Читать книгу Ich liebe dich, aber ich brauche dich nicht - Renate Georgy - Страница 16
Wie das Problem entstanden ist
ОглавлениеWoher kommt es, dass Menschen sich abhängig von ihren Partnern fühlen?
Der Schlüssel liegt in unserer Kindheit. Ein Neugeborenes braucht seine Mutter ebenso wie die Luft zum Atmen. Genau gesagt braucht es wenigstens eine erwachsene Person, die es nährt und für es sorgt. Das kann ebenso der Vater oder ein anderer geeigneter Mensch sein. Auf die biologische Verwandtschaft kommt es nicht an. Und nicht nur das Bedürfnis nach Nahrung muss erfüllt werden. Wir wissen, dass Waisenkinder, die nur gefüttert und sauber gehalten wurden, sonst aber keinerlei liebevollen Kontakt erfuhren, seelisch verkümmern und sogar sterben können. Sie essen zu wenig, weinen viel und ziehen sich in sich selbst zurück. Rhesusäffchen, die man (in äußerst fragwürdigen Experimenten) von ihren Müttern getrennt und in Metallkäfigen aufgezogen hatte, fühlten sich eher zu einem künstlichen »Mutterersatz« hingezogen, der mit kuscheligem Stoff überzogen war, als zu einem Drahtgestell, welches ihnen Nahrung darbot. Mit anderen Worten: Kontakt, Berührung, Kuscheln sind bis zu einem gewissen Grad sogar wichtiger als Füttern.
Nicht nur Neugeborene und Kleinkinder brauchen Zuwendung, um zu überleben. Menschen sind soziale Wesen. Unser Bedürfnis nach Kontakt ist zwar unterschiedlich stark ausgeprägt, aber es ist vorhanden, sogar bei Menschen, die großen Wert darauf legen, autark zu erscheinen. Auch der »einsame Wolf« und die »Frau, die alles alleine kann« sehnen sich nach Liebe.
Im Übrigen sind gerade die Personen, die viel dafür tun, von ihren Mitmenschen gefürchtet oder sogar gehasst zu werden, besonders bedürftig. Man sieht dies jedoch erst auf den zweiten Blick. Das, was andere mit Freundlichkeit und Wohlverhalten zu erreichen suchen, wollen solche Menschen durch negative Aufmerksamkeit erzwingen. Alle, die einmal vor einer Klasse mit Kindern oder Heranwachsenden gestanden haben, kennen das. Wobei diese Variante noch zu den harmloseren gehört. Gefährlich wird es da, wo Menschen glauben, sie könnten und müssten Zuwendung erzwingen.
Dass Menschen sich an die Person, von der ihr Leben abhängt, unter Umständen auch emotional binden, ist mit dem sog. Stockholm-Syndrom gut erforscht. Es kommt immer wieder vor, dass sich Entführungsopfer mit ihren Entführern solidarisieren, und zwar nicht nur scheinbar, um ihre bedrohliche Lage zu verbessern, sondern tatsächlich. Auch dieser Mechanismus entstammt unserem frühkindlichen Erbe. Kleine Kinder lieben ihre Eltern, auch dann, wenn diese sie misshandeln. Die Abkehr von Menschen, die einem nicht guttun, erfordert die Fähigkeit zu einer seelischen Distanzierung, die erst später möglich wird.
Das Bedürfnis nach Kontakt, Aufmerksamkeit und Wertschätzung ist grundsätzlich kein Problem, sondern eine wunderbare Sache. Die Menschheit hätte es niemals geschafft, den kompletten Erdball zu besiedeln, karges Land urbar zu machen, große technische Erfindungen zu entwickeln und die durchschnittliche Lebenserwartung mehr als zu verdoppeln, wenn sie nicht zur Kooperation bereit gewesen wäre. Sich zusammenzutun, um etwas zu erreichen, macht nicht nur dann Sinn, wenn man einen Kleiderschrank in den vierten Stock befördern möchte. Kooperation ist viel mehr als Konkurrenz ein Grundprinzip unseres Daseins. Das übersehen all diejenigen, die die Menschheitsgeschichte als ewiges Hauen und Stechen erzählen und – nebenbei – Darwin falsch verstanden haben. Denn dieser hat nicht behauptet, die Stärksten würden überleben, sondern er sprach von den Flexibelsten (»survival of the fittest«). »Fit« heißt nicht stark, sondern flexibel.
Wir brauchen den und die anderen. Doch das bedeutet nicht, dass wir abhängig von bestimmten Menschen sind.
Wenn wir uns das allerdings als Erwachsene nicht ausreichend bewusst machen, bleiben wir in unserem Baby-Ich gefangen und klammern uns an andere Personen, als ginge es ums Überleben.
Was sagt uns das?
Ebenso wie die Bindung an Mutter und Vater in unseren ersten Lebensjahren essenziell ist, müssen wir uns später aus dieser Abhängigkeit lösen, um erfüllt leben zu können. Ich liebe dich, aber ich brauche dich nicht gilt hier ebenso wie für alle anderen tiefen Beziehungen, die wir als Erwachsene eingehen.
Nicht wenige Menschen glauben, wenn sie ihren Partner nicht brauchten, würden sie nicht wahrhaft lieben. Doch das Gegenteil ist der Fall. Wenn wir brauchen, sind wir nicht frei. Wir müssen dann das nehmen, was wir kriegen können. Wenn wir sehr hungrig sind, ist uns egal, was wir mögen und was nicht. Wir essen auch das, was uns nicht schmeckt. Unterscheidung und Wahl können wir uns in diesem Fall nicht leisten.
Ebenso verhält es sich in Beziehungen. Wer jemanden braucht, lässt sich von diesem alles gefallen. Er ist nicht mit einem Menschen verbunden, weil er diesen sympathisch und liebenswert findet, sondern weil er einen Zwang verspürt, der alles andere außer Kraft zu setzen scheint. Es ist – krass gesagt – wie das Verhältnis zwischen Gefängniswärter und Gefangener, bloß dass sich die Gefangene ihre Gefängniszelle quasi selbst gebaut und den Gefängniswärter mit der entsprechenden Macht ausgestattet hat.
Doch wer will ernsthaft Gefangene/-r sein?
Der Gefängniswärter ist nur auf den allerersten Blick in einer besseren Position. Denn auch er verbringt seine Tage hinter hohen Mauern und zwischen Gittern. Die »Beziehung« zu der Gefangenen ist von Zwang geprägt und nicht von Freundschaft und Wohlwollen.
Oder nehmen wir zur Veranschaulichung das Verhältnis einer Alkoholikerin zur Flasche mit Hochprozentigem. Die Alkoholikerin liebt den Schnaps nicht. Sie benutzt diesen nur, um sich die Kante zu geben. Es ist ihr (relativ) egal, ob es sich um Wodka, Whisky oder Aquavit handelt, Hauptsache, sie kann damit ihre Sucht befriedigen.