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„Die Seele ist krank“

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Einer, der genauer und umfassender wusste, welche grauenhafte Tragödie sich in diesen Wochen und Monaten in der Ukraine abspielte, war Lews Vater Sinowij Kopelew, der Agronom. Nach der Rückkehr von einer Reise durch die Rayons, wo er die Aussaat von Zuckerrüben überprüft hatte, besuchte auch er seinen erkrankten Sohn in dessen Charkower Wohnung in der Gospitalnaja-Straße (die er und seine Frau offenbar gemeinsam mit Nadjas Eltern teilten). Der Vater, schreibt Kopelew in seinen Erinnerungen, habe damals hohlwangig ausgesehen, sichtlich gealtert.

Doch das war nicht die Folge fehlender Nahrung. In den Zuckerrübenfabriken, mit denen der Vater beruflich zu tun hatte, gab es zwar auch kein reichhaltiges Essen, aber man musste nicht hungern. „Verstehst du das nicht“, antwortete der Vater dem Sohn auf dessen Frage nach dem Grund seines mitgenommenen Zustandes. „Die Seele ist krank. Das Hirn will einem platzen. Ich habe Dinge gesehen und erlebt, wie ich sie in meinem ganzen Leben nicht erfahren habe, mir nicht einmal vorstellen konnte. Du bist noch vor dem richtigen Hunger vom Lande zurückgekommen; dein Glück, dass du krank geworden bist.“56

Die Mutter beklagte sich bei Lew, dass der Vater jetzt so viel trinke, wenn andere Agronomen zu Besuch kämen. Außerdem könne er nachts nicht schlafen und weine vor sich hin. Als Lew nach seiner Krankheit im Frühjahr 1933 den Vater erstmals wieder besuchte, saß dieser mit seinem alten Freund Kondrat Petrowitsch zusammen, Agronom in einer entfernten Sowchose und – anders als Lews Vater – Parteimitglied. Der Vater klagt erneut bitter über die Hungersnot in den Dörfern. Sein Sohn zitiert ihn so: „Ukrainische Bauern sterben, weil kein Korn da ist. Hier, mein lieber Sohn hat mitgeholfen, ihnen das Getreide wegzunehmen. Die so was befohlen haben, müssten einen Kopf kürzer gemacht werden. Mit einem Lokusbesen müsste man Führer verjagen, die die Ukraine an den Bettelstab gebracht haben.“

Der Freund, so beschreibt Kopelew die heftige Diskussion weiter, versucht den aufgebrachten Berufskollegen zu beruhigen, er macht geltend, dass seit dem Sturz des Zaren und dem Bürgerkrieg ja alle möglichen Kräfte schon die ukrainischen Bauern bedrängt und bestohlen hätten. Doch Sinowij Kopelew lässt sich nicht umstimmen, er redet sich weiter in Zorn gegen die stalinistische Kollektivierung.

„Drei Jahre räubert ihr schon schlimmer als die Machno-Leute57 … Kulaken liquidiert! Das waren doch genau die fähigsten, die kultiviertesten Bauern, mit denen das Dorf steht oder fällt. Und jetzt hießen sie Kulaken, wurden ‚als Klasse liquidiert‘. Das ist euer wissenschaftlicher Sozialismus! … Wie die Wissenschaftler ihre Versuche mit Fröschen oder Hunden machen, experimentieren die da mit Menschen, mit einem ganzen Volk. Und solche grünschnäbeligen Philosophen wie mein Sohn freuen sich noch darüber. Opfern ihre Gesundheit und schonen auch die der anderen nicht.“58

Kondrat Petrowitsch wendet zunächst gegenüber seinem Kollegen ein, dass man doch das beschlagnahmte Getreide dringend benötige, um die Städte und die Armee zu ernähren – und außerdem für den Export, „denn umsonst bekommt man keine ausländischen Maschinen.“ Aber dann gibt er zu, dass er vieles von dem, was in der Ukraine geschieht, auch nicht verstehe. „Was soll ich denn jetzt tun – mich aufhängen oder ersäufen?“, zitiert ihn Lew Kopelew. „Er riss die Uniformbluse über der Brust auf. Über die scharfen geröteten Wangen liefen Tränen, der Kopf sank auf den Tisch, graumeliert, voll dichter Locken.“

Bei dieser bedrückenden Diskussion über die Hungerkatastrophe trinken die beiden Agronomen tüchtige Quantitäten von Pfefferwodka, auch dem jungen Kopelew werden ein paar Gläschen eingeschenkt. Dem Streit zwischen den beiden Männern über die Ursachen und Verantwortlichkeiten für die Hungersnot, kommentiert er dazu, „konnte ich wohl folgen, verstand alles, wollte aber selbst nichts sagen. Ich merkte, dass ich angetrunken war, und wer weiß, was ich hätte sagen können.“

Mit dem Vater, der ja im Gegensatz zu seinem Sohn, kein überzeugter Kommunist war, hatte sich Kopelew in jüngeren Jahren häufig gestritten, wie er in den Erinnerungen zu dieser Szene anmerkt. Er hielt ihn für einen „gewissenhaften Fachmann, aber für beschränkt, spießig, belastet von alten ‚sozialrevolutionären‘ Vorurteilen. Dessen Freund und Kollege jedoch, das Parteimitglied Kondrat Petrowitsch, „war für mich ein Held“. Doch als die Hungersnot in der Ukraine sich immer mehr ausbreitete, als er während seiner Krankheit „alles Gesehene und Gehörte wieder und wieder überdachte, an schweren Alpträumen litt, als ich immer neue, schreckliche Berichte über die Hungersnot hörte – begann ich allmählich eine gewisse bittere Wahrheit in Vaters Worten zwar nicht zu erkennen, wohl aber dumpf zu fühlen.“59

Die durch Wodka intensivierte Auseinandersetzung über das Hungerelend endete schließlich versöhnlich. Die beiden Agronomen konnten ihre Tränen nicht zurückhalten und Lew umarmte beide. Die drei Männer tranken den Rest der Flasche aus. „Die Mutter hörte zu weinen auf und brachte Tee. Zu dritt sangen wir ukrainische Lieder.“

Lew Kopelew

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