Читать книгу Die Rückseite der Wahrheit - Riccardo del Piero - Страница 5
ОглавлениеGrün und kühl
Grün dominiert, ein unreiner, kühler Farbton, dem die Wärme fehlt. Alles in Grün, nur Grün, so weit das Auge reicht. Ich war mitten in der grünen Welt, die ich nicht liebte, aber dennoch, sie faszinierte mich unheimlich. In meinem Innern fühlte ich mich seit jeher zur weißen Welt hingezogen, das war mein Ziel, aber das lag in weiter Ferne. Zunächst galt es, sich hier zu behaupten.
Seit zwei Monaten war ich schon in der grünen Welt. Es war nicht die Idylle, die ich mir vorstellte, und mein Engel war nicht da. Vergeblich hatte ich ihn überall gesucht. Wenigstens hatte ich in dieser grünen Wildnis einen Freund gefunden. So ging alles etwas besser.
Leicht war es nicht, hier Fuß zu fassen. Naiverweise hatte ich mir vieles leichter vorgestellt. Doch ich sammelte meine Erfahrungen und durchschaute die Abläufe und Gesetzmäßigkeiten in dieser geschlossenen, hierarchischen Welt. Im täglichen Kampf ums Überleben setzte sich der Stärkste durch. Die weniger lebensfähigen Individuen wurden eliminiert.
Immer noch war ich auf der Suche nach meinem Platz. Inzwischen hatte ich gelernt, stets auf alles gefasst zu sein, denn überall lauerten Gefahren. Doch in jenem Moment fühlte ich mich sicher, obwohl … das lange Warten zermürbte mich allmählich. Ich war voller Tatendrang, und nichts passierte. Möglicherweise war ich zu ungeduldig.
Mir war kalt, und ich fühlte mich an diesem dunklen Frühlingsmorgen im März um sieben Uhr vierzig nicht besonders wohl.
„Wann kommt sie denn endlich?“, fragte ich mich von neuem und lief auf und ab wie ein Raubtier. Inzwischen war es ruhiger geworden um mich herum. Die dezente Hektik, das Stimmengewirr verebbte nach und nach.
Endlich öffnete sich die Lifttüre und meine Patientin, auf die ich so lange gewartet hatte, wurde in den grünen Operationsbereich hereingefahren.
„Wir wären alle noch ein bisschen glücklicher, wenn sie uns die Patientin wie vereinbart um sieben Uhr dreißig gebracht hätten, jetzt ist es bereits 15 Minuten später“, begrüßte ich die zwei Krankenschwestern. Sie hatten den Auftrag, ihre Patientin für einen Krampfadern-Eingriff an den Beinvenen vor den richtigen Operationssaal zu bringen, und es gab viele solcher Säle im Universitätsspital Zürich. Da hier alles schnell gehen musste, sprach niemand vom Operationssaal, sondern er hieß nur OPS.
Die eine schaute mit einem leisen Anflug von Schuldbewusstsein zur Seite, während die andere, strohblonde, selbstbewusst antwortete: „Nichts zu machen. Die wenigen Fahrstühle sind um diese Zeit hoffnungslos besetzt, wir mussten ja auch so lange warten.“ Ein leicht bissiger Unterton war unüberhörbar. Es folgte ein kurzer, medizinischer Informationsaustausch, deutlich emotionsärmer, danach rollte ich die Patientin schnellstmöglich an ihren Bestimmungsort: OPS Nummer 5 der Visceralchirurgie1 im Stockwerk D.
Wieder einmal arbeitete ich im hintersten und abgelegensten aller Säle. Doch zunächst galt es, sich geschickt durch den überfüllten Gang zu schlängeln. Nicht einmal meine Routine als früherer Slalomfahrer half mir. Hier verlor ich nicht Sekundenbruchteile, sondern weitere Minuten. Den zeitlichen Rückstand aufzuholen, war schon jetzt völlig unmöglich. Die Patientin sollte um diese Zeit bereits im Zustand der Narkose sein.
Jeden Morgen waren fünf Anästhesieteams damit beschäftigt, für fünf Operationssäle ebenso viele Patienten vorzubereiten. Die Operationen sollten alle zur selben Zeit beginnen. Bei nur zwei Liften in diesem Kliniktrakt, war das schlicht undurchführbar. Ich dachte, dies sei allen, auch unseren Oberärzten, klar.
Als ich bei Operationssaal vier um die Ecke bog, wo der Gang schmaler wurde und die Gummiräder quietschten, fragte ich mich, warum ich so häufig für Saal fünf eingeteilt wurde.
Endlich dort angekommen, fand ich einen blitzblanken, nach Desinfektionsmitteln riechenden, aber völlig verwaisten Raum vor. In diesem hell erleuchteten Saal glänzten nur einige technische Geräte. Anästhesieschwester Anita, die mir helfen sollte, war abwesend. Jetzt nur kühlen Kopf bewahren, sagte ich mir, sonst wird alles schlimmer. Weitere kostbare Minuten vergingen, bis ich Anita, wie vermutet, im Kaffeeräumchen entdeckte.
„Ist dein Koffeinspiegel schon genügend hoch, um gelegentlich mal mit mir die Narkose einzuleiten?“, fragte ich sie und überwand mich zu einem Lächeln.
„Aha, ist es jetzt endlich soweit. Ich habe nämlich schon eine ganze Weile gewartet“, meinte die Angesprochene leicht verlegen, nahm einen letzten Schluck Kaffee und stand eilig auf.
Kurz vor acht näherten sich die Chirurgen. Sie warteten ungeduldig auf ihren Einsatz und sahen mich vorwurfsvoll an. Ich erklärte ihnen kurz die Sache mit der Verspätung, ehe wir zügig loslegten.
Kaum hatte ich den Katheter für die Infusion am Unterarm gesteckt, erschien der relativ frischgebackene Oberarzt Dr. Hans Huber im Saal.
Er war großgewachsen und hager, sein braungebranntes Gesicht kantig. Unter der voluminösen Haube, die alle im Operationsbereich trugen, verbarg sich lockiges Haar. Sein Schnurrbart war durch den Mundschutz bedeckt. Huber schaute sich um, seine Brauen zogen sich zusammen, dann bemerkte er kurz und scharf: „Noch nicht weiter?“ und verließ den Saal wieder.
Um die Verspätung nicht weiter zu vergrößern, verzichtete ich auf eine erneute Erklärung für den Rückstand. Zudem war ich froh, ohne Kollege Huber weiterarbeiten zu können; ich fühlte mich in seiner Anwesenheit immer etwas beobachtet und dementsprechend unsicher. Sein stechender Blick verwirrte mich. Mit seinen Kommentaren konnte ich nicht viel anfangen. Für gute Ratschläge wäre ich dankbar gewesen, denn als frisch diplomierter Arzt war ich ein Anfänger, zwar mit reichlich theoretischem Wissen ausgestattet, aber mit wenig praktischer Erfahrung. So holte ich mir die Tipps von älteren Assistenzärzten oder eben von den Anästhesieschwestern, wie Anita.
Dank Koffeinstärkung unterstützte sie mich eifrig und reichte mir alle Utensilien wie gewünscht. Ausnahmsweise sprach sie dabei nur das Notwendigste: „Da ist die Spritze mit dem Hypnotikum Pentothal.“ Kaum war die gelbliche Flüssigkeit gespritzt, verlor die Patientin das Bewusstsein.
Ich fühlte mich beobachtet, denn Anita hielt die ganze Zeit über Blickkontakt mit mir. Ihre Augen waren aufmerksam, weit offen. Erstmals bemerkte ich, was mir bisher entgangen war, ihre Augenfarbe war tiefbraun, ein wunderschöner Farbton, den ich selten in dieser Intensität wahrgenommen hatte. Etwas in Anitas Blick fand ich einzigartig, wobei ich nicht zu sagen vermochte, was es war.
Da im Operationssaal alle Akteure neben der grünen Berufswäsche einen Mundschutz sowie eine Kopfhaube trugen, stellten die Augen, wie im Orient, den einzigen unverhüllten Gesichtsteil dar, auf den sich alles konzentrierte. Alle Frauen, die im Operationsbereich arbeiteten, pflegten wohl deshalb ihre Augen besonders liebevoll.
Seit ich im Operationssaal arbeitete, achtete ich mehr auf die Augen meiner Kolleginnen und Kollegen. Ich glaubte, mittlerweile einiges daraus lesen zu können.
Die Patientin war tief narkotisiert und alles lief planmäßig. Selbst der Ärger der Chirurgen über die Verspätung war verflogen, denn sobald sie operierten, waren sie in ihrem Element und rundum zufrieden.
Noch immer stand Anita neben mir. Sie fixierte weder die Patientin noch die Narkosegeräte. Ihr Blick war, wie ich deutlich spürte, auf mich gerichtet und ich wandte mich ihr zu. Sie lächelte. Machte sie mir schöne Augen?
„Du rufst mich, wenn du Hilfe brauchst, ich muss weiter“, sagte sie und verließ den Saal. Ich schaute ihr nach und verwarf meine Idee augenblicklich wieder. Stattdessen beschäftigte ich mich mit den blauen Augen der Patientin und kontrollierte, ob sie fachgerecht geschlossen und gesalbt waren.
Die Operation kam nur schleppend voran, und meine Narkose war ereignisarm oder schlicht langweilig. Nach einer Weile kam Anita wieder in den Saal und fragte, ob ich etwas bräuchte. Ich verneinte, trotzdem setzte sie sich zu mir. Anfangs hatte es mich irritiert, dass Chirurgen und Anästhesisten während einer OP nur von Dingen sprachen, die nichts mit der Arbeit zu tun hatten. Inzwischen machte ich es ebenso.
„Du hast dich schon ganz gut eingearbeitet“, sagte Anita sehr leise, „gefällt es dir bei uns?“
Die Antwort fiel mir schwer.
„Für die Anästhesie konnte ich mich bisher noch nicht recht erwärmen. Natürlich hat es sehr spannende Aspekte. Es ist absolut faszinierend, einen Menschen von einem Moment zum andern vom Wachzustand in einen tiefen Schlaf zu versetzen.“
„Ja, das finde ich auch“, meinte Anita, „wobei Narkose mehr ist als Schlaf. Der Patient ist nicht mehr aufzuwecken, er ist narkotisiert, tiefer als im Schlaf und ohne Selbstkontrolle, und mir gefällt die Aufgabe, die schutzlosen Narkotisierten während dieser Zeit zu betreuen.“
„Sicher. Unsere Arbeit ist sehr verantwortungsvoll. Die Narkose ist ein Zustand in der Nähe des Todes.“
„Man sagt, der Schlaf sei der kleine Bruder des Todes“, meinte Anita, indem sie etwas näher zu mir rückte.
Ich nickte.
„Doch was ist die Narkose?“ Anita machte große Augen.
„Die Narkose ist seine große Schwester“, antwortete ich.
„Siehst du“, meinte Anita und nickte anerkennend, „das ist doch alles sehr aufregend.“
„Das trifft für Anfang und Ende der Narkose zu. Aber dazwischen passiert meistens nicht viel, und das finde ich eben nicht so spannend.“
„Das macht doch nichts“, entgegnete Anita, „es tut uns auch gut, wenn wir uns mal etwas erholen können. Vielleicht gibt es darum auch so viele Witze über Narkoseärzte, die bei ihrer Arbeit einschlafen. Doch diese Witze stammen meist von den Chirurgen!“ Anita bemerkte dies etwas lauter und provokativ in Richtung der Operierenden, die nicht reagierten.
„Falls während der Narkose nichts passiert, kannst du zuschauen, was die Chirurgen so machen. Zugegeben, eine Varizenoperation ist kein Höhenflug der Chirurgie“, fügte Anita bedeutend leiser an.
Trotzdem schienen die Chirurgen diese Bemerkung gehört zu haben.
„Dir werde ich jetzt gleich zu einem Höhenflug verhelfen“, antwortete der eine Chirurgie-Assistenzarzt.
„Mit einem Flug lässt sich unsere Arbeit durchaus vergleichen“, nahm ich das Thema auf, „unser Passagier heißt Patient und geht hoffentlich nicht in die Luft, sondern taucht in einen tiefen Schlaf ab.“
„Dieser Vergleich gefällt mir. Am liebsten würde ich jetzt auch gleich losfliegen. Fliegst du mit mir weg? Wohin geht die Reise?“, fragte die etwas sprunghafte Anita.
