Читать книгу Lew Kopelew - Reinhard Meier - Страница 24

Getreidebeschaffung und Hungerkatastrophe

Оглавление

Im Dezember 1932 bekam der 20-jährige Jungredakteur Kopelew von der Werkszeitung der Charkower Lokomitivenfabrik den Auftrag, mit einer sogenannten Wanderredaktion die Behörden im Rayon Mirgorod südwestlich von Charkow bei der Kollektivierung von Bauernbetrieben und der Eintreibung von Getreideablieferungen an den Staat zu unterstützen. Mit Flugblättern, die auf die aktuellen örtlichen Verhältnisse eingingen, sollte die sich sträubende bäuerliche Bevölkerung „angefeuert“ werden, sich den staatlichen Kolchosen anzuschließen und die vorgegebenen Pläne zur Getreideablieferung zu erfüllen.39

Für Lew Kopelew waren solche Kampagnen keine völlig neue Erfahrung. Schon vor seinem Eintritt in die Lokomotivenfabrik hatte er im Winter 1929/30 als „gewerkschaftlicher Aktivist und Spezialist für die Liquidierung des Analphabetentums“40 an Brigadeeinsätzen zur Beschleunigung der Kollektivierung und zur Vorbereitung der „ersten bolschewistischen Aussaat“ teilgenommen. Dabei hatte er beobachtet, wie unzählige Züge mit enteigneten „Kulaken“ und solchen, die sich gegen die Eingliederung in Kolchosen zur Wehr setzten, zur Strafverschickung in den hohen Norden oder nach Sibirien fuhren.

Der Ausdruck Kulak war damals im Russischen ein übles Schimpfwort. Als Kulak galt jeder Bauer, der mit der willkürlichen Enteignung seines Bodens nicht einverstanden war, egal ob es sich um einen größeren oder kleinen Betrieb handelte. Die Bolschewisten hatten die Parole ausgegeben, es gelte, „die Kulaken als Klasse zu liquidieren“. Insgesamt wurden im Zuge der gewaltsamen sowjetischen Kollektivierung etwa 1,7 Millionen Bauern nach Sibirien, Kasachstan oder den europäischen Norden deportiert, unter ihnen um die 300.000 Ukrainer. Dort mussten sie in sogenannten Spezialsiedlungen und Konzentrationslagern – die später zum Gulag-System zusammengefasst worden sind – Zwangsarbeit verrichten.41

Der junge Kopelew hielt die Kollektivierung und die gleichzeitig laufende Kampagne zu forcierten Getreideablieferungen für absolut richtige und notwendige Maßnahmen auf dem Weg zu einer idealen kommunistischen Gesellschaft. Grundsätzliche Zweifel am Sinn und der Legitimation dieser Aktionen plagten ihn nach seinen ersten Erfahrungen nicht – obwohl Stalin Anfang März 1930 in einem „Prawda“-Artikel mit dem berühmt gewordenen Titel „Schwindelig vor Erfolg“ gemahnt hatte, man habe die Einführung von Kolchosen in der Ukraine mit zu viel Überschwang vorangetrieben, man hätte die Bauern nicht in diese Kollektivwirtschaften zwingen sollen. Doch das war nur ein kurzes taktisches Rückzugssignal des Kremlführers gewesen. 1932 lief die Kollektivierung der ukrainischen Landwirtschaft und die staatliche Beschaffung von Getreide bei den Bauern wieder auf vollen Touren, härter und verbissener denn je – und zwar auf ausdrücklichen Befehl Stalins.

Die kleine Wanderredaktion, die im Dezember 1932 im Rayon Mirgorod mit Flugblättern in den „rückständigen Dörfern“ für eine bessere Planerfüllung bei den Getreideablieferungen an den Staat agitieren sollte, bestand aus einer vierköpfigen Truppe. Lew Kopelew war der „verantwortliche Redakteur“, sein Stellvertreter Wolodja kam ebenfalls aus Charkow. Ein Setzer und ein Drucker stießen in Mirgorod dazu. „Unsere ganze Habe passte mit uns zusammen auf einen großen Schlitten. Unsere Ausrüstung bestand aus ein paar Setzkästen, einer ‚Amerikanka‘-Handpresse und ein paar Sack schon in Bogen geschnittenes Papier“, schreibt Kopelew in seinen Erinnerungen.42 Mindestens jeden zweiten Tag produzierte dieses Team eine neue Ausgabe ihrer Flugblattzeitung. Darin wurde über die neuesten Zahlen zu den Getreideablieferungen berichtet, aber auch Vorwürfe an die „im Bewusstsein Zurückgebliebenen“ wurden erhoben und entlarvte Saboteure mit Flüchen bedacht.

