Читать книгу Lew Kopelew - Reinhard Meier - Страница 31

„Ich begann mich abzusetzen“

Оглавление

Im Herbst 1934 kam es an der Uni Charkow zu einer sogenannten Parteisäuberung, in deren eifrigen Dienst sich auch die Universitätszeitung stellte, bei der Lew als aktiver Mitarbeiter tätig war. Immerhin hatte er den Mut, den leitenden Redakteur bei einer Versammlung im Auditorium Maximum zu verteidigen, als diesem angeblich „fehlerhafte Artikel“ und bürgerliche Abweichungen vorgeworfen wurden.81

Am 1. Dezember 1934 wurde in Leningrad der dortige sehr populäre Parteichef und Mitglied des Politbüros, Sergej Kirow, ermordet. Er war einer der engsten Gefolgsleute Stalins. Die durchweg staatlich kontrollierten Zeitungen waren voll von Racheschwüren und Aufrufen zu noch mehr Wachsamkeit, Listen mit Namen der „zur Vergeltung“ Erschossenen wurden veröffentlicht. Die vom Regime später verbreitete Version, dass Anhänger des Sowjetführers Sinowjew die Drahtzieher des Kirow-Mordes seien, erschreckte den Studenten Kopelew zwar, aber er glaubte solchen Behauptungen.82 Derartige Anschläge angeblicher konterrevolutionärer Kräfte rechtfertigten seiner Meinung nach nicht nur die immer schriller werdenden Aufrufe zur Wachsamkeit, sondern auch die Terror-Praktiken Stalins zum Schutz der bolschewistischen Herrschaft.

Gestützt wurde diese Rechtfertigung überdies durch die außenpolitische Bedrohungslage: Im Westen war Hitler bereits zwei Jahre an der Macht und schien entschlossen, es mit seinen erklärten Ambitionen zur Erweiterung des „deutschen Lebensraums“ nicht bei bloßer Rhetorik bewenden zu lassen. Und im Osten drangen die Japaner immer weiter in China ein, womit sie näher an die sowjetischen Grenzen rückten. Gleichzeitig mit dem Einverständnis zur rücksichtslosen Bekämpfung von – angeblichen – Parteifeinden im Gefolge des Kirow-Mordes quälten Kopelew Gedanken an seine eigenen kurzen Verbindungen mit trotzkistischen Elementen vor sechs Jahren und es bedrückte ihn die Sorge, man könnte deswegen auch seiner ideologischen Linientreue misstrauen.83

Solche Sorgen waren durchaus nicht grundlos, wie sich bald herausstellte. Anfang 1935 war Kopelew in Charkow für einige Wochen zu seinen Eltern gezogen, nachdem seine Frau Nadja Koltschinskaja in den Winterferien zu ihren Eltern nach Kiew gereist war. Weshalb Nadjas Eltern inzwischen von Charkow nach Kiew übersiedelt waren, wird in Kopelews Erinnerungen nicht erklärt. Vermutlich hing das mit dem Umstand zusammen, dass ab 1934 Kiew wieder zur offiziellen Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik geworden war. Damit war auch der Umzug zahlreicher Ämter und Organisationen von Charkow in die historische ukrainische Kapitale am Dnjepr verbunden.

In den Wochen, in denen der Student Kopelew wieder bei seinen Eltern in Charkow wohnte, überraschten ihn zwei Freunde aus der Redaktion der Werkszeitung „Der Lokomotivenbauer“, David Rabischanowitz und Lew Rajew, mit der alarmierenden Mitteilung, dass ihr verehrter älterer Kollege Ilja Frid in den Hungerstreik getreten sei.84 Mit dieser Aktion protestierte Frid gegen seine Entlassung aus der Werkszeitung wegen des Verdachts möglicher früherer Verbindungen zur Sinowjew-Opposition, die angeblich den Kirow-Mord angezettelt haben sollte. Frid habe sich in seinem Zimmer eingeschlossen und schriftlich erklärt, er bleibe so lange im Hungerstreik, bis diese falschen Verdächtigungen aufgeklärt worden seien. Kopelew war tief erschrocken über diese Nachricht. Auch er galt ja wie Frid als „ehemaliger Oppositioneller“, wegen seiner „trotzkistischen Verirrungen“ vor sechs Jahren.

Einige Tage später erfuhr er, dass sein älterer Cousin Mark Poljak, unter dessen Einfluss er 1929 als 17-Jähriger in den Dunstkreis eines losen links-oppositionellen Kreises geraten war, wegen „antisowjetischer Umtriebe“ verhaftet worden war.85 Zwei Tage vorher, am 5. Februar 1935, war schon Lews früherer Redaktionskollege Frid in Untersuchungshaft genommen worden – offenbar während seines Hungerstreiks. Eine Woche später ereilte das gleiche Schicksal Lews Freunde Rabischanowitz und Rajew.86

Einige Tage nach der Festnahme seines Cousins Mark wurde Lew Kopelew aus der Universität und aus dem Komsomol ausgeschlossen, „wegen Verwandtschaft mit einem Trotzkisten“87 und wegen Verbindungen mit den „trotzkistischen Zentren“ in der Lokomotivenfabrik und in anderen Fakultäten der Universität. Über diese Ausschlüsse wurden auf einer Sitzung des Bezirks-Komsomolkomitees entschieden, bei der eine stickige, inquisitorische Atmosphäre herrschte und in deren Verlauf Dutzende von Personalfragen geprüft wurden.

