Читать книгу Die Rückseite der Wahrheit - Riccardo del Piero - Страница 12
ОглавлениеDas Lachen des Alptraumchirurgen
Der Tag war besonders streng. Nichts lief nach Plan, und andauernd wurde ich durch meinen Piepser gestört. Zudem stand mir am Abend auch noch die Fortbildung bevor. Den einzig ruhigen Moment erlebte ich beim Mittagessen.
Thomas und ich setzten uns im halbleeren Personalrestaurant an den Anästhesistentisch, bald nahmen auch unsere zwei Chirurgie Kollegen neben uns Platz. Sie schienen bedeutend besser gelaunt zu sein als noch am Morgen im OPS.
Kaum hatte der Alptraumchirurg den letzten Bissen zu sich genommen, schob er seinen Teller mit einer schwungvollen Bewegung beiseite und fuhr mit seiner immer wieder unterbrochenen Erzählung fort.
„Zwei lernen sich in einer Bar kennen, ich glaube, das habe ich dir bereits erzählt, nicht wahr?“ Er war in seinen verbalen Ausführungen genauso ausschweifend, wie in seinen chirurgischen Bemühungen. Beides dauerte unendlich lange. „Die beiden fragen sich also nach ein paar Gläsern, gehen wir zu mir oder zu dir. Sie überlegen und gehen schließlich zu ihr nach Hause. Ihre Wohnung liegt näher. Sie trinken zuerst einen Kaffee und kommen dann zur Sache. Danach zündet er sich eine Zigarette an, nimmt einen tiefen Zug und fragt zufrieden: Du bist sicher Krankenschwester, stimmt’s? Ja, antwortet sie, woher weißt du das bloß? Nun, das Bett ist so schön zurechtgemacht, das kann eben nur eine Krankenschwester! Ich bin beeindruckt, meint daraufhin die nicht diensttuende Schwester, aber weißt du, ich habe da nämlich auch so eine Ahnung, ich glaube, du bist Anästhesist. Nun ist der Mann ganz erstaunt und fragt: Ja, das stimmt, wie kommst du nur darauf? Die Frau antwortet: Ich habe eben überhaupt nichts gespürt.“
Der Alptraumchirurg konnte sein Lachen schon vor dem letzten Satz nicht mehr zurückhalten und steigerte sich danach in einen lautstarken Lachanfall, dass jeder in diesem Restaurant zu uns hinschaute, selbst Huber und der Blasse in der entferntesten Ecke. Das Lachen war derart ansteckend, dass schließlich alle am Tisch nur noch lachten, weniger wegen des Witzes, sondern wegen des unnachahmlichen Verhaltens des Albtraumchirurgen. Nachdem sich alle wieder etwas beruhigt hatten, zündete sich der Alptraumchirurg eine Zigarette an.
Da kam Anita hinzu und setzte sich zu mir.
„Was ist denn hier so furchtbar lustig?“
Das war meine Chance, dem noch immer lachenden Albtraumchirurgen zuvorkommen. Meine fehlende Schlagfertigkeit hatte mich schon so manches Mal geärgert, doch in diesem Moment zündete ein Geistesblitz in mir, und ich begann die Geschichte nochmals zu erzählen mit einem kleinen Unterschied bei der Pointe.
„Die junge Dame fragt ihn, du bist wohl Chirurg“, begann ich, ohne einen Mundwinkel zu verziehen, „und er ist erstaunt: Wie hast du das gemerkt? Weil du so ein Aufschneider bist!“
Danach erzählte mir der Alptraumchirurg keine Witze mehr.
Der spätere Nachmittag brachte mich wieder auf ihre Bettenstation. Wie üblich besuchte ich alle operierten Patienten des Tages und war gespannt, wie es Céline Jaquet ging. Ich hatte kein besonders gutes Gefühl, als ich in ihr Zimmer trat und sah auf den ersten Blick, dass sie sich nicht wohl fühlte. Blass war ihr Gesicht, eingefallen und leidend der Ausdruck. Vorsichtig näherte ich mich.
„Guten Abend, wie fühlen Sie sich?“, fragte ich so neutral wie möglich. Sie blickte auf, und es fiel ihr schwer zu sprechen.
„Ich habe ziemlich starke Schmerzen“, brachte sie tapfer hervor.