„Vielleicht in die Karibik oder nach Australien?“
„Das ist gut, sehr gut, also nichts wie hin!“, rief Anita und lachte erfrischend.
„Ich glaube, wir haben noch keine Starterlaubnis“, antwortete ich.
„Daran wird es wohl scheitern. Verschieben wir unseren Traum erst mal.“
Anita wollte den Operationssaal verlassen, drehte sich dann aber nochmals um.
„Einer der Unterschiede zwischen Narkose und Flug besteht aber darin, dass die Piloten stets zu zweit sind, während sich dein Oberarzt oft nicht im Cockpit befindet“, meinte sie.
„Er ist eben meistens im Tower“, versetzte ich.
„Gute Umschreibung für das Kaffeeräumchen. Da musst du nachher unbedingt auch hin und den feinen Kuchen versuchen. Der ist so groß, da kann auch Huber mit bestem Appetit noch nicht alles aufgegessen haben“, fügte sie schelmisch hinzu.
Ich mochte Anita wegen ihres Humors, wenn er zuweilen auch etwas kindlich wirkte. Sie war allgemein beliebt und verbreitete gute Laune. So passte sie perfekt in die grüne Welt. Anästhesie war ihr Ding.
Schmunzelnd schaute ich ihr nach. Lebhaft wie ihr Wesen war auch ihr Gang. Bei jedem Schritt wippte ihr pummeliger, etwas kleingewachsener Körper mit, und die auffallend schwarz gelockten Haare schimmerten unübersehbar durch das Häubchen.
Die Operation wurde fast zum Alptraum, denn das Arbeitstempo lag im Zeitlupenbereich. Da wurde mir klar, dass an den Gerüchten über diesen Chirurgen doch etwas dran sein musste. Es hieß, er sei der Langsamste und nichts laufe bei ihm, außer Schweiß und Mundwerk.
Die Klapptüre zum OPS öffnete sich wieder hörbar, und Anita kehrte zurück in den Saal. Sie selbst, mit starken Beinen ohne Krampfadern, kam aber nicht, um mir eine Zwischenverpflegung zu servieren, sondern um mich bei der Narkoseausleitung zu unterstützen.
„Es gibt noch genügend Kuchen. Konzentrier dich aber trotzdem, und mach mir keine Bruchlandung“, raunte sie mir zu und richtete sich bequem auf einem Hocker ein.
„Müsst ihr andauernd tratschen?“, hallte es harsch von der Chirurgenseite her. „Ihr fliegt nächstens, und zwar aus dem Saal raus.“
„Ich glaube, jetzt passiert doch noch etwas. Wir haben plötzlich mit unerwarteten Turbulenzen zu rechnen“, meinte ich zu Anita.
„Wir werden unseren Funkverkehr auf das Nötigste beschränken“, beruhigte Anita mich und unterdrückte ein Lachen.
Nach sagenhaften zweieinhalb Stunden war diese Operation zu Ende. Wir schafften eine Punktlandung, denn kaum hatten die Chirurgen die Beine fertig eingebunden, erwachte die Patientin. Dies schien kaum jemand zur Kenntnis zu nehmen.
Doch ich war froh, denn nun hatte ich eine Pause bis zur nächsten Operation. Erleichtert warf ich meinen Mundschutz fort und betrat zusammen mit Anita den Kaffeeraum um die Ecke. Ich freute mich auf eine kleine Stärkung. Als Erstes fiel mein Blick auf Oberarzt Huber, der sich genüsslich den Mund abwischte. Ich kannte seine Schwäche für Süßigkeiten.
Huber schaute mich durch runde Brillengläser eindringlich an.
„Na, seid ihr auch noch fertig geworden? Du musst übrigens unbedingt von diesem feinen Kuchen versuchen!“
Seine Stimme klang plötzlich ebenso süß, wie der angesprochene Kuchen schmeckte. Das war typisch für ihn. Manchmal war er überfreundlich, und bei der nächsten Begegnung mürrisch, herablassend und abschätzig kühl. Dementsprechend war seine Stimme mal honigsüß, mal sauer wie Zitrone. Dieses Verhalten hatte sich seit der Beförderung zum Oberarzt vor drei Wochen eindeutig verstärkt. Die neue Position hatte sein Selbstwertgefühl offensichtlich überproportional gestärkt. Noch mehr aber genoss er das Privileg, die Narkosen nicht mehr selbst einleiten zu müssen, sondern sie nur noch zu überwachen. Die Hauptaufgabe der Oberärzte bestand darin, für irgendwelche Eventualitäten präsent zu sein. Dieser Bereitschaftsdienst war natürlich auch bei Kaffee und Kuchen möglich. Jeder wusste also, wo Oberarzt Dr. Huber am ehesten zu finden war.
Aber auch der hartgesottenste Kaffeeliebhaber hat irgendwann mal genug vom Rumsitzen, und so verließ Huber zwischen der Kuchenarbeit sein neues „Büro“ für eine Arbeitspause. Die Zeit nutzte er insbesondere dazu, Assistenzärzte zurechtzuweisen und ihnen zu demonstrieren, dass er von allem noch ein bisschen mehr verstand.
Ein letztes winziges Stück Kuchen befand sich noch auf der großen Platte.
„Nimm du dieses Stück, Anita“, forderte ich sie auf und goss mir Kaffee aus der Thermoskanne in meine Tasse.
„Nein, ich habe ja schon davon gehabt, dies ist jetzt selbstverständlich für dich!“ Belustigt hörten die gesättigten Chirurgen von vorhin unserem Dialog zu.
„Der Kuchen ist wirklich ausgezeichnet“, stellte ich nach dem ersten Bissen fest. Der Kaffee hingegen war lediglich lauwarm. Anita nickte und lehnte sich zufrieden zurück.
„Na Anita, du siehst müde aus. Wie verbringst du deine Nächte?“, fragte der Chirurgieassistenzarzt von eben. Er liebte es, Frauen mit Sprüchen solcher Art zu provozieren.
Die operationssaalerprobte Anita war aber offensichtlich für solche Situationen gewappnet. „Meistens schlafend, aber falls ich mitgenommen aussehe, habe ich in einem Albtraum womöglich dich erblickt“, antwortete sie postwendend, ohne zu erröten.
Dies quittierten die grün Gekleideten laut lachend.
„Und ich dachte schon, ich sei dein wirklicher Traummann“, offenbarte der Chirurg seine Selbstüberschätzung, doch wie ein Traummann sah er mit Hakennase und schütterem Haarwuchs nun wirklich nicht aus.
„Tja, wie man sich täuschen kann, mein lieber Alptraumchirurg.“
Da öffnete sich die Türe und eine großgewachsene deutsche Anästhesieschwester betrat den Raum.
„Dein Patient für die Schilddrüsenoperation ist eben eingetroffen!“, rief sie lautstark in die lachende Runde. Erst mit Verzögerung stellte ich fest, dass ich gemeint war, es handelte sich um meinen Patienten.
„Was denn, jetzt schon? Der eine kommt zu früh, der andere zu spät, fabelhafte Organisation!“, ärgerte ich mich und stand nach einem hastig hinuntergewürgten Bissen auf.
Ich war mir fast sicher, dass Huber mir das eingebrockt hatte, denn meistens bestellte er die Patienten. Da mein Saal Nummer fünf noch für eine Weile besetzt war – der zweite Eingriff hatte eben erst begonnen – war es unsinnig, mit der Narkose schon jetzt zu beginnen. Obwohl die meisten meiner Kollegen das so handhabten. Doch ich wollte dem Patienten eine zu lange Narkose ersparen und wartete. Ich beschränkte ich mich auf eine lockere Unterhaltung, um so meinem Gesprächspartner etwas die Angst zu nehmen.
Er plauderte munter und schien von der verabfolgten Prämedikation2 nur wenig bis überhaupt nicht gedämpft zu sein. Schließlich bereitete ich gemächlich die Narkose vor.
In aller Ruhe wollte ich eine Venenkanüle legen, wie dies bei jeder Operation zur Routine gehört, als ich plötzlich Atemzüge in meinem Nacken spürte. Unweigerlich schaute ich zurück und blickte in die stechend grünen Augen von Huber. Unangenehm nahe stand er hinter mir, und er schien ungeduldig zu sein. Ich spürte jeden seiner Atemzüge, und zu allem Übel musste ich dabei den nicht minder stechenden Duft seines Aftershaves einatmen. In diesem Moment wurde mir klar: Ich konnte Huber nicht riechen.
„Was hast du denn bis jetzt gemacht?“, fragte er.
Sein Blick irritierte mich. Kurz erklärte ich die Situation, hatte aber den Eindruck, der Oberarzt höre gar nicht richtig zu. So konzentrierte ich mich wieder auf meine Arbeit. Leider bot sich am linken Patientenarm keine Vene zur Punktion an, sodass ich auf die andere Seite wechselte und am rechten Arm suchte.
„Soll ich übernehmen?“, fragte Huber ungeduldig. Er stand mir direkt gegenüber und fixierte mich starr und unfreundlich. Sein Adrenalinspiegel musste deutlich angestiegen sein, seiner Gesichtsröte und gesteigerten Atemfrequenz nach zu urteilen. Die Atmosphäre im stets kühlen OPS wurde noch frostiger.
„Nein, ich versuche es selbst“, entgegnete ich, ebenfalls von Stresshormonen durchflutet. Mein Stolz ließ es nicht zu, das Feld zu räumen und den Oberarzt die Infusion legen zu lassen. Zudem hatte ich ja noch kein einziges Mal daneben gestochen.
Hubers drängendes, ungeduldiges Verhalten begriff ich überhaupt nicht. Wozu verbreitete er eine solche Hektik? Uns blieb für die Vorbereitung alle Zeit der Welt; Eile war da schlicht fehl am Platz. Ich wunderte mich indessen, warum sich mein Oberarzt so leicht aufregte. Ich sah auf die Kette um seinen Hals, an der ein großer silberner Fische-Anhänger baumelte. Er gehörte zum Sternzeichen Fische – wie ich. Die Astrologie war auch nicht, was sie zu sein vorgab.
Ich hatte große Mühe, mich zu konzentrieren. Aber trotz all dieser widrigen Umstände gelang mir die Punktion beim ersten Versuch. Leider zog Huber noch immer nicht ab und suchte nach neuen Angriffspunkten für Kritik. Ihm fiel auf, dass der Patient sehr gesprächig war.
„Den Patienten hast du aber schlecht prämediziert!“, meinte der Oberarzt despektierlich und wandte sich kopfschüttelnd ab. Pikanterweise war es aber Huber selbst, der am Vorabend meine Verordnung geändert und durch ein schwächeres Medikament ersetzt hatte.
Ich blieb wie angewurzelt stehen und war fassungslos. Nicht ein Wort brachte ich hervor. Musste ich mir das anhören? Während ich innerlich brodelnd überlegte, war Huber schon verschwunden. Schließlich beschloss ich, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Huber hatte offenbar ein schlechtes Gedächtnis und würde mir meine Version gar nicht glauben. Am meisten ärgerte ich mich darüber, wie despektierlich mein Oberarzt ‚schlecht prämediziert‘ vor dem Patienten aussprach. Der kurze Wortwechsel schien den Herrn auf dem Operationstisch zu beunruhigen.
„Was meinte er damit?“, fragte er ängstlich. „Wieso bin ich schlecht präsentiert?“
„Der EKG-Monitor ist für Sie schlecht positioniert“, erklärte Schwester Anita geistesgegenwärtig, die unbemerkt dazugekommen war und den Monitor umgehend in eine für den Patienten günstige Position drehte. Sie hatte Hubers unsensible Bemerkung elegant ausgebügelt.
„Hier sehen Sie Ihre eigenen Herzschläge.“
„Aha, ja ich glaube, mein Herzschlag beschleunigt sich, schon wenn ich Sie anschaue, Schwester!“
Nach diesem holprigen Kompliment erlebte ich Anita erstmals leicht verlegen.
„Ihren Herzschlag werden wir während der Narkose schon wieder zügeln. Sie werden jetzt gleich einschlafen“, erklärte ich, und wir starteten endlich mit der Narkoseeinleitung. Damit war der sich anbahnende Einbahnflirt auch schon wieder beendet.
