Читать книгу Die Rückseite der Wahrheit - Riccardo del Piero - Страница 14
ОглавлениеTod und Tränen
Mit einem Schlag waren all meine Gedanken gelähmt. Die unfassbare Nachricht erschütterte mich vollkommen.
„Das kann doch nicht wahr sein! Das kann doch einfach nicht sein!“, hörte ich mich wie im Traum sprechen. Die Zeit schien stehenzubleiben, der Moment dehnte sich unerträglich. Überrumpelt von all den wild einschießenden Emotionen war ich nicht in der Lage, klar zu denken. Es dauerte lange, bis sich endlich meine Verstandesstimme meldete. Vielleicht, sagte sie mir, ist ja alles wirklich nur ein böser Traum.
„Nein, sag, dass das nicht stimmt! Ich kann es nicht glauben!“, insistierte ich.
Ernste Gesichter blickten mir entgegen.
„Leider doch. Céline Jaquet ist in der Nacht gestorben.“
Das beengende Schmerzgefühl breitete sich weiter in mir aus. Ich konnte nur noch mit Mühe sprechen und fühlte, dass das Atmen schwerer fiel.
Sofort machte ich mich auf den Weg zur Bettenstation. Ein Kollege übernahm meine erste Narkose. Unterwegs schossen mir wirre Gedanken durch den Kopf. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben. Doch die Hoffnung darauf, Céline Jaquet lebend vorzufinden, schwand zusehends.
„Warum“, fragte ich mich, „warum musste gerade dieser junge Mensch sterben, der das Leben noch vor sich hatte? Wieso wurde Céline aus voller Gesundheit in den Tod gerissen? Täglich wurden hier im Hause Dutzende Patienten operiert, darunter viele ältere, sogar sehr alte Menschen mit schweren Erkrankungen – und nichts passierte. Sie verließen die Klinik gesund. Aber die junge Céline Jaquet, die vorher noch nie krank war, musste sterben. So etwas erwartete niemand. Es war das undenkbarste, unlogischste Ereignis; einfach unfassbar. Vielleicht tat ich mich besonders schwer mit unabänderlichen Fakten. Vielleicht glaubten wir Ärzte, wir könnten stets noch eingreifen? Doch ein toter Patient ist nicht mehr zu beeinflussen. Der Tod ist das Unwiderruflichste überhaupt.
Angekommen auf der Station FO III fand ich eine unveränderte Abteilung vor, nichts deutete auf eine eingetretene Katastrophe. Offenbar nahm hier der Alltag seinen gewohnten Gang.
Ich betrat das Ärztebüro und erblickte als Erstes den Albtraumchirurgen, der an seinem Pult saß. Erstmals sah ich ihn mit ernstem Gesicht. Er diskutierte mit seinem Oberarzt, Célines Operateur. Es war ein absolut außergewöhnliches Ereignis, an einen gewöhnlichen Arbeitstag, um diese Zeit gleich zwei Chirurgen im Büro vorzufinden. Zu dieser frühen Stunde operierten sie meistens. Die beiden wirkten betroffen.
„Unglaublich, dass so etwas passiert ist. Ein Todesfall in meiner Abteilung! Ich habe es erst geglaubt, als ich sie sah. Schrecklicher Anblick“, der Albtraumchirurg machte eine rasche Handbewegung, als wollte er damit das Bild aus seiner Erinnerung löschen. Offenbar schien ihm die Verdrängung einigermaßen gelungen zu sein, denn seine Miene hellte sich in diesem Moment wieder leicht auf.
„So ist’s im Leben, du weißt nie was kommt. Ja, die schöne Céline hat abgetanzt.“ Damit schien die Sache für ihn emotional wohl schon abgehakt zu sein.
„Ich bin fassungslos. Wisst ihr, was da in der Nacht geschah?“, fragte ich.
„Damit beschäftigen sich nun die Gerichtsmediziner, die können dir bald mehr sagen. Man hat die Patientin nachts tot im Bett vorgefunden. Ohne Vorzeichen ist sie uns einfach weggestorben. Du hast ja noch mitbekommen, dass sie nach der Operation starke Schmerzen hatte, dann ist sie irgendwann mal eingeschlafen und … na ja, nicht mehr aufgewacht.“
In diesem Moment kam es mir schlagartig in den Sinn. „Ich vermute, dass sie an einem Atemstillstand gestorben ist“, warf ich hastig ein, „kommt bei Dolofug-Injektionen ganz selten vor. Dabei hatten wir doch nur eine halbe Ampulle verordnet, diese Dosis sollte doch jeder vertragen, selbst ein Federgewicht wie die Tänzerin.“
„Schon möglich, dass dies die Ursache war, aber leider können wir jetzt an der Situation nichts mehr ändern“, meinte der Oberarzt, der bisher nur in den Akten geblättert und zugehört hatte. Augenscheinlich ging ihm die Angelegenheit auch nahe.