Es sah herzerweichend aus, wie sie dalag, ein Häuflein Elend. Da versuchte ich sie etwas aufzuheitern, setzte mich auf den Stuhl neben dem Krankenbett und bemühte mich, etwas optimistisch zu wirken. Ein Sprinteranästhesist hätte für so etwas nie Zeit gefunden.
„Nun, ich werde dafür sorgen, dass Sie ein stärkeres Schmerzmittel erhalten. Gleich wird Ihnen die Schwester die Schmerzspritze verabreichen, und dann werden sie etwas schlafen und vielleicht von Schwanensee träumen.“
Es gelang mir, ihr ein schwaches Lachen zu entlocken.
„Klingt gut, vielen Dank, Sie sind alle so nett.“
Im Korridor traf ich direkt auf drei Krankenschwestern. Sie war auch dabei. Mein Traumgesicht schaute mich mit ernstem nachdenklichem Ausdruck an, wie ich sie bisher noch nie gesehen hatte. Doch auch diese, bisher unbekannte, Seite passte gut zu ihrer Persönlichkeit.
Sofort kamen wir auf unser Sorgenkind zu sprechen. Ich erklärte meine Verordnung, dass umgehend das stärkere Schmerzmittel, ein synthetisches Opiat gespritzt werden sollte.
„Aber nur eine halbe Ampulle!“, betonte ich unmissverständlich, obwohl es bereits auf dem Verordnungsblatt stand, das ich im OPS ausgefüllt hatte.
Sie nickte und schaute mich mit hochgezogenen Brauen an.
„Sind diese Knieoperationen immer derart schmerzhaft?“, fragte sie, und dabei war ihr Gesicht ebenfalls leicht angespannt.
„Es tut schon immer etwas weh, aber unsere Patientin leidet eindeutig mehr als der Durchschnitt!“, erklärte ich, als wäre ich auf diesem Gebiet besonders erfahren. In Tat und Wahrheit hatte ich bisher erst einen Patienten nach einem solchen Eingriff betreut. Natürlich wollte ich dies vor ihr nicht zugeben. Innerlich verabscheute ich mich in diesem Moment selbst und kam mir wie der Aufschneider von Alptraumchirurg vor.
„Die Operation heute Morgen war wirklich schwierig“, fuhr ich unbeirrt fort, die Chirurgen hatten Mühe, es ging lange, aber das Kniegelenk ist jetzt wieder stabil hergestellt. Sie schauen sicher ab und zu nach Céline.“
„Natürlich, ich habe heute Spätdienst, da sonst nicht viel los ist, kann ich mich gut um sie kümmern.“
Ich sah in mein Traumgesicht, und mir fiel nichts mehr ein, was ich sagen könnte.
„Ja, dann gebe ich ihr jetzt das Schmerzmittel“, fügte sie nach einer kurzen Pause mit einem feinen Lächeln an und wandte sich einem älteren Ehepaar zu. Es waren offensichtlich Besucher, die das gesuchte Zimmer nicht fanden.
Für mich gab es somit auf dieser Abteilung nichts mehr zu tun. Mein Teil der Betreuung von Céline Jaquet als Anästhesiearzt war mit dieser letzten Verordnung abgeschlossen. Ich bedauerte es in diesem Fall ganz besonders, dass ich als Anästhesist die Patienten immer nur während einer ganz kurzen Phase betreuen konnte, ohne den weiteren Verlauf weiterverfolgen zu können. Die Visiten vor und nach der Operation waren für mich von ganz besonderer Bedeutung. Ich konnte dabei aus meinem grünen Ghetto in die weiße Spitalwelt auftauchen. Das brauchte ich, wie ein Delphin, der Luft holt, denn da oben war der Sauerstoff.
Obwohl es nicht meine Pflicht war, wollte ich morgen wieder bei Céline und meinem Traumgesicht vorbeischauen. Gleichzeitig fasste ich auch den festen Entschluss, sie anzusprechen und mich vielleicht einmal mit ihr zu verabreden. Allerdings hatte ich noch keinerlei Ideen, wie ich das anstellen wollte und hoffte auf eine originelle Inspiration.