Huber stand wieder im Raum und ich fragte mich, ob der Kaffee ausgegangen war.
„Ich habe vergessen, dir zu sagen, dass du mich am Ende der Operation rufen sollst. Weißt du, wieso? Weißt du, was man nach jeder Schilddrüsenoperation kontrollieren muss?“
„Nein“, gestand ich.
„Na, nicht mal das weißt du!“, wertete Huber meine Antwort mit einer abschätzigen Handbewegung. „Die Stimmbänder müssen kontrolliert werden wegen einer möglichen Nervenverletzung. Es ist möglich, dass während des Eingriffes der Nervus recurrens beschädigt wird“, belehrte er mich und verließ kopfschüttelnd den Saal.
„Lass dich von solchen Sprüchen nicht beeindrucken“, munterte mich Anita kurze Zeit später auf, „der Huber ist manchmal einfach schlecht gelaunt.“
„Danke Anita, aber ich weiß, gewisse Leute mag er, andere weniger.“
Ehe sie etwas erwidern konnte, betrat mein Kollege Thomas Walker, der in Saal vier beschäftigt war, den Raum.
Walker hatte seine Stelle gleichzeitig mit mir angetreten. Schon dieser Umstand verband uns in dem großen unpersönlichen Spital. In den vergangenen drei Monaten hatten wir uns angefreundet. Vom Sport kannte wir uns schon flüchtig, wir waren beide leidenschaftliche Fechter, jedoch in unterschiedlichen Vereinen. Zwei große rivalisierende Fechtclubs gab es in Zürich, und die Beziehungen untereinander waren zuweilen etwas angespannt. Doch mit Thomas Walker verstand ich mich seit jeher von Jahr zu Jahr besser. Vielleicht auch, weil wir beide Medizin studierten. Er schloss ein Jahr vor mir ab, legte dann ein Zwischenjahr ein, heiratete und verschwand für kurze Zeit von der Fechterbildfläche, bis wir uns in der Klinik wiedersahen. Ich war richtig froh, in ihm einen Verbündeten zu haben. So ließ sich die fremde grüne Welt ein bisschen besser ertragen.
Mein erster Eindruck von Walker war allerdings etwas zwiespältig; er schien mir ein eitler Geck zu sein. Erst mit der Zeit schaute ich weniger auf Äußerlichkeiten. Walker pflegte seine Erscheinung minutiös. Die blonden Haare waren stets mit Sorgfalt gekämmt. Trotzdem fuhr er sich recht häufig mit den Fingern durch sein Haar – eine typische Handbewegung für ihn –, sofern er nicht die obligate Mütze im OP trug. Es war deshalb gar nicht verwunderlich, dass ich Walker, als ich ihn das erste Mal im Operationssaal gesehen hatte, wegen dieser Haube nicht gleich erkannte. Er kam mir manchmal wie ein Schauspieler vor. Vom Aussehen her hätte es fast dazu gereicht. Die Nase war vielleicht etwas zu lang geraten, und die Lippen ein wenig zu wulstig angelegt.
Thomas Walker wollte in der grünen Welt bleiben. Die plastische Chirurgie war sein Berufsziel; und die Anästhesie war für ihn bloß das Sprungbrett für seine weitere Karriere, die er genauestens plante.
„Sag mal, ist der Huber zu dir auch mal oberfreundlich und dann wieder unmöglich kaltschnäuzig und aggressiv belehrend?“, fragte ich.
„Ach, den Huber, den musst du einfach nehmen wie er ist. Der hat offenbar heute nicht seinen besten Tag. Bisher hatte ich noch keine Probleme mit ihm.“
„Glück gehabt. Vorhin hat er mich wie einen Schulbuben über Schilddrüsenoperationen ausgefragt.“
„Aha, das ist Hubers Lieblingsthema. Jeden fragt er darüber aus, das hat mir ein älterer Kollege erzählt. Du musst einfach wissen: kein Atropin zur Prämedikation, Spiralfedertubus und postoperativ die Stimmbänder kontrollieren. Wenn du so antwortest, ist Huber zufrieden, und du hast deine Ruhe.“
„Das hättest du mir auch früher sagen können!“
„Ja, natürlich, leider habe ich nicht daran gedacht, entschuldige. Aber merk es dir für das nächste Mal, denn er beginnt seine Fragen meistens so: Hast du übrigens gewusst, dass …, und dann antwortest du einfach mit ja. Das habe ich bis jetzt so gemacht, obwohl ich es natürlich auch nicht gewusst habe.“
Ich staunte über Thomas, denn solche kleinen Unredlichkeiten hätte ich ihm nicht zugetraut.
„Weißt du“, fuhr ich fort, „ich kann das nicht. Ich bringe das nicht fertig, etwas zu behaupten, das nicht stimmt. Wenn ich etwas nicht weiß, dann weiß ich es eben nicht und stehe dazu.“
„Dann geh dem Huber eben einfach aus dem Weg“, meinte Walker schulterzuckend.
„Na ja, aber der zweite Oberarzt hier, du weißt schon, man nennt ihn den Blassen, ist auch nicht viel besser. Ehrlich gesagt habe ich große Mühe, mich zu entscheiden, wer von den beiden etwas sympathischer sein könnte.“
Walker stand nur da, zuckte die Schultern und lächelte verschmitzt.
„Pass auf, da kommen die beiden schon wieder!“
Ich schaute mich aufgeschreckt um, sah allerdings keine Oberärzte. Walker hatte mich reingelegt.
Ich revanchierte mich mit einem kollegialen, schwach dosierten Boxhieb auf seine Schulter. Wir verabredeten uns für den Abend in der Kantine, und ich wandte mich wieder meinem Patienten zu.
Es folgte die Narkoseeinleitung, der spannendste Moment der Narkose. Natürlich war im entscheidenden Augenblick kein Oberarzt zugegen. Weder Huber noch sein blasser Kollege waren auffindbar. In dieser, für mich neuen, Situation hätte ich gar ihre Sprüche in Kauf genommen, denn die Beatmung konnte in solchen Fällen schwierig werden, weil die vergrößerte Schilddrüse häufig die Luftröhre verengte.
„Schlafen Sie gut“, sprach Anita beruhigend, wie sie es immer tat, und nur kurze Zeit später verlor der Patient von einem Moment zum anderen das Bewusstsein. Die schmale Gratwanderung zwischen Leben und Tod begann, und ich wurde mir in diesem Moment meiner Verantwortung für den Patienten wieder voll bewusst. Oft spürte ich diese Belastung. Doch augenblicklich musste ich solche Gedanken verdrängen, denn meine Arbeit verlangte volle Konzentration. Trotzdem, der Verantwortungsdruck lastete weiter auf meinen Schultern. Mit zunehmender Erfahrung und Geschicklichkeit ließ die Intensität etwas nach, doch ich sehnte mich häufig danach, den Druck auf mehrere Schultern verteilen zu können. Da die Oberarztschulter bestenfalls theoretisch stützte, blieben da nur die etwas zarten Schultern von Anita. Bisher wusste ich nicht, wie viel sie zu tragen vermochten. Sicher aber war Schwester Anita eine moralische Stütze. Ich arbeitete gerne mit ihr zusammen und glaubte, es beruhte auf Gegenseitigkeit.
Wir arbeiteten Hand in Hand, und die kritische Startphase verlief nahezu perfekt. Mühelos konnte ich intubieren3. „Der Patient schläft bereits tief!“, stellte ich fest.
„Jetzt kommst auch du noch mit diesem Anästhesisten-Standardsatz. Unser Patient schläft eben nicht, er ist bereits weiter weg von uns als im Traum, er ist in Narkose“, widersprach Anita.
„Besserwisserin!“
Humor war eine Art, sich des Druckes zu entledigen. Es entschärfte die Situation.
Bisher hatten die Chirurgen das Operationsfeld peinlichst genau desinfiziert und mit grünen Tüchern so zugedeckt, dass nur noch jene Stelle am Hals sichtbar war, wo die Schilddrüse lag. Die OP begann, und auch dieser Eingriff dauerte und dauerte.
Zwischendurch löste mich Anita für eine Pause ab. Nach etwa dreieinhalb Stunden wurden die letzten Nähte gesetzt und das Operationsgebiet verbunden. Schrittweise hatte ich die Narkosegase reduziert, und der Patient erwachte, kaum dass die Operation beendet war. Dieser beeindruckende Moment ließ mich nach all der Anspannung stets aufs Neue staunen. Der Patient gab vorerst nur unverständliche Laute von sich.
„Er ist noch ganz schlaftrunken“, flüsterte Schwester Anita, während sie mir assistierte.
„Wohl eher narkosetrunken!“, bemerkte ich.
„Wie spät ist es?“, waren die ersten, noch leisen, aber klaren Worte des Frischoperierten.
„Dreizehn Uhr“, antwortete ich.
„Eigentümlich“, meinte Anita, „häufig kommt als erstes die Frage nach der Uhrzeit!“
„Wohl weil wir alle unter einem gewaltigen Zeitdruck stehen.“
„Dann geh jetzt rasch zum Mittagessen, in einer halben Stunde schon geht es weiter“, mahnte mich Anita.
Huber saß bereits in der Kantine als ich einen Platz suchte. Mein Hunger war zu groß, als dass die Atmosphäre mir den Appetit hätte verderben können. Wir Anästhesisten saßen beim Mittagessen meist in der gleichen Ecke des Personalrestaurants, Schwestern und Ärzte alle am selben Tisch. Ich setzte mich zu ihnen. Nur Huber und sein Kollege, der auch nicht viel besser war, saßen wie gewohnt separat. Alleine an einem kleinen Tisch, in der anderen Ecke des Saales. Nachdem Huber Oberarzt wurde, saß er nicht mehr mit uns zusammen.
Der zweite Oberarzt wirkte noch blasser und unfreundlicher als sonst. Der Vergleich zu einem Vampir aus einem Horrorfilm drängte sich förmlich auf; allein die spitzen Eckzähne fehlten.
Die Mittagspause tat gut, denn für meinen bevorstehenden Nachtdienst, wollte ich noch etwas neue Kräfte tanken. Fast jede Woche stand für uns Assistenzärzten ein 24-Stunden-Notfallpräsenzdienst auf dem Plan. Die Arbeit von morgens um sieben Uhr dreißig bis in die Nacht hinein war schon rein physisch sehr beanspruchend, dazu kam die anhaltende psychische Anspannung. Nur allmählich gewöhnte ich mich an diesen Rhythmus.
Zunächst stand allerdings die Arbeit des Nachmittages bevor. Im Operationstrakt war etwas Ruhe eingekehrt, weil nicht mehr in allen fünf Sälen operiert wurde.
Nach der letzten Narkose legte ich die grüne Operationswäsche ab und tauschte sie wieder mit der weißen Berufskleidung. So fühlte ich mich etwas wohler. Während ich die grüne Welt verließ, überlegte ich, warum man dort die Farbe Grün gewählt hatte. Wirkten Blutflecken auf Grün weniger dramatisch und furchterregend als auf neutralem Weiß? Grün als Komplementärfarbe für rot wie Blut; oder war es eher der beruhigende Effekt, der Grün als Farbe der Hoffnung zugeschrieben wurde, die Assoziation zur Natur, Idylle suggerierend? Vielleicht hatte es rein praktischen Grund, um chirurgische Wäsche nicht mit anderer zu verwechseln? Schwarze Kleidung wäre ja nicht angebracht und würde völlig falsche Gedanken aufkommen lassen. Rot wäre zu aggressiv, Gelb zu wenig kontrastreich gegenüber Weiß. Bliebe Blau. Wieso hatte man nicht Blau gewählt? Blau wäre mir sympathischer. Nach meinen farbpsychologischen Kenntnissen war Blau die Farbe des Intellektes. Aber vielleicht wurde Chirurgen diese Eigenschaft nicht attestiert.
So konnte nur ein Internist denken. Internisten und Chirurgen waren vollkommen unterschiedlich und rivalisierten miteinander. Es waren eben nicht nur die Farben Weiß und Grün, sondern ganze Welten, die sie trennten. Ich war zwar noch weit davon entfernt, selbst ein Internist zu sein, fühlte mich aber täglich mehr in meiner Entscheidung bestätigt.
