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ii) Beiordnung nach Auswahl durch den Haftrichter
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Benennt der Beschuldigte innerhalb der ihm gesetzten angemessenen Überlegungsfrist keinen Verteidiger oder verzichtet er wirksam auf sein Wahlrecht, so hat der Haftrichter die Beiordnung eines geeigneten Verteidigers von Amts wegen unverzüglich nach dem erklärten Verzicht oder Ablauf der Frist vorzunehmen. Die dem Beschuldigten gesetzte Frist ist allerdings keine Ausschlussfrist. Benennt der Beschuldigte erst nach Fristablauf einen gewünschten Verteidiger seines Vertrauens, so ist dieser gleichwohl beizuordnen, denn allein der Fristablauf kann dem Beschuldigten das Benennungsrecht nicht nehmen.[49]
Die Auswahl des Pflichtverteidigers durch den Haftrichter, die in der Regel intransparent erfolgt und an keine gesetzlich konkret fixierten Auswahlkriterien gebunden ist, ist seit jeher ein zentraler Kritikpunkt.[50] Die Praxis zeigt leider immer wieder, dass bestimmte Verteidiger bevorzugt werden, insbes. solche, die dem Gericht bekannt sind und als wenig „konfliktbereit oder –fähig“, „handzahm“, „bequem“, „devot“ „dealfreudig“ oder „pflegeleicht“ gelten und oftmals mit Begriffen wie „Geständnisbegleiter“, „Robenständer“, „Kuschelverteidiger“ „Gerichtshuren“ oder „Abnicker“ tituliert werden und Verteidiger, sobald sie engagiert verteidigen, oftmals von den gerichtsinternen Listen der Haftrichter gestrichen werden.[51] In der von Jahn[52] durchgeführten Untersuchung zur Praxis der Verteidigerbestellung durch den Strafrichter gaben 2/3 aller befragten Teilnehmer die Bekanntschaft des Richters mit dem Anwalt als wesentliches Beiordnungskriterium an.[53] 75,5 % der befragten Verteidiger und immerhin auch 4,2 % der befragten Richter (!) gaben an, dass fachliche Kriterien für die Beiordnung eines bestimmten Verteidigers keinerlei Relevanz entfalteten.[54] Gerade aber angesichts dieses letztgenannten Auseinanderfalles der Selbst- und Fremdwahrnehmung sollte es auch im Interesse der Haftrichter sein, mittels regelmäßiger Evaluierung Transparenz ihrer Pflichtverteidigerauswahl herzustellen.[55] Gleichwohl wurden im Rahmen der bisherigen Reformgesetzgebung weder konkrete Auswahlkriterien noch eine Evaluierung der Beiordnungspraxis geregelt.
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Tatsächlich muss die Auswahl des beizuordnenden Verteidigers aber auch nach allgemeinen Grundsätzen ausschließlich nach sachlichen und fachlichen Gesichtspunkten erfolgen.[56] Entgegen der teilweise anders verfahrenden Praxis steht dem Gericht kein freies Ermessen bei der Auswahl zu[57], sondern es hat vorrangig dem Ziel des Untersuchungshaftänderungsgesetzes, namentlich der Stärkung der Verteidigungsrechte des Inhaftierten, zu folgen.[58] Ausgehend von der Funktion der Pflichtverteidigung als Ausgestaltung des Rechtsstaatsprinzips und des Grundsatzes des fairen Verfahrens[59] gebietet eine ermessensfehlerfreie Auswahlentscheidung, dass sich diese allein an den konkreten Verteidigungsbedürfnissen des inhaftierten Beschuldigten orientiert. Diese erfordern den Beistand durch einen Verteidiger, der im Hinblick auf den speziellen Tatvorwurf und auf die besondere Situation der Inhaftierung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht als geeignet erscheint. Dazu gehören sowohl die erforderlichen Rechtskenntnisse auf prozessualem (insbes. dem Recht der Untersuchungshaft) und dem einschlägigen strafrechtlichen Gebiet, als auch praktische Erfahrung (insbes. im Umgang mit Untersuchungshaftfällen). Eine örtliche Nähe der Kanzlei des beizuordnenden Rechtsanwalts zu dem Ort der Untersuchungshaftanstalt erleichtert besonders in der Anfangszeit den erforderlichen regelmäßigen Kontakt mit dem und die Betreuung des Mandanten in rechtlicher und sozialer Hinsicht sowie die zügige Vorbereitung und Wahrnehmung mündlicher Haftprüfungstermine. Zwar ist durch das am 1.10.2009 in Kraft getretene 2. Opferrechtsreformgesetz in § 142 Abs. 1 die Vorgabe entfallen, als Pflichtverteidiger möglichst einen solchen auszuwählen, der im Bezirk des ihn bestellenden Gerichtsvorsitzenden kanzleiansässig ist. Das bedeutet, dass die Ortsferne des Kanzleisitzes des Verteidigers der Bestellung als Pflichtverteidiger nicht entgegensteht und der Gesichtspunkt der Ortsnähe im Rahmen der Interessenabwägung des Bestellungsverfahrens gegenüber einem Vertrauensverhältnis des Beschuldigten zu dem Verteidiger zurückzutreten hat.[60] Das an den Ort der Untersuchungshaftanstalt anknüpfende Lokalisationsprinzip ist aber unter den besonderen Umständen der Vollstreckung von Untersuchungshaft nach wie vor ein für die Auswahlentscheidung des Haftrichters, dem kein Wunsch auf Beiordnung eines bestimmten auswärtigen Verteidigers des Beschuldigten vorliegt, geeigneter und ggf. gebotener Gesichtspunkt[61], weil die jederzeitige Möglichkeit eines persönlichen Kontakts mit dem inhaftierten Beschuldigten bei Beiordnung eines ortsfernen Verteidigers auch trotz „verbesserter Verkehrsverbindungen“ eingeschränkt ist und die „jederzeitige Möglichkeit elektronischer Kommunikation“[62] unter den tatsächlichen Bedingungen der Untersuchungshaftvollzuggesetze immer noch nicht uneingeschränkt besteht.