Bis zur abendlichen Fortbildung erledigte ich in unserem großen Assistentenbüro wenig interessante administrative Arbeiten, wurde allerdings immer wieder von Kollegen gestört, die sich mit mir unterhalten wollten. Insgeheim hoffte ich, sie würde mich wegen der leidenden Céline Jaquet noch einmal anrufen. Doch mein Sucher blieb stumm.
So entschloss ich mich, eine halbe Stunde vor Beginn des Referates nochmals selbst vorbeizuschauen. Auf der Station, sah ich sie schon von weitem, und kaum hatte sie mich erblickt, kam sie mir auch schon entgegen. Vor dem Zimmer unserer gemeinsamen Patientin blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie räusperte sich und sprach schnell, mit angespanntem Ausdruck: „Es geht ihr besser, sie schläft schon wieder, Celine, meine ich.“
„Na, dann bin ich ja erst mal beruhigt. Hat das Schmerzmittel also gewirkt?“
„Ja, das hat es allerdings.“ Sie stellte sich zwischen mich und die Türe.
„Also ich denke, wir lassen sie jetzt schlafen, aber später werde ich dann sicher wieder nach ihr schauen“, beeilte sie sich anzufügen. Dabei wirkte sie auf mich ungewohnt nervös.
„In Ordnung. Und mit Ihnen ist auch alles okay?“
Sie wirkte etwas verlegen. „Mit mir … ja natürlich, was soll schon sein? Es ist ziemlich anstrengend hier, heute Abend.“
„Natürlich, verstehe. Allerdings haben Sie doch vorhin gesagt, es wäre nicht so viel los“, wunderte ich mich.
„Ja, das kann sich so schnell ändern …“
Hier wurde unser Gespräch abrupt unterbrochen, denn die vorgesetzte Schwester rief in unmissverständlichem Ton mein Traumgesicht zu sich.
„Na, da muss ich wohl gehen, schönen Abend.“
Schnell huschte sie über den Gang zum Stationszimmer. Ich wartete einen kurzen Moment. Die Abteilung machte einen ruhigen Eindruck, der Gang war leer und wirkte verloren, nachdem eben ein Besucher das Krankenzimmer neben Céline betreten hatte. Pro forma notierte ich etwas in mein Notizbüchlein und überlegte, ob ich nicht doch einen kurzen Blick ins Zimmer von Céline Jaquet werfen sollte, entschloss mich dann aber, sie nicht zu stören.
Kurze Zeit später sah ich, wie eine etwas ältere, leicht ergraute Schwester auf den Gang trat und sehr bestimmt in meine Richtung schaute. Das war offenbar die Stationsschwester. Ihr Blick war misstrauisch, nicht unbedingt sympathisch. Ich bemühte mich zu lächeln, steckte mein Büchlein in die Manteltasche und verließ die Abteilung.
Gespannt betrat ich den großen Hörsaal Ost des Universitätsspitals und entdeckte viele unbekannte Gesichter, wahrscheinlich alles Anästhesisten aus anderen Kliniken. Als Redner wurde der Chefarzt des Triemlispitals erwartet, ein begnadeter Referent. Ich wollte mir einen Platz in den hinteren Reihen suchen, wo ich mich am wohlsten fühlte. Die Nähe zur Ausgangstüre beruhigte und ließ mir den Fluchtweg in absoluten Notfallsituationen – wie etwaiger Langeweile – offen.
Da entdeckte ich plötzlich ein bekanntes Gesicht. Erst traute ich meinen Augen nicht. Ich schaute noch ein zweites Mal hin, und mich durchfuhr ein angenehmer Schauer. Richtig, es bestand kein Zweifel, es musste mein Engel sein. Dieses Gesicht hätte ich aus Tausenden wiedererkannt, auch wenn die Haare inzwischen stark verkürzt waren.
Da war mein Engel, den ich bisher vergeblich gesucht hatte, und ich war völlig verwirrt.
Ich freute mich riesig und lächelte sie an, aber es kam nichts zurück. Verunsichert setzte ich mich auf den leeren Platz an ihrer Seite und begrüßte sie.
„Salü, erinnerst du dich noch? Wir haben uns im Limmattalspital kennengelernt. Also, ich war Student im Praktikum, und du hast mich in die Kunst der Anästhesie und so eingeführt.“
Ich konnte sehen, wie es in ihr arbeitete. Ihre Gesichtszüge wirkten angespannt. Sie schien mich noch immer nicht zu erkennen.