Die Stelle in der Anästhesie hatte ich angenommen, um etwas vertrauter mit der mysteriösen, grünen Welt der Chirurgie zu werden. Um die Medizin zu verstehen, musste man beide Welten kennen.
Sinnierend saß ich im großen, weitgehend leeren Personalrestaurant und putschte mich mit einem weiteren Kaffee für den Nachtdienst auf. Wie verabredet kam schon bald Walker mit einer Cola an meinen Tisch. Ich freute mich sehr, dass er sich zu mir setzte. Wir sprachen uns manchmal vor unseren Diensten Mut zu.
Thomas Walker erzählte recht zufrieden über seinen Arbeitstag. Ihm gefiel die Anästhesie offenbar, und er schien hier am richtigen Ort zu sein, zumindest unterwegs in die passende Richtung.
„Du hast dich schon besser eingelebt als ich. Mit unseren Oberärzten habe ich meine Mühe. Bei denen muss einfach alles immer schnell gehen. Erste Priorität hat in ihren Augen der reibungslose Ablauf. Wie es den Patienten geht, ist zweitrangig. Die schauen mich schon schief an, wenn ich einen ängstlichen Patienten beruhigen möchte. Das braucht etwas Zeit, aber es lohnt sich, denn ich bin überzeugt, bei entspannten Patienten treten weniger Komplikationen auf. Dies entspricht allerdings nicht den Gepflogenheiten der Herren Oberärzte, denen kann es nicht schnell genug gehen.“
„Das hat was“, antwortete Walker, „das habe ich auch schon beobachtet. Es gibt viele solcher Narkoseärzte. Egal ob es sich um eine Notfallsituation handelt oder nicht, fast immer arbeiten sie mit derselben größtmöglichen Geschwindigkeit, als ob fortwährend der Ernstfall trainiert werden müsste.“
„Fast wie Spitzensportler, für mich sind das Sprinteranästhesisten“, fügte ich hinzu.
„Zu welchem Typ zählst du dich denn?“, fragte Walker.
„Eher zu den Mittelstreckenläufern, die können, falls es die Situation erfordert, auch spurten. Wird aber nur noch gespurtet, bleibt einem bald mal die Luft weg, und Fehler passieren. Ein Gespräch ist bei dieser Achtung-Fertig-Los-Mentalität dann eben gar nicht mehr drin.“
„Du bist mit der Anästhesie offensichtlich nicht so glücklich?“, brachte es Walker auf den Punkt.
„Genau. Mit viel Enthusiasmus habe ich hier begonnen, und nun bin ich doch etwas enttäuscht. Mit dir und unseren Kollegen habe ich Glück. Ich komme bisher mit allen Assistenzärzten und Schwestern sehr gut aus. Doch unsere Arbeit selbst, die empfinde ich als unangenehme Arbeitsbelastung. Häufig passiert während der Narkose gar nichts. Du musst aber trotzdem immer hellwach sein, weil urplötzlich ein unvorhergesehenes Ereignis eintreten könnte, das sofortiges Handeln erfordert. Diese alltägliche Situation finde ich paradox; voll konzentriert zu warten und dann geschieht nichts. Ich sitze nur da, aber höchst unentspannt. Meine aufgestaute Energie kann nicht abfließen, und am Ende habe ich häufig das Gefühl, nichts geleistet zu haben. Die Lorbeeren ernten ohnehin die Chirurgen.“
„Ich sehe das nicht so. Ich bin froh im OPS sein zu können. Später werde ich ja selbst Chirurg.“
Walkers Blick entnahm ich, dass er mir nicht unbedingt folgen konnte. Er trank einen Schluck Cola.
„Hast du nun in der Zwischenzeit eine Stelle für deine Innere Medizin gefunden?“, fragte er mich in die Stille meiner Überlegungen, als könnte er meine Gedanken lesen.
„Leider nicht, stets Absagen.“
„Ja, es ist wirklich sehr schwierig eine Assistentenstelle zu bekommen, noch dazu in der Inneren. Eine Frau zu finden, ist bedeutend einfacher“, meinte Walker.
„Ich weiß nicht, da bin ich ebenfalls noch auf der Suche“, gestand ich, während Walker grinste, wie ich es selten bei ihm gesehen hatte.
„Nur nicht aufgeben! Ich bin sehr froh, habe ich bereits eine chirurgische Anschlussstelle. Wäre das nicht auch etwas für dich.“
„Chirurgie?“, fragte ich ihn. Wahrscheinlich schaute ich ihn an, als hätte er mich gefragt, ob wir zusammen eine Bank ausrauben wollten.
„Ja, Chirurgie“, wiederholte er emotionslos.
„Nein, Chirurgie ist nichts für mich, das weiß ich ganz bestimmt. Alles, was sich in den Operationssälen abspielt, ist einfach nicht meine Welt, wenngleich es mich außerordentlich interessiert.“
„Das ist doch ein Widerspruch!“
„Nein, oder vielleicht doch. Nun, es ist schwierig zu erklären. Es ist so eine Art Hassliebe; die gesamte Medizin fasziniert mich eben, da gehört die Chirurgie natürlich mit dazu. Andererseits ist mir die Mentalität der Chirurgen, der Umgangston und das Klima insgesamt doch sehr fremd, um es mal milde auszudrücken.“
Walker schaute mich an und sagte einen Moment lang nichts, als ließe er meine Worte nachwirken.
„Sagen wir mal, es ist etwas gewöhnungsbedürftig. Auch ich habe eine gewisse Anlaufzeit gebraucht, aber jetzt fühle ich mich hier sehr wohl. Ich bin sicher, auch du wirst dich mit der Zeit immer besser mit deiner Arbeit in der Universitätsklinik identifizieren können“, dozierte Walker.
Mir fiel auf, dass er beim Sprechen die Mundpartie kaum bewegte. Die Mimik spielte sich mehr in der oberen Gesichtshälfte ab. Oft hob er die Brauen, um wichtige Aussagen zu unterstreichen, häufiger senkte er sie, falls ihm etwas unklar schien – oder, um seine Missbilligung anzudeuten.
„Das bezweifle ich. Zum Chirurgen musst du geboren sein. Es ist nicht meine Welt. Zu den Grüngekleideten, Anästhesie eingeschlossen, gehöre ich nicht“, entgegnete ich mit ungewohnt lauter Stimme. Ich hatte mich emotional in ein Feuer gesteigert. Wenn es um Medizin ging, konnte ich mich ereifern.
„Ich frage mich allerdings, wieso du diese Stelle überhaupt angetreten hast?“
Ich trank den letzten Schluck Kaffee und schaute mich um. Im beinahe leeren Personalrestaurant fiel mein Blick auf eine junge Krankenschwester, die weit von uns entfernt im Raucherbereich saß, Sie schaute in unsere Richtung und ließ ihrem Mund langsam eine Rauchwolke entströmen.
„Ich habe keine andere Stelle gefunden und …“, ich machte eine kleine Pause und schaute nochmals zur Seite, „zudem gibt es da noch einen weiteren Grund. Ich habe während des Medizinstudiums eine Anästhesieärztin kennengelernt, die mir sehr gefallen hat. Auch hat sie sofort mein Interesse geweckt. Das Interesse für die Anästhesie, meine ich.“
Walkers matter Blick wurde augenblicklich wacher.
„Während eines Praktikums hat sie mir viel gezeigt und ich wusste, sie würde ins USZ gehen, um dort als Oberärztin zu arbeiten“, fuhr ich fort.
„Und das erzählst du mir erst jetzt? Welche von unseren Oberärztinnen ist es denn?“
„Das ist ja die Tragödie. Mein Engel, wie ich sie nannte, arbeitet nicht mehr hier. Sie hat vor einem halben Jahr gekündigt und ist nun im Stadtspital Triemli.“
Walker sprach noch ein paar Worte des Bedauerns, wünschte mir viel Glück für meinen Dienst und begab sich fröhlich pfeifend auf den Nachhauseweg, wo ihn seine Frau erwartete.
Die einbrechende Dämmerung erinnerte mich daran, dass mein Nachtdienst näher rückte. Mir blieben noch zwanzig Minuten, bis zum Dienstantritt auf der Notfallstation, die nur drei Gehminuten entfernt lag.
In solchen Situationen versuchte ich, mich mit positiven Gedanken zu entspannen.
Ich schaute mich in der Kantine um. Außer mir war nur die Schwester im Raucherabteil anwesend. Aus der Ferne betrachtet hatte sie eine gewisse Ähnlichkeit mit meinem Engel. Sie drückte ihre Zigarette aus und vertiefte sich wieder in ihre Zeitschrift. Dennoch bemerkte sie meinen Blick, schaute kurz auf und lächelte mir für einen Moment zu. Genau über ihr schwebte eine Rauchwolke, die vom Deckenlicht eigentümlich beleuchtet wurde und sich so vom dunklen Hintergrund des Fensters abhob. So erinnerte mich die Krankenschwester noch mehr an meinen Anästhesieengel und an jenen Abend, als wir das erste Mal alleine zusammen waren.
Ich begann zu träumen, wie ich sie ohne Gesichtsmaske, Operationsmütze und grüne Kleidung sah. Mit ihren langen, dunkelblonden Haaren schien sie mir hübscher denn je. Ihr sanftes Lächeln verzauberte mich, und mein Pulsschlag beschleunigte sich. Nein, mein Herz raste wie wild.
Doch die Schönheit alleine war es nicht, die mich entrückte, sondern vielmehr ihr unbeschreiblicher Charme. Ich war ein bisschen fassungslos gewesen. Wir kannten uns kaum, und schon fanden wir uns in trauter Zweisamkeit.
Etwas unsicher fragte ich sie: „Du fühlst dich gut?“
„Ja, und du auch?“
Ich konnte nur nicken.
„Hast du an alles gedacht?“
Ich bejahte und stellte fest, wie sich ihre Hand schloss.
„Nun mach schon“, flüsterte sie mir leise Mut zu. Die Aufmunterung tat mir gut, denn es war das erste Mal für mich. Langsam näherte ich mich, und da fiel mir ihr betörender Duft auf. So etwas Zartes wie ihre Haut glaubte ich noch nie gesehen und gespürt zu haben. Während ich fein darüber strich, hörte ich sie tief einatmen. Offenbar war es auch für sie ein ganz besonderer Moment. Ich suchte ihren Blick, doch sie schloss die Augen.
Ich gab mir einen Ruck und drang behutsam in sie ein. Sie ließ einen schwachen Laut vernehmen. Hoffentlich hat sie keine Schmerzen, dachte ich. Es blutete leicht. Ich atmete langsam aus. Ich wusste, ich war am richtigen Ort. Es war schlicht ein gutes Gefühl.
„Du machst das gut“, munterte sie mich auf.
Ich war erstaunt, dass sie in diesem Augenblick sprechen konnte.
Ich war befriedigt und entfernte die Kanüle aus dem Unterarm. Meine erste Venenpunktion war dank der gütigen Mithilfe des Anästhesieengels gelungen. Anschließend beschäftigten wir uns dann mit anderen Dingen, und ich fühlte mich himmlisch.
Ein Blick auf die Uhr riss mich aus meinen Träumen zurück in die irdischen Dimensionen. Es war höchste Zeit für die Notfallstation. Ich eilte los, an der Krankenschwester im Raucherabteil vorbei und stellte dabei fest, dass sie meinem unvergleichlichen Engel aus der Nähe betrachtet nur wenig ähnlich sah.
Ich wusste, nun ging es los. Die Sirenen heulten kurz auf und verstummten wieder. Das Sanitätsfahrzeug stand vor der Spitalpforte. „Schockraum“, schrie jemand, und die vollzählig anwesende Besatzung der Notfallstation – bisher in Lauerstellung – stürmte in den besagten „Schockraum“. Dort wurden alle Schwerverletzten eingeliefert, beurteilt und behandelt.
Da standen wir alle in diesem großen, hell erleuchteten Schockraum, Chirurgen und Anästhesisten, Ärzte und Schwestern in etwa ausgeglichenem Verhältnis, insgesamt fast zwanzig Spitalangestellte für einen Patienten.