Während des mehrwöchigen Einsatzes an der Getreidebeschaffungsfront waren Kopelew und sein Redaktionskollege Wolodja – zusammen mit einem Bevollmächtigten von der Geheimpolizei GPO, der eine Mauserpistole bei sich trug – offenbar die meiste Zeit zuerst im Dorf Petriwzy im Hof eines Einzelbauern und später im Dorf Popowka in einem Zimmer untergebracht. Dabei war die Herstellung von Flugblättern nach Kopelews Bericht nicht die Hauptbeschäftigung ihrer Agitationsarbeit. Jeden Abend wurden von den Aktivisten Versammlungen im Hause eines Bauern organisiert, der sein Ablieferungssoll nicht erfüllt hatte.43 Die Diensthabenden des Dorfsowjets sorgten dafür, dass alle, die mit ihren Getreideabgaben im Rückstand waren – auch Vertreter aus den genossenschaftlichen Kolchosen –, an diesen Versammlungen teilnehmen mussten und diese ohne besondere Erlaubnis nicht verließen.

Diese nächtlichen Versammlungen, die Kopelew ausführlich und mit beklemmenden Details beschreibt, waren in Wirklichkeit eine finstere Mischung aus zermürbender ideologischer Indoktrination und handfesten Erpressungen. Sie dauerten mitunter bis zu drei Tagen, um die widerstrebenden oder auch nur vermeintlich verstockten Bauern derart weichzuklopfen, dass sie sich dazu bereit erklärten, sich für die Herausgabe des verlangten Getreides zu verpflichten. Die Aktivisten vorne am Tisch wechselten sich dann bei der Bearbeitung der Bauern ab und schliefen ein, ohne den stickigen Versammlungsraum zu verlassen.

Auch Lew Kopelew trat oft als Redner bei solchen Versammlungen auf. Er sprach davon, wie schwer das Leben der Arbeiter in den Städten, in den Fabriken und auf den Baustellen sei, dort müssten die Frauen Schlange stehen, es gebe nicht genug Brot. Deshalb müssten die Bauern unbedingt die staatlichen Ablieferungspläne für Getreide erfüllen. Er erzählte auch von den Feinden, die danach trachteten, die Sowjetherrschaft zu Fall zu bringen. „Ich sagte nur, was ich selbst glaubte“, schreibt Kopelew über seine damaligen Auftritte und fährt dann fort: „Und jedesmal riss es mich hin – ich schrie, ich fuchtelte mit den Armen … Selbstverständlich beschimpfte ich alle Kulaken und ihresgleichen, verfluchte sie und drohte ihnen mit der Verachtung des Volkes, dem Hass und dem strafenden Schwert des Proletariats, das alle treffen werde, die böswillig oder aus Unwissenheit Getreide versteckten.“44 Der Geheimdienst-Vertreter war zwar bei diesen Versammlungen häufig mit dabei, saß aber selbst nicht mit am Tisch der Redner, sondern zur Beobachtung weiter hinten im Raum und ergriff auch nie selbst das Wort. Den jungen Aktivisten Kopelew lobte er nach dessen Erinnerung mit den Worten: „Schön hast du wieder gesprochen. Das mit dem strafenden Schwert ist richtig. So muss man auf die Massen einwirken.“

Der Vorsitzende des Dorfsowjets von Petriwzy, Waschtschenko, war für Kopelew eine Art Lehrer, wenn es darum ging, mürrische und verstockte Bauern zur Einhaltung ihrer Getreideablieferpflichten zu drängen oder schlicht zu erpressen. Immer wieder appellierte er an die übermüdeten Versammlungsteilnehmer, vorzutreten und die Bereitschaft zur freiwilligen Abgabe zu erklären. Wer dies tat, wurde in großen Tönen gelobt, durfte nach Hause und endlich schlafen. Und am nächsten Tag war dann in Kopelews Flugblatt-Zeitung zu lesen: „Ruhm dem rechtschaffenen Landmann, der den Weg der Pflichterfüllung gegenüber dem Volk beschritten hat. Folgt seinem Beispiel!“

Lew Kopelew

Подняться наверх