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Holodomor – im Schatten der Geschichte

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Wie viele Millionen Menschenleben die ukrainische Hungerkatastrophe von 1932/33 tatsächlich gefordert hat, ist nicht eindeutig geklärt. Kopelew schreibt in seinen Erinnerungen, es seien nicht weniger als 6 Millionen durch Hunger und Zwangsmaßnahmen umgekommen. Er stützt sich dabei auf einen nicht näher identifizierten Wissenschaftler, der lediglich die Materialien der sowjetischen offiziellen Statistik ausgewertet habe.69 Diese Zahl scheint sich aber auf die ganze Sowjetunion in jenen beiden Jahren zu beziehen. Snyder nimmt, ausgehend von Angaben der heute unabhängigen Ukraine, eine Zahl von 3,3 Millionen Toten in den beiden Hungerjahren allein in diesem Gebiet an. Von diesen Opfern seien etwa drei Millionen Ukrainer, der Rest Russen, Polen, Deutsche, Juden und andere.70

Was Kopelew in seiner Auseinandersetzung mit der ukrainischen Hungertragödie nicht erwähnt, ist das heikle, erschreckende Thema Kannibalismus. Kannibalismus sei noch immer weitgehend ein Tabu-Thema, in der Literatur und im Leben, stellt Snyder fest. Dass es als Folge der tödlichen Hungersnot in der Ukraine 1933 zu kannibalischen Verzweiflungstaten gekommen ist, ist durch erschütternde Bilder und Dokumente belegt.71 Mindestens 2505 Personen wurden gemäß solcher Unterlagen 1932/33 wegen Kannibalismus verurteilt, doch die Zahl der tatsächlich vorgekommenen Fälle lag zweifellos viel höher.

Es ist wenig wahrscheinlich, dass Kopelew als junger Aktivist bei der Getreidebeschaffung oder später durch Berichte von Bekannten und Verwandten nichts von diesem Kannibalismus-Horror der Hungerkatastrophe erfahren hat. Sein Vater, der als Agronom in jener Zeit weiter im Lande herumgekommen ist und im Gespräch mit seinem Sohn nach dessen Genesung im Frühjahr 1933 ja auch darüber klagte, er habe Dinge gesehen, die er sich nicht hätte vorstellen können, wusste zweifellos genauer Bescheid. Und es ist gut denkbar, dass dieser seinem Stalin-gläubigen Sohn Hinweise auf kannibalische Verzweiflungstaten nicht erspart hat. Hat Kopelew 40 Jahre später bei der Niederschrift seiner Erinnerungen das Kannibalismus-Tabu verdrängt oder bewusst ausgespart – aus Scham über die durch ideologischen Fanatismus und Machtwahn verursachte Realität solcher menschlicher Abgründe?

In Europa und in den USA war die ukrainische Hungerkatastrophe in den frühen 30er-Jahren kaum ein Thema. Vielmehr beschäftigte die Weltöffentlichkeit der Aufstieg Hitlers zum deutschen Reichskanzler Ende Januar 1933, genau auf dem Höhepunkt der ukrainischen Hungersnot. Abgesehen davon, dass das damalige internationale Mediensystem an Dichte und Schnelligkeit mit heutigen Gegebenheiten nicht zu vergleichen ist, war es für das totalitäre Stalin-Regime, das sämtliche Medien im Innern kontrollierte, ziemlich einfach, Informationen über die Vorgänge in der Ukraine nach außen zu kontrollieren und propagandistisch zu manipulieren. Die grundlegenden Fakten von massenhaftem Hunger und Tod seien zwar hie und da in europäischen und amerikanischen Zeitungen publiziert worden, jedoch nie als unbestrittene Tatsache, heißt es bei Timothy Snyder.72

Einer der wenigen Journalisten, die in englischer Sprache unverblümt über die ukrainische Hungerkatastrophe und das Massensterben berichtete, war der junge Brite Gareth Jones, der 1931 und 1933 die Sowjetunion bereiste. Ihm widersprach jedoch der damalige Moskau-Korrespondent der „New York Times“, Walter Duranty, Pulitzer-Preisträger von 1932. Im März 1933 publizierte die Zeitung einen Artikel unter dem Titel: „Russians Hungry but not Starving“.73

Der Begriff Holodomor für die ukrainische Hungerkatastrophe kommt in Lew Kopelews Erinnerungen nicht vor. Er ist später, Jahre nach der Unabhängigkeit der Ukraine, zu einer gebräuchlichen Bezeichnung geworden und bedeutet so viel wie Hunger-Massensterben (Holod heißt ukrainisch Hunger). Verbreitet wurde der Begriff unter der Regierung Juschtschenko, die 2005 durch die sogenannte orange Revolution an die Macht gekommen war und sich gegenüber Moskau deutlich abgrenzte. Die Bezeichnung Holodomor lehnt sich bewusst an den Ausdruck Holocaust für die Judenvernichtung unter Hitler an, was ja angesichts der Dimension des ukrainischen Massensterbens und dessen willkürlich in Gang gesetzten Ursachen durchaus gerechtfertigt erscheint.

Umstritten ist die Frage, ob es sich bei der ukrainischen Hungerkatastrophe um Genozid, also um gezielten Völkermord gemäß Uno-Konvention handelt oder nicht. Die russische Regierung wehrt sich – ähnlich wie die türkische im Fall des Massenmordes an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs – gegen eine solche Definition, vielleicht auch, um möglichen Entschädigungsansprüchen von Nachkommen unter den Holodomor-Opfern den Boden zu entziehen. Der Streit um die Anerkennung einer historischen Tragödie als „Genozid“ sei zu einer „politischen Waffe“ sowohl unter den an solchen Konflikten beteiligten Ländern als auch unter innenpolitischen Konkurrenten – wie in der Ukraine – geworden, schreibt die amerikanische Osteuropa-Spezialistin Anne Applebaum. Den Menschen, die den Massenmorden Hitlers oder Stalins zum Opfer fielen, nütze es gar nichts, ob sie nun durch ein Verbrechen umgekommen seien, das juristisch als Genozid gelte oder nicht.74 Lew Kopelew würde diesem Argument wohl beipflichten.

Lew Kopelew

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