Kurzer Rapport der Sanitäter: 25-jähriger Patient nach Motorradunfall, bewusstlos am Unfallort aufgefunden, Atmung und Kreislauf stabil, keine offenen Verletzungen, Verdacht auf Schädel-Hirntrauma.
Dann ging alles rasend schnell. Unser Anästhesieteam legte Infusionen an, Puls und Blutdruck wurden gemessen, der Patient an einem EKG-Überwachungsmonitor angeschlossen, die Intubation durchgeführt. Die Chirurgen prüften Ansprechbarkeit, Pupillenreaktion, nahmen eine kurze körperliche Untersuchung von Kopf bis Fuß vor. Wie üblich wurde geröntgt: Schädel- und Thoraxbild.
Die Situation blieb weiterhin unverändert. Die ersten Schritte waren eingeleitet, und nun stand die Besatzung größtenteils tatenlos da, denn für so viele Hände gab es bei weitem nicht genügend zu tun.
Chirurgen und Anästhesisten hatten Zeit für eine Lagebesprechung. Man war sich uneinig.
Unser Anästhesieoberarzt, den ich bisher noch nicht kannte, der aber deutlich sympathischer als Huber wirkte, vermutete aufgrund der hohen Pulsfrequenz und des tiefen Blutdruckes eine innere Verletzung. Er dachte an eine Milz- oder Leberruptur, die Chirurgen hingegen an ein Schädel-Hirn-Trauma. Die Diskussionen brachten uns keinen Schritt weiter.
Viele Köche verderben den Brei, zu viele Ärzte den Patienten, dachte ich für mich.
„Die lassen sich nicht umstimmen“, meinte der Oberarzt enttäuscht zu mir, „die wollen als Erstes ein CT. Du solltest den Patienten dorthin begleiten.“
Ich begriff einmal mehr die Ohnmacht von uns Anästhesieärzten. Wir waren von der Chirurgie völlig abhängig und konnten ihnen nicht vorschreiben, dass sie den Bauch aufschneiden und nachsehen sollten, ob die Milz gerissen sei. Wir konnten nur unsere Meinung äußern, aber letztlich mussten wir tun, was der Chirurg anordnete. Dies behagte mir überhaupt nicht.
Zunächst galt es, den Patienten für den Transport auf ein mobiles schmales Bett zu verladen, was mit all den Infusionen, EKG-Kabeln und dem Beatmungsgerät eine komplizierte Angelegenheit war und mehrere Hände erforderte. Anschließend rollte ich den Patienten vorsichtig zum Röntgen. Schwester Beatrice begleitete mich.
Beim Computertomographen angekommen, wurde erneut umgeladen, diesmal vom Transportwagen auf den Untersuchungstisch. Es dauerte unheimlich lange, bis alles bereit war, und die Röntgenassistentin mit der Lagerung des Patienten zufrieden war. Sie schien sich offenbar des Ernstes der Lage nicht ganz bewusst zu sein, was mich beinahe zur Verzweiflung brachte.
Endlich wurden die Schichtaufnahmen gemacht. Der Tomograph arbeitete wie immer – Notfall oder nicht – im selben gemächlichen Tempo, aber mir kam es vor, als würde es an diesem Tage extrem lange dauern. Laute monotone Apparategeräusche, aber kaum Stimmen.
Plötzlich bemerkte ich bei meinem Patienten einen weiteren markanten Blutdruckabfall und einen gleichzeitigen Pulsanstieg. Doch eine innere Verletzung, schoss es mir durch den Kopf und vermutete eine Milzruptur. Ich alarmierte via Schwester Beatrice die Notfallstation, damit alles für die Notfalloperation vorbereitet werden konnte, und brach kurzerhand das Computertomogramm ab, das ohnehin jeden Moment fertig gewesen wäre. Vor den Augen der fassungslosen Röntgenassistentin packten wir den Patienten so rasch wie irgend möglich wieder auf die Liege und rollten ihn zurück zur Notfallstation. Ich zog an der Patientenliege wie ein wildgewordenes Pferd.
In der Zwischenzeit hatten sich die Chirurgen „unserer“ Diagnose einer inneren Organruptur angeschlossen. Die Notoperation begann.
Wie es die Situation erforderte, arbeiteten die Chirurgen sehr schnell, konzentriert und sicher. Mit gekonnten Skalpellschnitten war die Bauchdecke im Handumdrehen eröffnet. Die Bauchhöhle war voller Blut und die Blutungsquelle wurde rasch lokalisiert. Wie vermutet, war es die Milz. Das Organ musste vollständig entfernt werden. Mit Infusionen und Transfusionen wurde der enorme Blutverlust ersetzt, und allmählich stabilisierte sich der Kreislauf wieder; der Patient war gerettet, und die Freude bei allen Beteiligten groß.
„Ich hatte also doch recht. Das war eine klassische zweiseitige Milzruptur. Die Milz riss am Unfallort erstmals ein, führte zu den inneren Blutungen und zum Kreislaufschock. Stunden später, dann, im Röntgenraum, der zweite Einriss mit nochmaligem massivem Blutverlust“, murmelte unser Anästhesieoberarzt mit einem diskreten Lächeln auf den Lippen zu den Chirurgen. Sie schwiegen, mochten ihre beinahe tödliche Fehleinschätzung nicht kommentieren.
„Hier ist das Schädel-CT“, ertönte eine leise Stimme im Gang. Es war die Röntgenassistentin, die vorsichtig in den Operationssaal guckte.
„Ok, danke“, meinte einer der Chirurgen und legte den Stapel mit den Bildern auf die Seite, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Erneut blickte die Röntgenassistentin verdutzt durch ihre großen Brillengläser; sie schien nicht zu begreifen, wieso das Resultat einer notfallmäßigen Untersuchung anscheinend niemanden mehr interessierte. Offenbar fragte sie sich, warum alle in so ausgelassener Stimmung waren, so interpretierte ich ihre gerunzelte Stirn.
„Wollen Sie die Bilder denn nicht anschauen?“, fragte sie etwas fassungslos.
Um der armen Assistentin nicht das Gefühl zu geben, sie hätte alles umsonst getan, ergriff ich den Umschlag mit den Aufnahmen, packte sie aus und betrachtete sie eingehend. „Ja, sehr gute Bilder.“
Sie wirkte zufrieden.
„Und wieso sind Sie plötzlich so rasch mit dem Patienten verschwunden“, wollte sie wissen.
„Ach“, antwortete ich, „das war eine reine Bauchentscheidung.“
Inzwischen war Mitternacht vorbei. Da keine weiteren Notfälle mehr gemeldet wurden, gingen wir nach dem Aufräumen noch kurz in unser kleines Aufenthaltsräumchen innerhalb der Notfallstation, um uns etwas auszusprechen.
Nach einem Glas Mineralwasser ging ich in mein Dienstzimmer neben dem Helikopterlandeplatz. Todmüde legte mich aufs Bett, aber an Einschlafen war nicht zu denken. Ich war zu aufgewühlt. All die Ereignisse des Tages wirbelten mir durch den Kopf. Die Operationen, die Patienten und leider auch die Oberärzte. Gerne hätte ich Huber gegen seinen Kollegen von heute Abend eingetauscht.
Wie hatte Anita ihre Bemerkung, sie wolle mit mir fortfliegen, wohl gemeint? Will sie etwas von mir, fragte ich mich und antwortete dann gleich selbst: Bilde dir doch nichts ein, sie meint das nur im Scherz. Anita ist ein lustiges Mädchen, das nicht alles so ernst nimmt. Alles andere ist Selbstkoketterie.
„Martin, wie siehst du denn aus?“, begrüßte mich Anita frühmorgens am Tag danach. Ich steuerte eben wieder in meiner grünen Arbeitskleidung und mit kleinen Augen auf Operationssaal fünf zu.
„Sehr aufmunternde Frage. Ich sehe wohl nicht so aus wie nach zwei Wochen Urlaub.“
Anita schüttelte langsam den Kopf.
„Dabei habe ich doch mindestens zwei Stunden geschlafen. Es muss wohl an diesem unbequemen Bett im Dienstzimmer liegen.“
Nach 24 Stunden war zwar mein Notfalldienst zu Ende, aber es war noch lange nicht Feierabend oder eben Feiermorgen, sondern es wurde voll weitergearbeitet, weitere neun Stunden Einsatz. Das ging an die Substanz. Ich funktionierte an solchen Tagen zwar weiter, doch die Müdigkeit klebte wie ein Rucksack an mir. Und diesen wurde ich von frühmorgens bis abends nicht mehr los.
Anita blieb das Lachen im Hals stecken. Huber tauchte auf.
„Ach, das gehört eben zum Beruf. Du wirst es überleben. Klage nicht immer über den anstrengenden Dienst, sonst musst du vielleicht über einen Berufswechsel nachdenken. Für dich sollte die Arbeit einen hohen Freizeitwert darstellen“, meinte er in seiner bekannten belehrenden Manier.
„Auch Freizeitaktivitäten können nach einer Erholung rufen“, konterte ich.
„Beginn jetzt besser mal mit der Arbeit, sonst bedarf ich einer Erholung.“ Huber wandte sich leicht entnervt zum Gehen.
„Würde ich sehr gerne, aber der Patient ist noch nicht eingetroffen … wie so oft.“
Meinen letzten Satz hörte der Oberarzt vermutlich nicht mehr.
Die morgendlichen Narkosen verliefen gut, doch im Laufe des Nachmittages fühlte ich mich immer matter und sehnte den Feierabend herbei.
Um 18 Uhr war es dann endlich soweit. In dem Moment wusste ich gar nicht mehr genau, was ich an diesem Tag alles getan hatte. Bestenfalls erinnerte ich mich an die letzten beiden Stunden.
Neue Kraft schien mir zu erwachsen, als ich die Kliniktüre öffnete. Die Türe, die mich in den vergangenen eineinhalb Tagen hermetisch von der Außenwelt abtrennte. Inzwischen war es für mich die Pforte zwischen Arbeit und Freizeit geworden, zum Symbol zwischen Realitäts- und Lustprinzip.
Ein kleiner Schritt für mich, doch ein großer für mein Freiheitsempfinden, dachte ich, als ich genüsslich über die Schwelle in die wiedergewonnene Unabhängigkeit trat. Nach der ruhigen Spitalatmosphäre empfing mich Zürichs Straßenlärm wieder mit Feierabendverkehr, hetzenden Passanten und gut gelaunten Studenten, die in Grüppchen nach Hause spazierten.
Ich atmete tief ein. Die frische, kühle Luft war eine Wohltat, und die Anspannung wich einer wohligen Müdigkeit und Zufriedenheit, dem Gefühl, etwas Sinnvolles geleistet zu haben.
Es war ein kühler Märzabend, wie ich erst jetzt feststellte. Im Neonlicht der Klinik, im abgeschotteten Operationstrakt mit seinen spärlichen Fenstern, bemerkte ich meistens gar nicht, was sich draußen abspielte.
Ich raffte mich zu einem kleinen Spaziergang am See auf. Es reichte für ein bisschen Abendsonne, die den Kampf gegen die Hochnebelfelder am Ende des Tages gewann, und ich genoss eine frische Brise Seeluft am Hafen Enge, wenngleich ich bis zum Bürkliplatz erst einmal abgasreiche Zürcher Stadtluft einatmete. Schließlich setzte ich mich auf eine Bank und beobachtete Schwäne, Enten und Möwen. Die majestätischen Schwäne faszinierten mich seit jeher. Danach fuhr ich mit der Straßenbahn Richtung Zürcher Zoo. In der Nähe hatte ich eine DreiZimmer-Wohnung gemietet. Zwar waren die Räume recht klein, und die Miete fraß einen großen Teil meines bescheidenen Lohnes, aber ich war froh, endlich eigene vier Wände gefunden zu haben.
Diese Wohnung war ein reiner Glücksfall gewesen, ideal gelegen, nahe der Straßenbahn. Nur ein kurzer Weg war’s zur Arbeit.
Müde und zufrieden betrat ich mein herrlich unsteriles Zuhause.
Als Erstes riss ich den Brief mit Absender Spital Limmattal, Chefarzt Innere Medizin auf. Das musste die Antwort auf meine Bewerbung sein. Meine Spannung stieg und verpuffte beim vierten Wort: Es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass … Es folgten die üblichen Floskeln, wie ich sie zur Genüge kannte. War es die 16. oder 17. Absage, überlegte ich kurz.