„Aha, wann war das etwa?“
„Das liegt inzwischen nicht ganz vier Jahre zurück.“
„Ja, zu der Zeit arbeitete ich im Limmattalspital, aber es tut mir leid, ich kann mich beim besten Willen nicht mehr an dich erinnern. Wir haben eben sehr häufig Studenten zur Ausbildung bei uns gehabt, und mit Mundschutz und Häubchen sehen wir natürlich alle etwas anders aus.“
Die Unterhaltung schien ihr nicht sonderlich angenehm zu sein.
„Verstehe“, antwortete ich enttäuscht und konnte es kaum glauben, dass all ihre Erinnerungen verblasst waren, hatten wir uns doch auch ganz ohne Mundschutz und Häubchen gesehen, „Bei dir habe ich die erste Punktion machen können.“
„Das freut mich, wenn du damals auf den Geschmack gekommen bist, jetzt hast du dich offensichtlich auch für Anästhesie entschieden. Gefällt es dir hier im USZ?“, versuchte sie, das Thema zu wechseln.
„Mäßig, damals im Limmattalspital, da war es bedeutend besser, aber Anästhesie ist ohnehin nichts für mich, ich werde Internist“, antwortete ich enttäuscht und hatte keine Lust mehr, das Gespräch weiterzuführen.
Unmittelbar danach begann der Vortrag über die Pathophysiologie der Atmung. Doch davon bekam ich rein gar nichts mit, denn mich beschäftigte nur der Engel mit seinen offensichtlichen Gedächtnisdefiziten. Dieser ehemalige Engel war in meiner Wertung abgestürzt und hatte sich auf eine rein irdische Gestalt reduziert.
„Das ist ein guter Vortrag gewesen, findest du nicht auch?“, hörte ich den gefallenen Engel neben mir sagen. Offenbar war die Fortbildung zu Ende.
„Ja, wirklich eine sehr interessante Erfahrung“, log ich, und wir verabschiedeten uns.
Eigenartig, ich würde sie mein Leben lang nicht vergessen. Sie prägte mich und kann sich schon nach wenigen Jahren nicht mehr an mich erinnern. Was ist bloß los mit mir? Wie wirke ich auf andere, fragte ich mich; ich gehe durchs Leben und hinterlasse keine Spuren.
Alle verließen den Hörsaal, nur ich blieb sitzen und starrte Löcher in die Luft.
„Wartest du noch auf etwas oder kommst du nun?“, hörte ich eine deutlich tiefere männliche Stimme wie in weiter Ferne. Da sprach offenbar jemand mit mir, bemerkte ich mit etlicher Verzögerung, als der Satz schon verklungen war.
„Was ist denn nun?“
Ich schaute mich um. Tatsächlich, da stand Walker und fixierte mich. Nun kam mir alles wieder in den Sinn. Er hatte mich zu sich nach Hause eingeladen. Zusammen wollten wir lernen, denn uns stand eine Prüfung bevor. Alle neuen Assistenzärzte mussten einige Wochen nach Stellenantritt eine praktische Prüfung ablegen, und zwar beim Chefarzt Professor Rossi persönlich; darum hieß es auch die Rossiprüfung.
„Ja, ja ich komme. Entschuldigung Thomas, ich war noch im Gedanken versunken.“
„Verstehe, war schließlich ein guter Vortrag. Also gehen wir.“
Walkers Wohnung lag ganz in der Nähe der Klinik, so konnten wir bequem zu Fuß hingehen. Auf sein Zuhause am Zürichberg, einem der vornehmsten Quartiere der Stadt, musste er sehr stolz sein. Schon sehr oft hatte er von seiner Wohnung geschwärmt, deutlich mehr, als von seiner Frau. Deshalb war ich auf beides sehr neugierig.
Wie üblich war Thomas Walker auch unterwegs sehr gesprächig.
„Die Renovierungsarbeiten haben mich beinahe ein Jahr Zeit gekostet“, erzählte er mir nicht zum ersten Mal, diesmal aber noch detaillierter.