Die Angeklagten hatten kaum die Möglichkeit, auf die meist absurden, verlogenen Beschuldigungen zu antworten. Kopelew schildert in seinen Erinnerungen die gegen ihn gerichteten demagogischen Tiraden des Sekretärs des Komsomolkomitees, mit dem er sich als Redakteur bei der Werkszeitung in der Lokomotivenfabrik zeitweilig ganz gut verstanden hatte, mit folgenden Worten: „Nun ist er hier im Rayonkomitee; hört euch an, wie er auf seine Bewusstheit pocht, wie er schwadroniert, dass er mit ganzem Herzen der Generallinie verschworen sei. Als ob wir nicht wüssten, wie die alle zu reden und zu schreiben verstehen: für die Sowjetmacht – vorwärts hurra! Aber was sie tun, ist das genaue Gegenteil – heimtückische Wühlarbeit, frechste Doppelzüngigkeit.“88 Der Versammlungsleiter ließ umgehend über Kopelews Ausschluss aus dem Komsomol und der Universität abstimmen, der Antrag wurde einstimmig angenommen.

Schon am nächsten Morgen hing in der Universität Charkow eine Verfügung des Rektors: Lew Kopelew sei „aus den Reihen der Studenten als unverbesserlicher Trotzkist ausgestoßen“.89 In seiner Verzweiflung wandte sich der Student per Telefon an den Bevollmächtigten des Geheimdienstes GPU im Lokomotivenwerk, Alexandrow, den er von seiner Tätigkeit bei der Fabrikzeitung näher kannte. Dieser schien ihm anfänglich zwar bei der Schilderung seiner Nöte mit einem gewissen Verständnis zuzuhören. Dann aber wies er die Argumente zur Verteidigung von Mark Poljak und seiner früheren Redaktionskollegen Ilja Frid, Dus (David) Rabischanowitz und Lew Rajew schroff zurück. Mit drohendem Unterton setzte der Geheimdienst-Mann ihm auseinander, was es wohl auf die Untersuchungsorgane für einen Eindruck mache, wenn sie erstens berücksichtigten, dass er mit dem „Trotzkisten“ Poljak verwandt sei und er sich auch noch für die früheren Redaktionskollegen einsetze, die schließlich nicht umsonst verhaftet worden seien.

„Ich erschrak. Ich begann ‚mich abzusetzen‘, sagte, ich hätte schon seit zwei Jahren keinen Kontakt mehr mit ihnen gehabt, bis auf die Begegnung im letzten Monat, als sie mir von Frids Hungerstreik berichteten“, so beschreibt Kopelew seine Reaktion auf diese Vorhaltungen.90 Sein Fall mit allen Unterlagen wurde schließlich an das übergeordnete Gebietskomitees des Komsomol übergeben. In diesem Gremium wurden die Vorwürfe wegen Kopelews angeblicher parteifeindlicher Verbindungen wesentlich ruhiger und fairer behandelt als im Rayonkomitee. Es wurden auch die „positiven Charakteristiken“ zitiert, die das Lokomotivenwerk über seine politische Tätigkeit verfasst hatte und in denen von seinem Kampf „gegen Trotzkismus und Rechtsabweichung“ die Rede war. Auch wurde in der „Charakteristik“ erwähnt, dass Kopelew „seine eigenen groben politischen Fehler, die er vor seiner Aufnahme in den Komsomol begangen hat, nicht verschwiegen“ habe.91

Ziemlich überraschend wurde Kopelews Ausschluss aus dem Komsomol wieder rückgängig gemacht. Er erhielt lediglich eine Rüge wegen „Nachlassen der Wachsamkeit“ – weil er in den letzten Jahren zu wenig auf die abweichlerischen Umtriebe seines Cousins Mark Poljak geachtet habe.

Der Rektor der Universität, mit dem Kopelew als Redaktionsmitglied der Universitätszeitung kurz zuvor zusammengestoßen war, weigerte sich indessen, den Studenten wieder an der Universität aufzunehmen. Um sich gegen diesen Ausschluss beim ukrainischen Volkskommissariat für Volksbildung zur Wehr zu setzen, reiste Kopelew im Februar oder März 1935 nach Kiew. Er blieb bis Mitte Mai in der Stadt seiner Kindheit und frühen Jugend und wohnte dort teils bei Verwandten und teils bei Freunden. Am längsten fand er Unterkunft bei der Familie einer Jugendfreundin, deren Namen Kopelew in seinen Erinnerungen nur mit Olja S. angibt. Ihr Vater, Iwan Fjodorowitsch S., hatte während des Bürgerkriegs nach dem Zarensturz aktiv auf der Seite der Bolschewiken gekämpft, nun war er in Kiew zum (ukrainischen) Volkskommissar für Sozialversicherung aufgestiegen.

Iwan Fjodorowitsch fand offenbar Gefallen an dem politisch engagierten Jungkommunisten Kopelew. Er versprach, sich über seine parteiinternen Verbindungen für eine Revision von dessen Universitäts-Ausschluss in Charkow einzusetzen. Dies gelang nach einigem Zuwarten. Doch als ihn der junge Gast auch von seinen verhafteten Freunden und seinem Cousin Mark berichtete und sich über mögliche Hilfe für diese Fälle erkundigte, wies Iwan Fjodorowitsch dieses Ansinnen unter Hinweis auf die Notwendigkeit unerbittlicher Strenge gegenüber jedem Anzeichen von Opposition energisch zurück. Solche ideologische Linientreue verhinderte allerdings nicht, dass auch Iwan Fjodorowitsch S.,92 wie unzählige andere hohe Parteifunktionäre im Zuge der Stalinschen Säuberungen erschossen und seine Frau zu Lagerhaft verurteilt wurde. Kopelew erwähnt in diesem Zusammenhang, dass er und verschiedene Freunde nach diesem grausamen Schlag sich bemühten, der Tochter Olja und ihrer jüngeren Schwester „so gut wir konnten“ beizustehen, „damit sie leben und studieren konnten“.

Lew Kopelew

Подняться наверх