Egal, ich werde mich ab jetzt auch in Kliniken im weiteren Umkreis von Zürich bewerben müssen. So nahm ich meine Liste der Spitäler zur Hand und beschloss, gleich an diesem Abend eine Bewerbung für das Kantonsspital Aarau zu schreiben.
In der übrigen Post suchte ich vergeblich nach einem persönlichen Brief, doch in den Umschlägen fanden sich nur Rechnungen und Werbung.
Abgespannt warf ich mich in den Sessel und ließ die Blicke über das kreative Chaos meiner Drei-Zimmer-Wohnung schweifen. Die Müdigkeit steigerte sich, und die Lust, etwas zu kochen oder auswärts essen zu gehen, tendierte gegen null. Blieb nur, den Kühlschrank zu plündern. Doch bei nur geringem Inhalt, war das rasch erledigt. Der einzige Joghurt entpuppte sich als Pilzkultur, die ich naserümpfend entsorgte.
Es war ein seltsames, immer noch ungewohntes Gefühl, alleine in der Wohnung zu sein. So saß ich am Esstisch und knabberte hartes Brot und Käse.
Danach legte mich aufs Sofa und schlief innerhalb kürzester Zeit ein. Das Telefon weckte mich gegen acht Uhr. Zunächst überlebte ich mindestens fünf Klingeltöne lang, ob ich mich aus meiner bequemen Position erheben sollte. Schließlich war, wie fast immer, die Neugier größer als die Trägheit. Ich hatte das Gefühl, es könnte einer meiner Studienkollegen sein. Möglicherweise der Glückspilz, der in der Pathologie eine ruhige Kugel schob. Alle anderen waren stark eingespannt und vielbeschäftigt. Ich folgte meiner inneren Stimme und hob den Hörer ab.
Aber mein Vater war am Apparat. Er interessierte sich für Medizin, seit ich mein Studium begonnen hatte. Häufiger wollte er wissen, wie es mir in der Klinik ging. Doch zunächst erzählte er mir von seinem Ärger im Büro.
„Den Stahel, den werde ich morgen entlassen“, donnerte er durch die Leitung.
„Aber Papi, das sagst du doch schon seit mindestens fünf Jahren.“
„Möglich, aber morgen mach ich ernst.“
Mein Vater war viel zu gutmütig, um jemanden zu feuern, aber er brauchte einen Menschen wie mich, dem er seinen Kummer mitteilen konnte.
„Und wie geht es dir in der Klinik?“, fragte er mit der natürlichen Fürsorglichkeit eines Vaters.
„Ich habe einen anstrengenden Nachtdienst hinter mir, doch es hat sich gelohnt, wir haben wieder einmal ein Leben gerettet“, erklärte ich stolz.
Das hatte ich nun davon. Ich musste die Geschichte mit der Milzruptur in allen Details schildern, und mein Vater freute sich mit.
„Kannst du den Radiowecker, den ich dir zum Geburtstag geschenkt habe, gebrauchen?“, fragte er gegen Ende des Gespräches.
„Ja, funktioniert ausgezeichnet. Ich wache jetzt jeden Morgen mit Musik auf.“
Nach dem Gespräch nahm ich die Gebrauchsanweisung des Radioweckers zur Hand und programmierte als Weckmusik mein Lieblingsklavierkonzert in A-Dur, KV 488 von Mozart. Tatsächlich hatte ich bisher nie die Zeit dazu gefunden. Für das Bewerbungsschreiben nach Aarau reichte meine Energie nicht mehr, und ich verschob dieses Vorhaben auf den nächsten Tag.
Stattdessen starrte ich zum Fenster hinaus, in die Dunkelheit.
Ich brauchte Zeit, um meine Situation zu überdenken.
Ich gehörte nicht in die Anästhesie, das sah ich mit jedem Tag klarer. Ein Leben zu retten, war wunderbar, daran richtete ich mich auf, aber die anderen anästhesiologischen Routinearbeiten entsprachen absolut nicht dem, was ich mir unter Medizin vorstellte. Ich passte nicht auf diese Arbeitsstelle. Möglich, dass die Vollblut-Anästhesisten mich als Fremdkörper in ihrer Welt wahrnahmen. Echte Grüne erkannten einander intuitiv.
Ich sehnte mich nach der weißen Welt.
Leicht unzufrieden warf ich mich um halb zehn völlig erschöpft ins Bett. Ich spürte, mir fehlte etwas. Vor allem Bewegung. Seit meinem Stellenantritt kam ich nicht mehr dazu, Sport zu treiben. Das muss sich ändern, sagte ich mir und beschloss, morgen wieder einmal zum Fechttraining zu gehen – oder übermorgen.
Ein Tag zum Vergessen; Kulturschock!
‚Der ist ja noch schlimmer als mein Vater‘, dachte Sarah und blieb wie angewurzelt stehen.
Dieser abschätzige Blick sprach Bände; unerträglich waren diese dunklen, zusammengekniffenen Augen, die Sarah von Kopf bis Fuß musterten. Sie spürte vom ersten Moment an, dass der Mann sie nicht ernst nahm. Schutzlos fühlte sie sich und gleichzeitig kam eine Wut in ihr hoch. Sie spürte ihre Anspannung, und das Blut schoss ihr in den Kopf. ‚Hoffentlich sieht er nicht, wie ich erröte‘, dachte sie verwirrt.
Noch nie zuvor hatte sie mit Menschen aus diesem Kulturkreis gesprochen. Unvoreingenommen, mit positiver Einstellung war sie ihm begegnet. Doch bei diesem Ölscheich aus Saudi-Arabien, war sie von Beginn an verunsichert. Erst sprach er gar nichts, und dann schlug ihr diese Ablehnung entgegen. Die Mentalität des Arabers war Sarah völlig fremd und die Situation für sie derart ungewohnt, dass sie nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte.
Schließlich räusperte sich Abdullah Bin Suleiman al-Haqqaui, so hieß der bärtige Ölscheich. In voller Montur, ganz in Weiß und mit Turban stand er im Zimmer und schien nachzudenken. Es verging eine ganze Weile, bis er endlich zu sprechen begann, langsam, aber sehr bestimmt. Er wolle nicht mit einer Frau, sondern mit einem Mann sprechen, erklärte er. Sein Englisch war stark arabisch gefärbt.
Sarah blieb mit vor Erstaunen offenem Mund stehen. Unvorbereitet, wie sie war, brachte sie nicht mehr als ein „ok“ heraus und verließ den Raum unverrichteter Dinge, verärgert darüber, dass es ihr die Stimme verschlagen hatte. Nicht die geringste Spur von Widerspruch oder wenigstens Erstaunen hatte sie äußern können. Mit dem Gefühl des Versagens begab sie sich zum Schwesternzimmer.
Sarah war im letzten Lehrjahr ihrer Ausbildung zur Krankenschwester. Das Praktikum auf der chirurgischen Station F Ost III im Universitätsspital Zürich forderte sie sehr. Nun, gegen Ende eines langen Arbeitstages fühlte sie sich ausgelaugt und müde.
Etwas geknickt erklärte Sarah der Abteilungsschwester Regula die Situation. Vor Schwester Regula, ihrer Vorgesetzten, hatte sie großen Respekt. Regula war sehr streng mit den Lernschwestern. Wer nicht tat, was und wie sie es wünschte, hatte nichts zu lachen. Abteilungsschwester Regula war großgewachsen und hager. Auffällig waren ihre großen Füße. Meist trug sie schwarze Schuhe und betonte damit diesen Körperteil zusätzlich. Ihr kantiges Gesicht hübsch zu nennen, wäre glatt gelogen. Die fehlende körperliche Attraktivität kompensierte sie mit fachlicher Kompetenz. Manchmal übertrieb sie allerdings auch etwas dabei.
Doch sie scheute sich nie, den Ärzten gegenüber ihre Meinung kundzutun. Sie tat dies zuweilen in einem durchaus entschiedenen Tonfall. Dafür bewunderten sie die jungen Krankenschwestern, und Regula war sich dessen natürlich bewusst.
Doch im Falle des kapriziösen Scheichs reagierte sie verständnisvoll. Sie nickte nur, überlegte einen Moment und griff zum Telefonhörer. Schwester Regula fand auch in diesem Fall, wie für die meisten Probleme des Spitalalltags, eine vernünftige Lösung.
„Unser Abteilungsarzt wird gleich kommen und ich bin überzeugt, er wird unseren orientalischen Patienten zur Vernunft bringen“, versicherte sie.
Eine halbe Stunde nach dem Telefonanruf tauchte der Arzt auf, ließ sich die Geschichte erzählen und setzte ein breites Grinsen auf.
„Dann wollen wir doch diesen geheimnisumwitterten Wüstensohn mal ein bisschen bearbeiten.“
Es dauerte nicht lange, da kehrte er voller Stolz wieder zurück.
„Ich habe die Sache erledigt, meine Lieben. Kein Problem mehr. Seine Exzellenz haben gnädigerweise gestattet, dass ihr nun das Essen servieren dürft. Aber nicht vergessen, vorher anklopfen, sonst wird unser Turbanträger sauer. Außer ihm zu dienen dürft ihr leider nicht viel mit ihm machen, aber er ist ja selbständig, und den Verbandwechsel, den machen wir dann morgen im OPS. Im Übrigen ist er ganz umgänglich. Ihr wisst ja, in seinem Land herrschen noch andere Sitten. Da ist der Mann der Pascha, und die Frauen haben zu gehorchen. Paradiesische Zustände! Sind zu beneiden, die da unten.“
Dieser Chirurgieassistenzarzt war bekannt für seine Sprüche. Die einen liebten ihn, die anderen konnten ihn nicht ausstehen, und Sarah mochte ihn überhaupt nicht. Sie verdrehte die Augen. Vor allem dieses unverblümte Machogehabe ging ihr wieder einmal gehörig auf die Nerven. Von dieser Warte aus gesehen war es nur allzu klar, wieso sich der Chirurg und der Ölscheich offensichtlich hervorragend verstanden.
Sarah ihrerseits hatte genug von solchen Männern. Chirurg, Scheich und eigener Vater, alle das gleiche Kaliber, fand sie.
Die Arbeit ging weiter. Wieder musste Sarah in das Zimmer des Scheichs, um das Essen zu bringen. Obwohl sie am liebsten wieder umgekehrt wäre, klopfte sie kräftig an die Türe. Lieber las sie Geschichten aus tausend und einer Nacht, als dass sie selbst in eine solche verwickelt würde. Sie fühlte sich bedrängt, doch tapfer trat sie ein.
Diesmal schaute der Orientale weniger finster, er schien sogar ein wenig zu lächeln. ‚Möglicherweise‘, dachte Sarah, ‚hat das Gespräch unseres Chirurgen doch etwas bewirkt, und der Abteilungsarzt stieg in Sarahs Beliebtheitskurve ganz leicht an.‘
Die Betreuung der anderen Patienten lenkte Sarah umgehend wieder ab.
Im Krankenzimmer FO 80, neben dem Araber war eine ältere Dame mit einem Knochenbruch des linken Oberschenkels stationiert. Die Abklärungen ergaben, dass dieser Knochen von einem bösartigen Tumor befallen war. Die Patientin schien sich der Tragweite nicht bewusst zu sein. Sie sprach über alles Mögliche, vor allem über ihre zwei Katzen, nur nicht über die Krankheit. Sarah staunte und war mit sich selbst nicht ganz zufrieden, da es ihr nicht richtig gelang, die entscheidenden Dinge anzusprechen.
Klassischer Fall von Verdrängung, meinte Abteilungsschwester Regula zu diesem Verhalten beim Mittagsrapport.
Sarah war erleichtert als endlich Feierabend war und sie Fabienne traf. Fabienne arbeitete auf derselben Station. Sie war allerdings bereits seit einigen Monaten diplomierte Krankenschwester. Die beiden kannten sich seit Kindheit, waren in Bülach aufgewachsen und besuchten das gleiche Schulhaus. Fabienne, ein Jahr älter, immer eine Klasse höher als Sarah. Als junge Mädchen waren sie mit Begeisterung zusammen bei den Pfadfindern. Nachdem sie sich in den letzten Jahren etwas seltener sahen, freuten sie sich nun beide sehr, als es möglich wurde, auf der gleichen Station zu arbeiten. Trafen sie sich während der Freizeit, konnten sie meist viel miteinander lachen. Doch an diesem späten Nachmittag waren sie nicht in Stimmung dazu.