„Hier ist es“, sagte er schließlich stolz, als wir vor einer stattlichen Jugendstil-Villa an der Titlisstraße standen. Ich war beeindruckt von der Größe des Hauses. Als Erstes fielen mir die großen Fensterfronten und die verspielten rundlichen Erker auf.
„Das sieht ja wirklich vielversprechend aus“, sagte ich, und irgendwie passte dies alles auch hervorragend zu Walker. Eine Außentreppe, auf der linken Seite von Lorbeersträuchern flankiert, führte uns zur Eingangstüre. Dort prangte ein unübersehbar großes, poliertes Messingschild. Dr. Th. Walker stand da in unbescheiden großen Lettern.
Während wir das ehrwürdige, pedantisch saubere Treppenhaus hochstiegen, dachte ich darüber nach, dass Thomas seine Doktorarbeit noch gar nicht geschrieben hatte und demnach auch den Doktortitel verfrüht auf das Messingschild gravieren ließ.
Die Wohnung befand sich im ersten Stock. Thomas Walker öffnete die massive Türe und bat mich überfreundlich einzutreten. Eigentlich war ich darauf vorbereitet, aber trotzdem staunte ich schon beim ersten Blick in den Eingangsbereich. Hier standen lauter Kostbarkeiten.
Gerüchten nach stammte Thomas Ehefrau aus einer sehr wohlhabenden Familie. Das Haus, in dem die beiden wohnten, war ein alter Familienbesitz, die Räume waren riesig, und alles war sehr stilvoll eingerichtet. Geschmack hat er, war mein zweiter Gedanke, nachdem ich mich etwas an die Dimensionen gewöhnt hatte.
„Das ist Nicole, meine Frau“, stellte er die junge Dame vor, die eben aus einem Seitenzimmer auf uns zukam.
Nicole studierte Kunstgeschichte und Archäologie. Innerlich musste ich lächeln, da mir der Kommentar des Alptraumchirurgen in den Sinn kam; Kunstgeschichte, Archäologie, brotlose Kunst. Wer sich mit nichts als alten Steinen beschäftigt, kann nur die Tochter steinreicher Eltern sein.
Die junge Frau kam mir bekannt vor, aber ich wusste nicht, wo ich sie einordnen sollte. Nicole, ihrerseits, schaute mich nur kurz an. Sie schien mich nicht zu kennen.
Zunächst wusste ich nicht, ob ich Nicole sympathisch finden sollte. Sie wirkte etwas teilnahmslos, und so fühlte ich mich nicht eben willkommen. Eine Schönheit war sie nicht gerade, sie wirkte ziemlich unscheinbar. Das Gesicht war voller Pickel, aber ihre Kleidung bestand aus erstklassigen Markenartikeln. Meine Fragen beantwortete sie nur mit ja und nein. So musste ich mein Urteil über Walkers Geschmack bereits wieder etwas revidieren. Nach dem ernüchternden ersten Eindruck von Tomis kühler Ehefrau hoffte ich immerhin, sie würde im Laufe des Abends noch etwas auftauen. Eine zweite Chance wollte ich der einsilbigen Nicole zumindest noch zugestehen.
„Ihr wohnt hier wirklich an einem herrlichen Ort, und alles ist so hell und großzügig bemessen. Wirklich schön habt ihr es hier. Da muss es einem einfach gefallen“, versuchte ich sie aus der Reserve zu locken.
„Ja, doch“, war Nicoles Antwort. Ihre Gesichtszüge blieben ohne Regungen und sofort schweifte ihr Blick wieder zu Thomas Walker. Immerhin schon zwei Silben, dachte ich.
„Schlage vor, wir schauen uns zuerst mal die Wohnung an“, meinte Walker.
Unablässig kommentierend schritt er voran, und Nicole folgte ihm auf dem Fuß. Arbeitszimmer, Badezimmer, ja selbst das Schlafzimmer führte er mir vor, danach die Küche, natürlich mit allen vorstellbaren Extras. Schließlich gelangten wir zum Prunkstück der ganzen Wohnung, dem dreigegliederten Salon, der mich spontan an Versailles erinnerte. Beeindruckend war der Boden aus blitzblankem antikem, aber perfekt gepflegtem Parkett. Der erste, größte Teil des Salons, das eigentliche Wohnzimmer, bestand aus einer Sitzgruppe mit luxuriösem Überzug, in der Mitte ein großer Mahagonitisch. Eine Unzahl von Leuchten und Lampen auf kleinen Beistelltischchen erleuchteten den großflächigen Raum und verliehen ihm ein stilvolles Ambiente. Alles passte hier zusammen, für mich war dies allerdings eine Spur zu perfekt und zu aufgeräumt, beinahe überästhetisch.