Mein Bewusstsein war emotional vernebelt, und ich nahm gar nichts mehr auf, was der Chirurg sonst noch alles sagte. Erst etwas später schaltete sich mein Verstand wieder ein und versuchte, die immer stärker wogenden Gefühle wieder etwas zu glätten.
„Ich bin an diesem Tod mitschuldig. Die Verordnung für das Schmerzmittel, das wohl den todbringenden Atemstillstand bewirkte, stammt von mir“, versuchte ich meine unmittelbaren Gedanken auszudrücken.
„Es kann sich hier gar nicht um einen Fehler handeln“, wandte der Oberarzt sofort ein, „denn das ist eine Standardverordnung. Gang und gäbe. Jeder Frischoperierte erhält nach einem solchen Knieeingriff dieses Schmerzmittel. Ich habe wirklich noch nie erlebt, dass danach ein Atemstillstand aufgetreten ist, und ich bin nun wirklich auch schon eine Weile im Geschäft!“
Doch all diese rationalen Überlegungen änderten nichts an meiner schmerzlich zehrenden Fassungslosigkeit, die sich nun zunehmend mit Schuldgefühlen mischte. All die stets gleichen, kreisenden Gedanken, alle Überlegungen halfen angesichts der Endgültigkeit der Tatsachen nicht mehr weiter und konnten nichts mehr ungeschehen machen.
Sprachlos stand ich da.
Als Célines Angehörige eintrafen, musste das Gespräch unterbrochen werden. Ich verließ das Zimmer, sah draußen die Jaquets im Gang, und diesen Anblick werde ich nie mehr vergessen. Er brannte sich unauslöschlich in mein Gedächtnis und verstärkte das Gefühl des Leids. Für einen Moment musste ich an die frische, kühle Luft und versuchte, mich im parkartigen Innenhof des Universitätsspitals etwas zu sammeln. Die einzige Empfindung, die ich in meiner Niedergeschlagenheit spürte, war ein tiefer, intensiver Schmerz. Das Unfassbare war Realität geworden: Céline würde auf dieser Welt nie mehr tanzen.
Danach begab ich mich ins Stationszimmer. Augenblicklich spürte ich die erdrückende Stimmung. Die Krankenschwestern, ich kannte nur wenige, saßen am Tisch und sprachen leise. Auch der Oberarzt und die Oberschwester waren dabei, sie informierten das Pflegepersonal. Überall ernste, betroffene Gesichter und mittendrin erkannte ich mein Traumgesicht, dessen Augen vom Weinen ganz rot waren. Offenbar war die Unterredung zu Ende und alle erhoben sich. Nur das Geräusch der Stühle beim Wegschieben war zu hören.
Sie kam auf mich zu, begleitet von ihrer Kollegin. Die sonst so lebenslustigen, jungen Frauen waren sichtlich gezeichnet.
„Gestern noch haben wir Céline gepflegt. Es ist einfach alles so schrecklich, so unfassbar“, sprach sie beinahe schluchzend. „Ich fühle mich schlecht, denn ich bin schuldig, weil sie an dieser Spritze mit dem starken Schmerzmittel gestorben ist, das weiß ich inzwischen.“
Da versuchte ich sie etwas zu trösten: „Sie trifft doch überhaupt keine Schuld. Die Spritze haben Sie ja auf Verordnung hin verabreicht. Also wirklich, Sie müssen sich keine Sorgen machen. Zudem stehen die exakte Todesursache und -zeit noch gar nicht fest; es ist auch möglich, dass die Untersuchung etwas anderes ergibt. Es ist noch zu früh für eine Beurteilung.“
Sie nickte, schien aber von meinen Worten wenig überzeugt zu sein.
„Natürlich verstehe ich Ihre Fassungslosigkeit“, fuhr ich fort, „wir alle können es kaum glauben. Auch ich bin tief betroffen, und mir geht das sehr, sehr nahe. Auch ich überlege mir immer wieder, ob wir das hätten vorhersehen können? Oder warum haben wir nicht ein anderes Schmerzmittel verwendet?“
Sie überlegte und schaute ins Leere.
„Glauben Sie denn auch, dass diese Spritze tödlich war?“, fragte die zweite Schwester, die bisher kaum etwas gesagt hatte.
„Möglich, aber wir sollten jetzt die gerichtsmedizinische Untersuchung abwarten.“
Danach eröffneten mir die zwei Krankenschwestern unter Tränen etwas, was mich völlig aus der Bahn warf.