Gut eingepackt in ihren warmen Mänteln, spazierten sie am Ufer des Zürichsees entlang. Vom Bürkliplatz aus gingen sie in den Arboretum Park und nahmen auf einer freien Parkbank Platz.
„Weißt du Fabienne, im Moment bin ich völlig durcheinander. Von den Männern habe ich jetzt einfach genug; ich habe die Nase gestrichen voll“, begann Sarah stockend.
„Ich verstehe dich gut“, antwortete Fabienne diplomatisch abwartend. Sie spürte, ihre Freundin musste die angestauten Gefühle endlich herauslassen können.
„Es ist jetzt zwar schon sechs Wochen her, aber ich habe mich überhaupt noch nicht davon erholt, dass er mich wegen einer Anderen verlassen hat. Ich verstehe es einfach nicht. Das schaffe ich nicht. Alles tut so weh, und ich komme mir wertlos vor.“
Fabienne schaute teilnahmsvoll. Ihr Blick spiegelte echte Zuneigung wider. Behutsam legte sie ihren Arm auf Sarahs Schulter.
„Ich kann mir das gut vorstellen“, fuhr Fabienne mit ruhiger, überlegter Stimme fort, „aber ich habe dir doch schon gesagt, solche Kerle sind es nicht wert, dass man ihnen auch nur eine Träne nachweint. Es ist hart, aber vergiss ihn und verschwende keine Gedanken mehr an ihn.“
Fabiennes Worte überzeugten höchstens sachlich, vom Gefühl her konnte Sarah nicht folgen. Noch immer fröstelte sie äußerlich und innerlich.
„Das sagst du so leicht. Ich frage mich, wieso ich das nicht schon viel eher bemerkt habe?“, rätselte Sarah.
„Zu Beginn einer Beziehung scheint immer nur die Sonne, und die Schattenseiten wollen wir gar nicht sehen. Es dauert eben lange, bis wir dahinter blicken und das Dunkle wahrnehmen. Manchmal verschluckt das Finstere dann alles“, philosophierte Fabienne.
„So ist es. Ich sehe jetzt nur noch Schwarz und Grau. Kein Ende ist in Sicht.“
„Das braucht seine Zeit, sogar viel Zeit. Der Kopf begreift schnell, das Herz ist träge. Lass deinen Schmerz zu und versuche nicht, ihn zu unterdrücken. Nur so kannst du alles richtig verarbeiten und bist danach bereit für einen Neuanfang. Seit den ersten Menschen gibt es Liebeskummer, und wäre dieses Problem nicht gelöst worden, so gäbe es auch uns beide nicht. Du kannst es dir im Moment noch nicht vorstellen, aber glaube mir, es kommen wieder bessere Zeiten. Nach jeder noch so dunklen Nacht geht wieder die Sonne auf“, versuchte Fabienne ihre neue Aufmunterungstaktik.
„Eine Nacht kann lang, sehr lang sein“, fügte Sarah traurig hinzu, doch sie war sehr berührt, wie ihre Freundin mitlitt und helfen wollte.
Für Sarah war es die erste große Liebe, die in die Brüche ging, und das setzte ihr sehr stark zu. In dieser Beziehung hatte Fabienne deutlich mehr Erfahrung. Sarah hatte es aufgegeben, den Überblick über Fabiennes Bekanntschaften zu behalten. Vom aktuellen Freund wusste sie gerade noch, dass er Fußballer war.
Eine kurze Pause entstand. Sarah schaute in die fernen Schneeberge, auf den See und beobachtete die Schwäne auf dem Zürichsee und holte tief Luft.
„Du weißt“, begann sie das Gespräch wieder mit unsteter Stimme, „die Schwäne sind sich ein Leben lang treu.“
„Du wirst deinen Schwan schon noch finden, dein Ex-Freund war eben nur eine Ente“, witzelte Fabienne.
„Ein hässliches Entlein“, erstmals lächelte Sarah wieder ansatzweise.
„Nicht mal das, aus einem hässlichen Entlein wird doch mal ein Schwan, dein Freund war eine hässliche Muräne.“
Sarahs Lächeln gefror auf den Lippen. „Zu allem Übel kommt jetzt noch der Ärger mit meiner Familie“, schüttete sie ihr Herz weiter aus, „dicke Luft zu Hause, denn mein Bruder will seine Lehre abbrechen und mein Vater tobt. Ich kann zu Hause mit niemandem reden, nicht mal mit meiner Mutter. Du kennst sie ja. Sie hat im Moment selbst genug Sorgen und ist nahe an einer Depression. Und heute als Krönung präsentiert mir das Leben auch noch diesen Ölscheich.“
„Ach, mach dir doch nichts draus“, beruhigte Fabienne sie, „dein Bruder wird schon wieder vernünftig, und dann erholt sich auch die restliche Familie. Der Ölscheich, na ja … der kommt halt aus einer ganz anderen Welt. In ein paar Tagen wirst du nur noch über den lachen. Bisher hat er immerhin noch nicht gefordert, dass du Kopftuch oder Schleier tragen musst!“ Sie kicherte amüsiert über sich selbst.
„Am meisten ärgert es mich, dass mir im entscheidenden Moment nichts eingefallen ist, du wirst behandelt wie eine geringklassige Bedienstete, und mir fiel nichts ein, womit ich mich hätte wehren können. Hab nur blöd dagestanden.“
„Morgen wirst du ihm eben sagen: Bei uns hier herrschen andere Sitten als bei euch im Orient, und bist du nicht willig, hol ich die Spritze!“ tönte Fabienne und schmunzelte angesichts der bildlichen Vorstellung.
Da konnte auch Sarah nicht anders und lachte mir ihr gemeinsam.
„Und dann auch noch unser Abteilungsarzt!“, fuhr Sarah fort. „Was der den ganzen Tag alles erzählt! Zu allen Frauen macht er ständig zweideutige Bemerkungen und versucht, wirklich mit jeder anzubandeln.“
„Hat er bei mir auch schon versucht, aber nur einmal. Dem hab ich dann was erzählt. Weißt du übrigens, wie man ihn auch noch nennt, unseren Abteilungsarzt?“
„Keine Ahnung“, Sarah zuckte mit den Schultern.
„Wäre auch ein passender Name“, lachte Fabienne. „Von Medizin hat er, glaub ich, wirklich keine große Ahnung. Aber nein! Sie nennen ihn jetzt Albtraumchirurg!“
In der Abenddämmerung machten sich Sarah und Fabienne auf den Heimweg. Sarah war froh in Fabienne die gute Freundin von früher wiedergefunden zu haben. Sie hatte sich in den vergangenen Jahren zu einer höchst attraktiven Frau entwickelt und war menschlich sehr gereift. Das war Sarah bereits am ersten gemeinsamen Arbeitstag aufgefallen. Sie hegte eine kleine Bewunderung für die Freundin, die recht viel Verantwortung trug und dies sehr souverän meisterte. Auch im Privatleben strahlte sie diese Selbstsicherheit aus. Ihren Humor und ihre Unbeschwertheit hatte sich Fabienne trotz allem bewahrt und war sich selbst treu geblieben. So war sie Sarah ein Vorbild, dem sie ein bisschen nacheifern wollte.
Am folgenden Morgen bekam Sarah zu spüren, wie es ist, wenn die Chirurgen schlecht gelaunt waren. Der Verbandwechsel beim Orientalen geriet zur Katastrophe. Wie am Spieß hatte er geschrien, dass man es reihum gehört haben musste. Und all das nur wegen eines einfachen Verbandwechsels nach operativer Entfernung von Hornhautschwielen an den Füßen und oberflächlichen Krampfadern an den Unterschenkeln. Um diesen Ärger zu vermeiden, war diese Prozedur morgen nun in Narkose geplant.
Die schmerzhafte Episode im Operationssaal schien dem Scheich ziemlich zugesetzt zu haben. Er wirkte plötzlich kleinlaut und war bedeutend umgänglicher geworden, bemerkte Sarah gegen Mittag.
Auf dem Gang kam ihr Heidi entgegen. Sie arbeitete auf der benachbarten Station und war ebenfalls Krankenschwester in Ausbildung, sogar aus derselben Schulklasse. Bekannt war sie wegen ihres starken Walliser Dialekts; sie kam aus dem Kurort Zermatt. Geradezu berüchtigt war Heidi aber wegen ihrer Neugier.
„Na, hast du mit dem schwerreichen Scheich geflirtet?“, fragte sie vieldeutig mit unnatürlich hoher Stimme und unpassendem Augenaufschlag. Genau wegen solchen Sticheleien waren Heidi und Sarah nicht unbedingt die besten Freundinnen. Sie kamen miteinander aus, aber über diese alberne Frage regte sich Sarah echt auf. Der Araber wäre wirklich der letzte Flirtkandidat, den sie sich vorstellen konnte.
„Du hast vielleicht Vorstellungen“, reagierte sie leicht gereizt. „Flirten! Während der Arbeit habe ich für so etwas keine Zeit.“
„Wollte er dich nicht mit in den Orient nehmen?“, ließ Heidi nicht locker und trat einen Schritt näher, sodass jede einzelne ihrer Sommersprossen zu sehen war. Sarah beschloss, vorerst einmal nichts zu sagen.
„Mich haben die Patienten eben schon oft einladen wollen. Kürzlich hat sich ein junger Patient sogar in mich verliebt“, kokettierte Heidi, „glaub ich.“ Sie fuhr sie sich mit den Fingern durch ihre roten Haare und schlug den Kopf zurück.
„Mit dem Scheich mitgehen? Das wäre das Letzte, das ich tun würde. Aber gut so. Dann verdreh du doch deinen Patienten den Kopf, ich dreh durch bei diesem Scheich.“
Es war Mittagspause. Fabienne kam und nahm Sarah und Heidi zum Mittagessen in die Kantine mit.
Dort war der Scheich erneut das beherrschende Thema, obwohl er der gesündeste Patient auf der ganzen Station war.
„Stolz, ja das ist er. Erst spielt er sich als großer Kalif auf, und dann entpuppt er sich als schmerzempfindlich, wie ein kleines Kind. Das passt doch nicht zusammen. Ich habe langsam genug von diesem Patienten“, schilderte Fabienne ihre Gefühle als Mischung aus Faszination und Abneigung.
„Tatsächlich?“, mischte sich Heidi ein. „Ich würde es doch irgendwie interessant finden mit einem Sultan zu sprechen. Das ist doch so was Besonderes, Geheimnisvolles. Schade ist er nicht auf meiner Station!“
„Von mir aus können wir gerne tauschen“, meinte Sarah kopfschüttelnd.
„Gerade diese Erotik finde ich prickelnd“, hauchte Heidi gedankenverloren.
„Auf die Exotik kann ich gerne verzichten“, schmunzelte Sarah amüsiert über das Wortspiel.
Sarahs Nacht war voll wilder Träume …
Ganz allein befand sie sich in der Wüste und rannte einem Kamel nach. Oben drauf saß ihr ehemaliger Freund, an den sich eine fremde Frau klammerte. Die beiden ritten davon und hörten nicht auf Sarahs Hilferufe. Sie war verzweifelt und verspürte ein entsetzlich starkes Durstgefühl. Erschöpft ließ sie sich in den Wüstensand fallen. Sie konnte nicht mehr. Als Sarah ihren Kopf wieder anhob, entdeckte sie in weiter Ferne eine Oase, oder war das eine Fata Morgana? Sie schaute sich um. Da nahte eine ganz in Weiß gehüllte Gestalt. Auf den zweiten Blick erkannte Sarah den Scheich. Sein Gesichtsausdruck war zweideutig; er blickte finster und hob gleichzeitig die Mundwinkel zu einem Lächeln an. Mit Datteln wollte er Sarah zu sich locken. Aufgeschreckt stand Sarah wieder auf und flüchtete vor dem Scheich, der sie hämisch grinsend verfolgte. Doch so sehr Sarah auch rannte, sie kam kaum vom Fleck. Endlich gelang es ihr, den Verfolger abzuschütteln und sich in eine menschenleere Oase zu retten. Dort warf sie sich erschöpft in den Schatten der Palmen und trank einen Krug Wasser nach dem andern. Anschließend schlüpfte sie aus ihren staubigen Kleidern und kühlte sich in einem Wüstensee ab. Nackt schwamm sie eine Weile im Wasser und entspannte sich allmählich. Als sie aus dem Wasser stieg, fand sie ihre Kleider nirgends mehr. Sie suchte und suchte, doch vergeblich. Plötzlich stand der Scheich kalt lächelnd vor Sarah und weidete sich an ihrer Nacktheit, die sie nicht verbergen konnte …
Schweißgebadet erwachte sie und knipste das Licht an. Ihr geröteter Kopf fühlte sich so heiß an, als wäre sie tatsächlich aus der Sahara zurückgekehrt. Zum Glück kein Scheich in der Nähe. Alles nur Traum. Nachdem sich Sarah etwas beruhigt hatte, stand sie mit bleiernen Gliedern auf und beschloss, diese Traum nicht zu analysieren.