Verglichen mit meiner Wohnung war das eine andere Liga. Doch ich fand mein zu Hause, trotz kreativem Chaos, gemütlicher.
Gegen Süd-Osten gelangte man vom Salon zum gedeckten Balkon, einem Wintergarten. Riesige Blumentöpfe mit Palmen standen dicht beisammen. Nach Süden hin wies der Raum eine durchgehende langgezogene Fensterfront auf mit einer wunderschönen Aussicht auf Zürich. An der gegenüberliegenden Wand hingen Ölbilder mit Schweizer Landschaften.
Ein kleines Mäuerchen ragte halb in den Raum und grenzte das Wohnzimmer vom Esszimmer ab. Dieser Raum wurde von einem riesigen Tisch aus massivem Holz angemessen ausgefüllt. Die Anzahl der Stühle reichte selbst für größere Einladungen. Auf dem länglichen Holztisch standen ein silberner Kerzenständer, eine Fruchtschale sowie ein Blumenstrauß. Es wirkte wie ein altmeisterlich arrangiertes Stillleben.
Der dritte Teil des Salons wurde abermals von einer Wand, die halb in den Raum ragte abgetrennt. Dort befand sich ein weiteres Arbeitszimmer.
Wir begaben uns zurück zur Sitzgruppe.
„Wirklich eine wunderschöne Wohnung. Mich beeindrucken Symmetrie und Proportionen. Sicher hast du das so stilvoll eingerichtet Nicole, nicht wahr?“, wollte ich sie zum Reden bringen.
„Ja danke, wir fühlen uns auch wohl hier. Tomi hat ja auch so viel selbst renoviert.“
„Das sah hier vor einem Jahr noch ganz anders aus“, ergänzte Thomas Walker, „mit dem jetzigen Zustand ist das überhaupt nicht mehr vergleichbar“. Walker unterstrich seine Aussage, indem er seine Brauen in gewohnter Manier hochzog und eine Kunstpause einlegte.
Danach holte er etwas Weißwein aus dem Kühlschrank.
‚Es wird auch höchste Zeit‘ dachte ich.
Kurze Zeit später holte Nicole ein paar Brötchen aus der Küche. Viel Zeit schien sie allerdings nicht für die Zubereitung verschwendet zu haben.
„Ihr habt jetzt bald Ferien, wenn ich mich recht erinnere?“, fragte ich nach dem Anstoßen und schaute dabei Nicole an.
„Ja, übernächste Woche. Da freuen wir uns riesig darauf“, antwortete sie und es schien, dass ihr dieses Thema eher behagte. Ihre bisher monotone Stimme wurde etwas lebendiger. Ja, diese Stimme hatte ich schon einmal gehört, die Stimme kam mir nun zunehmend vertraut vor, aber ich konnte sie immer noch nicht einordnen.
„Wir wussten lange nicht, wohin die Reise gehen sollte“, ergänzte Walker, „wir sind beide schon an so vielen reizenden Orten gewesen. Ich habe die Malediven favorisiert, aber da Nicole schon zweimal dort gewesen ist, mussten wir eine andere Destination suchen. Nicole bevorzugt die Karibik, aber da wollte ich nicht schon wieder hin, und so haben wir uns dann nach ausgedehnten Überlegungen auf die Seychellen geeinigt. Leider nur für zehn Tage, aber immerhin.“
„Verstehe“, meinte ich teilnahmsvoll.
„Wir haben Abend für Abend Ferienprospekte studiert, bis wir unser Ziel gefunden haben“, sagte Nicole, bereits wieder mit ernster Miene.
Da konnte ich es mir dann doch nicht verkneifen: „Euer Problem wird von Jahr zu Jahr größer. Was macht ihr da bloß in Zukunft?“
„Da werden wir uns eben etwas Neues einfallen lassen!“, und Walkers Stimme klang eine Spur weniger humorvoll.
