Читать книгу Ich liebe dich, aber ich brauche dich nicht - Renate Georgy - Страница 18
Der Weg
ОглавлениеDer Weg zur unabhängigen Liebe ist ein Abenteuer, denn er führt mitten durch den Dschungel der Gefühle.
Vielleicht hast du schon einmal von den Initiationsriten sogenannter Naturvölker gehört. Teenager werden dort herausfordernden Situationen ausgesetzt, die sie bestehen müssen, um als vollwertiges Mitglied ihrer Gemeinschaft zu gelten. Sie müssen sich bewähren und ihre Reife beweisen. Der Status einer/-s Erwachsenen wird ihnen nicht auf dem Silbertablett serviert.
Bei uns ist das anders. Regelmäßig ist vom »Hotel Mama« die Rede, und das ist nicht nur ein Medienthema. Heranwachsende lösen sich mittlerweile immer später von ihren Eltern, um selbstständig zu werden. Das hat ganz verschiedene Gründe. Positiv zu bewerten ist, dass sich das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern in den letzten Jahrzehnten deutlich entspannt hat. Nicht wenige Heranwachsende nennen heute ihre Eltern, wenn sie nach guten FreundInnen gefragt werden. Es gibt seltener als früher heftige Machtkämpfe zwischen den Generationen. Dazu kommt, dass sich durch die höhere Lebenserwartung auch der Eintritt in die verschiedenen Lebensstufen nach hinten verschoben hat. Wer Dreißigjährige beobachtet, die mit Kapuzenpulli und Skateboard unterwegs sind, weiß, was ich meine.
Doch auch die immer noch zunehmende »Flexibilisierung des Arbeitslebens« trägt zu dieser Entwicklung bei. Wer sich von einem befristeten Job zum nächsten hangelt und vielleicht nie eine feste Vollzeitstelle ergattern kann, zögert nicht nur bei der Familiengründung, sondern bereits bei der Anmietung einer eigenen Wohnung.
Eine Freundin von mir ist bis in ihre vierziger Jahre hinein bei größeren Schwierigkeiten (Liebeskummer, Jobverlust) regelmäßig für mehrere Wochen zu ihren Eltern zurückgezogen. Dass dies heute nicht mehr geschieht, liegt nur daran, dass ihre Eltern mittlerweile verstorben sind.
Doch ohne äußerliche Unabhängigkeit geht es nicht.
Ich weiß sehr gut, wie einsam man sich mit zwanzig fühlen kann, nachdem die erste Euphorie des Umzugs in eine eigene Wohnung verflogen ist. Doch hilft es nichts, da müssen wir alle durch. Das ist die echte Reifeprüfung, nicht das Abitur.
Was kommt zuerst: die äußere oder die innere Unabhängigkeit? Diese Frage entspricht der nach der Henne und dem Ei. Sie ist nicht zu beantworten. Außerdem ist sie nicht wichtig. Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Jeder Schritt in die richtige Richtung befördert das eine ebenso wie das andere.
Wer es schafft, sich eine eigene, gemütliche Bleibe einzurichten und dort ein selbst gekochtes, leckeres Essen zuzubereiten, macht gleichzeitig einen großen Schritt in die innere Unabhängigkeit. Auch in diesem Punkt haben wir Frauen gegenüber unseren männlichen Mitmenschen einen Vorteil. Denn wir sind eher als Jungs mit dem Kochen, Braten und Backen bekannt gemacht worden. Vermutlich gibt es immer noch etliche Männer, die beim Verlust »ihrer« Frauen (sei es durch Trennung oder Tod) genau diese praktischen Fähigkeiten schmerzlich vermissen.
Von Frauen und Bohrmaschinen will ich jetzt nicht anfangen. Ich habe mir aber sagen lassen, dass Do-it-yourself-Kurse in Baumärkten gerade von meinem Geschlecht heiß begehrt sind.
Mindestens ebenso wichtig wie die Fähigkeit, ein warmes Essen zuzubereiten und ein Bild aufzuhängen, ist der Umgang mit den eigenen Gefühlen. Kinder sind dazu noch nicht in der Lage. Viele Erwachsene leider auch nicht, denn sonst gäbe es weder Amokläufe noch illegale Autorennen, noch sogenannte häusliche Gewalt. Es ist ein langwieriger Lernprozess, heftige Wutanfälle oder regelmäßige Panikattacken, aber auch tiefe Niedergeschlagenheit in den Griff zu bekommen und regulieren zu können. Ist man dazu nicht in der Lage, bleibt man innerlich ein Kind und geht mit dieser psychischen Ausstattung in eine Paarbeziehung. Die Schwierigkeiten, die dann auftreten, sind vorprogrammiert. Aber sie geschehen nicht zwangsläufig. Wir können uns unsere Prägungen bewusst machen, müssen ungeeigneten Vorbildern nicht folgen und brauchen krank machenden Denkmustern keinen Glauben zu schenken. Wir können jederzeit ein neues Kapitel in unserem Leben aufschlagen und abhängige Liebe zu unserem und zum Wohl anderer überwinden.