Wenig später, saß sie bereits beim Morgenrapport auf ihrer Station. Sarah war noch sehr verwirrt und hatte Mühe zu folgen. Die Nachtschwester berichtete über die Ereignisse der letzten acht Stunden. Jeden Patienten besprachen sie der Reihe nach. Als der Scheich an der Reihe war, zuckte Sarah zusammen. Doch über ihn gab es nichts Besonderes zu erzählen, auch er hatte, wie die anderen Patienten, in der Nacht ruhig geschlafen – und keine Verfolgungsjagden unternommen.
Endlich, dachte Sarah, ist auch dieser Rapport zu Ende und ich kann mit meiner Arbeit beginnen. Bei jedem Schichtwechsel fand eine solche Besprechung statt, die manchmal etwas lange dauerte.
Sarah musste nun die Patienten waschen, die dazu nicht in der Lage waren, als Erste die 79-jährige gebrechliche Dame mit dem Knochentumor. Sarah hatte etwas Mühe damit, die Schlafenden für diese Tätigkeit jeweils schon um sieben Uhr wecken zu müssen. Doch würde nicht früh genug damit begonnen, blieb nicht genügend Zeit für all die anderen klinischen Arbeiten des Tages. Meistens begann die Nachtwache sogar schon um sechs Uhr mit der ersten Wäsche.
Sarah knipste im Krankenzimmer nur die Nachttischlampe an, damit ihre Patientin vielleicht noch etwas weiterdösen konnte. Es wäre Sarah im Moment nur recht gewesen, wenn ihre Patientin etwas weniger als üblich spräche. In den vorangegangenen Tagen hatte Sarah fasziniert den Schilderungen gelauscht. Biografien interessierten sie enorm. Das waren keine erfundenen Geschichten wie in Romanen, dies war das echte, wahre Leben. Sie überlegte sich, wie ihre Patientin wohl im Alter von zwanzig Jahren ausgesehen haben mochte. Doch jeder ablenkende Gedanke war vergebens. Die Erinnerungen an den Traum kehrten immer wieder zurück.
‚Zum Glück muss ich den Scheich nicht waschen. Wenn ich nur möglichst schnell wieder aus diesem Zimmer hinauskomme‘, dachte Sarah, als es Zeit war, sein Frühstück zu servieren. Sie schnappte sich ein Tablett, stellte es dem Scheich hin und verschwand rasch wieder.
„Schwester Sarah kommen sie augenblicklich zu mir“, posaunte Abteilungsschwester Regula plötzlich sehr bestimmt durch den Gang.
‚Was mag denn jetzt sein?‘, dachte Sarah und begab sich ins Stationszimmer. Die Kolleginnen schauten ihr interessiert nach. Dort wartete bereits die Vorgesetzte und Fabienne stand daneben.
„Sie sollten doch mittlerweile wissen, dass Patienten vor einer Operation nüchtern bleiben müssen, oder ist das noch nicht in Ihrem Kopf angekommen?“, fragte Schwester Regula provokativ.
„Sicher weiß ich das“, antwortete Sarah standhaft.
„Ja, passen Sie denn beim Rapport nicht auf?“
„Doch, natürlich, da höre ich zu“, antwortete Sarah etwas leiser.
„Diesen Eindruck habe ich aber gar nicht. Warum servieren Sie denn Herrn al-Haqqaui ein Frühstück, wenn er heute operiert wird?“
„Ich, äh, dachte …“, Sarah wusste nicht mehr, was sie sagen sollte.
„Deswegen gibt es bei uns einen Rapport. Da werden alle die wichtigen Dinge besprochen. So etwas darf einfach nicht passieren, keinesfalls! Und Sie, Schwester Fabienne, tragen ebenfalls die Verantwortung. Sie hätten das merken müssen.“
Da Sarah noch Schülerin war, traf sie nicht die volle Schuld. Sie unterstand der Obhut einer diplomierten Krankenschwester, das war an diesem Tage ausnahmsweise Fabienne. Die üblicherweise zuständige Schwester hatte ihren freien Tag. Fabienne wollte Sarah eigentlich nicht so gerne beaufsichtigen, doch an diesem Tag ging es von der Personalplanung her einfach nicht anders. Da Fabienne volles Vertrauen in ihre Freundin hatte, kontrollierte sie nicht alles bis ins Letzte.
„Nun“, argumentierte Fabienne sachlich, „das wurde erst gestern Abend festgesetzt, dass der Verbandwechsel beim Scheich in Narkose stattfindet. Normalerweise werden bei solch kleinen Eingriffen keine Narkosen benötigt. Das ist eine sehr ungewöhnliche Situation.“
„Sie sollten niemals, auch wenn etwas Außergewöhnliches verordnet wird, überfordert sein“, stichelte Schwester Regula, die Widerspruchsgeist gar nicht leiden mochte.
„Das stimmt und es tut mir wirklich leid“, gab Fabienne schließlich nach.
Regula nickte. „Hoffentlich, tut Ihnen das leid. Bei uns, und das finde ich bemerkenswert, wird die Betreuung immer individuell abgestimmt“, fügte sie in ihrer typischen belehrenden Art an.
„Jetzt muss wegen Ihres Fehlers das ganze Operationsprogramm umgestellt werden. Sind Sie sich dessen bewusst?“
Fabienne und Sarah nickten.
„Nun gut. Sie werden daraus lernen. Glücklicherweise ist niemand zu Schaden gekommen. Das ist das Wichtigste. Und jetzt wieder an die Arbeit!“
Sarah zitterte nach dieser Tirade und brachte kein Wort mehr heraus.
Fast ebenso schlimm empfand sie die Blicke gewisser Kolleginnen. Es schien, als würden sich diese Schwestern darüber freuen, dass Sarah ein Missgeschick widerfahren war. Auch all das Geplapper und die direkten und indirekten Anspielungen hinter ihrem Rücken machten Sarah zu schaffen. Es wurde sogar gemunkelt, der Scheich hätte ein Auge auf sie geworfen.
Als wäre das alles nicht genug, erschien kurze Zeit später auch der Abteilungsarzt und schimpfte seinerseits gehörig mit ihr.
Fabienne zog ihre Kollegin danach zum Bettenmachen ins nächste Zimmer. Es war leer, so konnten sich die zwei ungestört unterhalten.
„Das darfst du nicht zu persönlich nehmen“, meinte Fabienne kurz, nachdem der Arzt den Stock verlassen hatte: „Chirurgen explodieren eben mal, aber sie beruhigen sich auch rasch wieder, wie unsere Regula, deshalb passt sie auch gut in diesen Laden.“
Sarah schaute noch immer betrübt. „Na ja, trotzdem hätte mir das nicht passieren dürfen.“
„Jetzt ist es halt so, und wir können es nicht mehr ändern. Ich rege mich auch auf, dass ich das übersehen habe, das kannst du mir glauben, aber eine Katastrophe ist das nicht. Irgendwann ist der Orientale wieder nüchtern, und dann wird dieser kleine Eingriff eben ein paar Stunden später nachgeholt.“
Sarah nickte. Beim Bettenmachen konnte sie sich etwas entspannen. Die Handgriffe waren gut eingespielt, und die Arbeit ging zügig voran.
Manchmal frage ich mich, ob ich den richtigen Beruf ergriffen habe“, klagte Sarah nach einer kurzen Denkpause.
„Nein, also wirklich, jetzt beginne nicht auch noch daran zu zweifeln“, entrüstete sich Fabienne. „Das ist jetzt wirklich das Absurdeste, das ich je von dir gehört habe. Ich sehe ja täglich, wie gut du deine Arbeit machst. Noch vor ein paar Tagen warst du ganz begeistert, das kann sich doch nicht einfach alles über Nacht ändern, nur wegen eines läppischen Fehlers. Wegen der ersten kleinen Schwierigkeit, wirst du doch nicht sofort die Flinte ins Korn werfen. Probleme sind da, um gelöst zu werden.“
‚Das könnte mein Vater gesagt haben‘, dachte Sarah.
„Du musst auch nicht alles so schwer nehmen. Das Wichtigste ist, du darfst dein Ziel nie aus dem Auge verlieren. Der Weg kann steinig sein, aber wenn du an dich selbst glaubst, erreichst du dein Ziel“, dozierte Fabienne und strich mit einer letzten Bewegung über das Patientenbett. Das Zimmer war wieder perfekt hergerichtet.
Sarah schaute nach irgendwo zum Fenster hinaus, zuckte mit den Schultern. ‚Es lebt sich wohl leichter, wenn man für alles eine Antwort kennt‘, dachte sie, doch für sie blieben viele Fragen offen.
Als sie das Zimmer verließen, kam ihnen Heidi auf dem Gang entgegen.
„Was gibt es Neues aus Saudi-Arabien? Hat er euch etwas mitgebracht? Hat er euch Datteln und Feigen angeboten?“, fragte Heidi.
„Die würde ich nicht mal im Traum annehmen“, sprach Sarah entschieden, schüttelte den Kopf und drehte den Spieß um.
„Sag mal Heidi, habt ihr auf eurer Station keine interessanten Patienten, dass du dich immer nach uns orientieren musst?“
„Natürlich pflege ich sehr viele interessante Leute. Meine Patienten sind in der Klinik, weil sie wirklich etwas haben und krank sind. Euer Scheich … was hat der schon? Bei uns wird man eben medizinisch gefordert. Da lernt man auch was.“
„Das freut mich für dich, Heidi, das tut dir sicher gut.“
Heidi bemerkte Sarahs Ironie nicht, denn sie war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
„Zum Beispiel dieser junge Patient mit der Milkenruptur“, fuhr Heidi fort. „Er hatte einen Motorradunfall und wäre beinahe an den inneren Blutungen gestorben. Im letzten Moment hat man ihm noch die Milken herausoperiert.“
„Milkenruptur? Was soll denn das sein?“, fragte Fabienne irritiert.
„Du meinst wohl die Milz“, bemerkte Sarah.
„Milz, ja das sagte ich doch.“ Heidi ließ sich keineswegs beirren. Zuweilen wirkte sie tatsächlich sehr drollig, wenn sie todernst den reinsten Unsinn von sich gab und das nicht einmal merkte. Im Gegenteil, sie kam sich dabei unheimlich wichtig vor. Und diese Diskrepanz ließ Sarah des Öftern schmunzeln.
„Ich betreue zudem seit heute eine ältere, freundlich liebenswürdige Patientin mit Schlaganfall. Sie war sogar eine ganze Woche auf der Intimstation, da sie ins Coma sutra gefallen war.“
Was gab es da noch zu sagen.
1 Visceralchirurgie: wörtlich Chirurgie der Eingeweide, Chirurgie der inneren Organe in Abgrenzung zur Traumatologie, der Unfallchirurgie.
2 Prämedikation: Medikamente, die etwas vor dem Operationsbeginn verabreicht werden, um bereits einen gewissen Zustand sowohl von Müdigkeit als auch von Gleichgültigkeit herbeizuführen damit Aufregung und Angst etwas gedämpft werden.
3 Einführen eines Plastikschläuchleins (Tubus) über Mund oder Nase in die Luftröhre zur Sicherung der Atemwege und Beatmung