„Die Hochzeitsreise müssen wir auch mal noch nachholen, dazu sind wir leider immer noch nicht gekommen, und das soll dann etwas ganz Besonderes werden, mit mindestens drei Wochen am Stück“, ergänzte Nicole.
„Ich fahre in meinen Ferien wahrscheinlich nach Venedig, obwohl ich auch schon dort war, aber mir gefällt es so gut, dass es mich immer wieder dorthin zieht“, erzählte ich, weil meine Gastgeber nicht auf die Idee kamen, mich nach meinen Ferienplänen zu fragen.
„Ja, schön“, erwiderte Nicole. Damit war das Thema beendet.
Schließlich begannen wir dann mit dem Kernpunkt des Abends, den Vorbereitungen für die Rossiprüfung.
„Übrigens“, begann Walker, „ich habe mit der Sekretärin von Rossi gesprochen und als sie mal kurz weg musste, da habe ich einen Blick in ihre Agenda geworfen. Am Montag, dem Tag unserer Rossiprüfung, da steht groß und deutlich geschrieben: Engström organisieren. Ich denke, wir sollten den guten alten Engström-Beatmungsapparat nochmals repetieren. Du hast gesagt, dass du dich da gut auskennst.“
„Du bist mir vielleicht ein kleiner Schelm“, entgegnete ich nach kurzer Sprachlosigkeit. Solche raffinierten Spielchen hätte ich Thomas gar nicht zugetraut.
„Ja, das würde man gar nicht von ihm denken“, fügte Nicole verschmitzt an. Erstmals kehrte etwas Leben in ihre Mimik, und in diesem Moment kam es mir schlagartig in den Sinn.
„Nicole, wir kennen uns“, rief ich plötzlich aus, „ich überlege es mir schon den ganzen Abend, jetzt ist es mir eingefallen. Wir sind zusammen in Höngg zur Schule gegangen, ins Lachenzelg Schulhaus. Du warst in der Parallelklasse!“ Ich freute mich über die unerwartete Begegnung, wie ich mich immer freute, Freunde und Bekannte wieder zu treffen.
„Ja, stimmt, jetzt kann ich mich auch wieder, wenn auch schwach, an dich erinnern“, meinte Nicole ohne Gefühlsregung. Viel mehr ließ sie sich dazu nicht mehr entlocken, und diese Reaktion enttäuschte mich. Bei Nicoles mangelndem Interesse für die Vergangenheit verzichtete ich auf die Fortführung dieser Unterhaltung.
Nur Walker fand diese Begebenheit ebenfalls spannend.
„Martin hat dich wohl nicht besonders beeindruckt?“
„Seid ihr nicht zum Lernen hierhergekommen?“, blockte Nicole ab, und so wandten wir uns wieder der Anästhesie zu.
Es zeigte sich bald, dass Walker gewisse Defizite im Verständnis des Beatmungsgerätes aufwies. Ich erklärte ihm alles genau, benötigte aber einige Zeit, bis er es begriffen hatte.
Es war schon gegen halb zwölf, als er endlich sein Heureka-Erlebnis hatte.
Beruhigt trank ich mein Glas aus und verabschiedete mich.
Walker begleitete mich zur Haustüre, und noch einmal warf ich einen Blick auf das Messingschild mit dem selbstverliehenen Doktortitel. Im Gegensatz zu mir schien Walker eine Überdosis an Selbstvertrauen zu besitzen. Einerseits staunte ich über diese Eigenschaft, auf der anderen Seite fragte ich mich aber, ob er nicht doch auch gewisse Zweifel zu überspielen versuchte. Im Gespräch hielt er sich stets bedeckt, wenn ich mit ihm über meine Probleme mit der Verantwortung im Beruf zu sprechen begann.
Auf dem Nachhauseweg musste ich an Nicole denken. Schon als Kind war sie ein blasses, unscheinbares Mädchen. Schmunzeln musste ich über das Gerede zu unserer Schulzeit, wir seien ein Paar. Nie hatte ich herausgefunden, wer diese Gerüchte in Umlauf gesetzt und ein Herz mit Pfeil und unseren Namen an die Schulhauswand gezeichnet hatte.