verzeihen. Vielleicht verachtet er mich. Ich hatte mich ja von ihm abgewandt, von Frid, ihm und Lew (Rajew); hatte nicht versucht, ihn zu verteidigen, hatte ihre Angehörigen nicht besucht, ihnen nicht geschrieben, keine Pakete geschickt. Ich hatte zwar nichts Schlechtes getan, aber ich hatte ihnen auch nicht geholfen.“97 Er wusste, dass seine Freunde von der Werkszeitung „ehrliche sowjetische, parteitreue Menschen“ waren. „Und doch hatte ich mich von ihnen zurückgezogen aus Furcht und aus Berechnung: ihnen kann ich doch nicht helfen und für mich ist es gefährlich.“

Als eingeschworener Jungkommunist, so schreibt Kopelew Jahrzehnte später mit selbstkritischer Aufrichtigkeit gegenüber solchen menschlichen Schwächen und politischen Verirrungen, habe er sich nicht erlaubt, vor sich selbst zuzugeben, dass „Furcht und Berechnung“ der tiefste Grund seines damaligen Verhaltens war. „Nein, ich überzeugte mich und meine nächsten Freunde, vor denen ich nichts verheimlichte, dass es sich hier um eine höhere Notwendigkeit handle.“ Kopelew rechtfertigte damals seine Schwächen also mit dem Argument, er handle im Dienste übergeordneter Partei-Interessen. Für ihn als überzeugten Kommunisten, so bringt er es in seinen Erinnerungen auf den Punkt, hieß das Gebot damals: „Treue zum Götzen, an dessen Erschaffung ich selbst beteiligt gewesen war.“98

Dieses letztere Motiv wird später auch von Alexander Solschenizyn in seinem Roman „Der erste Kreis der Hölle“ bei der Beschreibung des Scharaschka-Häftlings und idealistischen Marxisten-Leninisten Lew Rubin – der leicht erkennbar viele Züge Lew Kopelews trägt – hervorgehoben. Dass dahinter auch ein weniger idealistisches Kalkül steht, nämlich Furcht und Berechnung, kommt bei Solschenizyns Rubin indessen nicht zum Ausdruck. Auf den Komplex Kopelew–Rubin wird später noch einzugehen sein.

Auch wenn die „Treue zum Götzen“ der Partei-Ideologie in jenen Jugendjahren nach Kopelews eigener Aussage die Regel war, so blieb diese Regel nicht ohne Ausnahmen. So erwähnt er in seinen Erinnerungen den Fall seines „ältesten Kindheitsfreundes in Kiew“, der im Terror-Jahr 1937 verhaftet wurde. Dessen Vater kam nach Moskau und erzählte Kopelew, dass seinem Sohn neben anderen Beschuldigungen auch „trotzkistische Beziehungen“ zu ihm vorgeworfen wurden. Kopelew schrieb darauf an den Staatsanwalt und legte ausführlich dar, dass sein Freund sich immer strikt an die Parteilinie gehalten habe und dass dieser es gewesen sei, unter dessen Einfluss er dann mit dem Trotzkismus gebrochen habe.99 Der Freund, dessen Name nicht genannt wird, kam 1940 frei – offenbar weil damals nach Jeschows Sturz100 der Terror vorübergehend nachließ und weil die Angehörigen und Freunde sich unermüdlich für ihn eingesetzt hatten.

Nach der Rückkehr aus Kiew regelte Kopelew an der Charkower Universität zunächst die Formalitäten für seine Wiederaufnahme, legte die Prüfungen für den dritten Jahrgang ab, besuchte aber keine Vorlesungen mehr. Dann ließ er sich exmatrikulieren und siedelte im Sommer 1935 mit Nadja und seinen Eltern nach Moskau über. Sein Vater war als Agronom in die Hauptstadt versetzt worden. Ob dieser Umzug mit der stalinistischen Repression seines Cousins und seiner Freunde und seinen eigenen zeitweiligen politischen Schwierigkeiten in Charkow zu tun hatte oder mehr mit materiellen Abhängigkeiten von seiner Familie – auf diese Fragen geht Kopelew in seinen Erinnerungen nicht ein.

Lew Kopelew

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