Dies enthebt das Gericht allerdings nicht der Verpflichtung, seine Auswahl aus einem Kreis geeigneter Verteidiger zu treffen, der im Vorfeld der konkreten Entscheidungssituation festzulegen ist. Nur so ist gewährleistet, dass in der gebotenen Eile ein solcher Verteidiger beigeordnet werden kann, der sowohl den speziellen Anforderungen des betreffenden Verfahrens genügt, als auch zur tatsächlichen Übernahme der Verteidigung in der Lage ist.
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Bei der Auswahlentscheidung kann das Gericht – sofern vorhanden – die von Verteidigerorganisationen oder Anwaltskammern erstellten Listen derjenigen Anwälte zu Rate ziehen, die sich zur Übernahme von Pflichtverteidigungen in Haftsachen bereit erklärt haben.[63]
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Denkbar ist es auch, dass das zuständige Gericht sich selbst um die Erfassung solcher Rechtsanwälte bemüht, die als generell geeignete Pflichtverteidiger in Betracht kommen, um unter diesen eine der Person des konkreten Beschuldigten und den Umständen des gegen ihn erhobenen Vorwurfs angemessene und nachvollziehbare Auswahl treffen zu können.
Bedenkt man, dass mit der Pflichtverteidigerbeiordnung ein nicht ganz unerhebliches Finanzvolumen verbunden ist[64], könnte es sich für die Erstellung von Listen geeigneter Pflichtverteidiger anbieten, dafür auf die Grundsätze der Vergabe von Aufträgen durch die öffentliche Hand im Wege eines Ausschreibungsverfahrens zurückzugreifen[65]. Auch wenn eine unmittelbare Anwendung des Vergaberechts auf die Pflichtverteidigerauswahl schon deshalb nicht in Betracht kommt, weil eine Auftragsvergabe nach der Verdingungsordnung für freiberufliche Leistungen (VOF)[66] wegen des Unverzüglichkeitsgebots des § 141 Abs. 3 S. 4 ausscheidet, können die in § 13 VOF näher ausgeführten Kriterien für die „fachliche Eignung von Bewerbern“ („Fachkunde, Leistungsfähigkeit, Erfahrung und Zuverlässigkeit“) auch für die Ermittlung geeigneter Pflichtverteidiger herangezogen werden. Darüber hinaus zwingt die Existenz einer Vielzahl potentieller Bewerber um eine Pflichtverteidigung in gewissem Umfang auch dazu, dass „jeder Mitbewerber eine faire Chance erhalten (muss), nach Maßgabe der für den spezifischen Auftrag wesentlichen Kriterien und des vorgesehenen Verfahrens berücksichtigt zu werden. Eine Abweichung von solchen Vorgaben kann eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG bedeuten“[67].
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Vor diesem Hintergrund kommt der Rechtsprechung des BVerfG zu den Voraussetzungen für die Aufnahme von Bewerbern in eine Vorauswahlliste für Insolvenzverwalter besondere Bedeutung zu.[68] Auch hier hat der zuständige Richter bei der Bestimmung des Insolvenzverwalters aus dem Kreis der im Sinne des § 56 Abs. 1 InsO geeigneten Bewerber ein weites Auswahlermessen, dessen pflichtgemäße Ausübung voraussetzt, dass die Auswahlentscheidung unter Berücksichtigung der durch Art. 3 Abs. 1 GG geschützten Interessen der geeigneten Bewerber nach sachgerechten Kriterien erfolgt.[69] Um die im Insolvenzverfahren gebotene zügige Entscheidung über die Bestellung des Insolvenzverwalters zu gewährleisten, andererseits den Interessen der Bewerber an chancengleichem Zugang zum Insolvenzverwalteramt Rechnung zu tragen, ist nach Auffassung des BVerfG eine Verfahrensgestaltung von Verfassungs wegen geboten, die „dem Richter nicht nur eine zügige Eignungsprüfung für das konkrete Verfahren ermöglicht, sondern ihm außerdem hinreichende Informationen für eine pflichtgemäße Ausübung des Auswahlermessens verschafft und verfügbar macht.
Hierbei kommt insbes. dem weithin üblichen Vorauswahlverfahren entscheidende Bedeutung zu. Es kann dem Richter einen Rahmen geben, der ihm trotz der Eilbedürftigkeit der Bestellungsentscheidung eine hinreichend sichere Tatsachengrundlage für eine sachgerechte Auswahlentscheidung im konkreten Insolvenzverfahren vermittelt“[70]. Zu diesem Zweck muss bei der Ausgestaltung von Auswahllisten dem Umstand Rechnung getragen werden, „dass nicht jeder generell für eine Verwaltertätigkeit geeignete Bewerber auch für jede Art von Verfahren geeignet ist. Dem ist durch Erhebung der maßgeblichen Daten und durch entsprechende Strukturierung der Listen Rechnung zu tragen. Vor diesem Hintergrund ist es jedenfalls verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn Insolvenzrichter wie im vorliegenden Fall differenzierte Vorauswahllisten führen, in denen sie zwischen verschiedenen Kategorien von Verfahren oder von verschiedenen Anforderungen an den Verwalter unterscheiden“[71].
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Zur Erstellung solcher Auswahllisten ist nicht nur der einzelne Insolvenzrichter berufen, sie darf auch Stellen der Gerichtsverwaltung überlassen werden, wenn sichergestellt ist, dass die Liste entsprechend der von denjenigen Insolvenzrichtern für maßgeblich befundenen Kriterien geführt wird, die von ihr Gebrauch machen[72].
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Diese Grundsätze lassen sich auch auf die Art und Weise der Auswahlentscheidung im Rahmen der Pflichtverteidigerbeiordnung übertragen[73]. Ein solches Verfahren würde spiegelbildlich auch gewährleisten, dass sich der als Inpflichtnahme eines Rechtsanwalts in Form seiner Pflichtverteidigerbeiordnung darstellende Eingriff in seine Berufsausübungsfreiheit verfassungsrechtlichen Vorgaben standhält.
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Die praktische Umsetzung könnte in der Weise erfolgen, dass die zuständigen Gerichte oder eine Stelle der Gerichtsverwaltung in regelmäßigen Zeitabständen Anträge von Rechtsanwälten auf Aufnahme in eine dort geführte Pflichtverteidigerliste anhand von für maßgeblich befundenen (übereinstimmenden) Kriterien entgegennehmen würden. Gefordert werden können Angaben zu einer Zulassung als Fachanwalt (vornehmlich für Strafrecht), zu weiteren Zusatzqualifikationen wie Zulassung als Steuerberater oder vereidigter Buchprüfer, Fremdsprachenkenntnissen, Lebensalter und Jahr der Zulassung zur Anwaltschaft neben den ohnehin erforderlichen Kommunikationsdaten, Informationen zur Erreichbarkeit und zum Ort des Kanzleisitzes. In Betracht kommen ferner Nachweise über Fortbildungen, an denen der Antragsteller teilgenommen hat. Auch Veröffentlichungen in der Fachpresse, Vorträge und Ähnliches können aussagekräftige Hinweise auf Fortbildung und Spezialisierung in unterschiedlichen Rechtsgebieten liefern. Zu denken ist schließlich an eine Fallliste, aus der sich Gegenstand und Art der forensischen Tätigkeit des Rechtsanwalts in der jüngeren Vergangenheit ersehen lassen.
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Nach solchen Kriterien geführte Listen würden es ermöglichen, unverzüglich nach Beginn der Vollstreckung von Untersuchungshaft anhand der maßgeblichen Fallparameter einen für geeignet erachteten Rechtsanwalt auszuwählen und diesen dem inhaftierten Beschuldigten beizuordnen, nachdem dessen Anhörung ergeben hat, dass er zur Übernahme der Verteidigung nicht nur zur Verfügung steht, sondern der Bestellung auch keine wichtigen Gründe entgegenstehen.
Unabhängig von der Notwendigkeit der Festlegung allgemeinverbindlicher Auswahlkriterien wird dem oben beschriebenen teilweisen Missbrauch des richterlichen Auswahlermessens (siehe Rn. 310) nur durch die Schaffung von Transparenz mittels regelmäßiger Evaluierung der Beiordnungspraxis begegnet werden können.[74]
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In Fällen, in denen eine sofortige Beiordnung ohne Gewährung ausreichenden rechtlichen Gehörs für den Beschuldigten unumgänglich ist, etwa im Hinblick auf eine von der Staatsanwaltschaft beantragte richterliche Zeugenvernehmung, kommt auch eine befristete Beiordnung eines „Notverteidigers“ in analoger Anwendung des § 118a Abs. 2 S. 3 in Betracht.[75] Dieser wird mit seiner Zustimmung dem Beschuldigten für einen gewissen Zeitraum zur Wahrung der Verteidigungsrechte beigeordnet (vgl. Einzelheiten dazu unten Rn. 344). Die Beiordnung endet mit dem Ende der Frist. Wenn der Beschuldigte weiterhin von diesem Verteidiger vertreten werden will, ist dies mitzuteilen und die Beiordnung erfolgt nunmehr unbefristet. Benennt der Beschuldigte einen anderen Verteidiger, ist dieser beizuordnen.