Читать книгу Die Rückseite der Wahrheit - Riccardo del Piero - Страница 6

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Das Traumgesicht

Es gibt Tage, da spürt man schon frühmorgens, dass es ein guter Tag wird. Ich wusste es gleich um kurz nach sechs Uhr früh, als der Radiowecker Mozart spielte. Schon nach zwölf Takten fühlte ich mich fröhlich beschwingt und spürte die wiedererwachten Lebensgeister. Endlich war ich wieder ich selbst und im Vollbesitz all meiner Kräfte.

Welch ein Unterschied zum vorigen Abend!

Die Geschehnisse des Vortages waren bereits in die Ferne gerückt und belasteten mich kaum mehr. Nach Dusche und Kaffee strotzte ich geradezu vor Energie und war über meinen frühmorgendlichen Tatendrang beinahe selbst erstaunt.

Nun genoss ich mein Frühstück mit Mozart, es erklang inzwischen bereits das Rondo aus dem 3. Satz. Seit Kurzem gönnte ich mir den Luxus, ausgiebig und genüsslich zu frühstücken und nahm gerne in Kauf, etwas früher aufzustehen. An diesem Tag opferte ich gar das letzte Ei und damit war mein Kühlschrank vollständig geleert.

Im Treppenhaus geschah ein kleines Wunder. Zum ersten Male grüßte mich mein Nachbar, ein etwa gleichaltriger Bankbeamter, und wünschte mir einen guten Morgen. Wie war ich erstaunt! Monatelang hatte ich ihn gegrüßt, ohne dass er reagiert hätte. Doch ich gab die Hoffnung nicht auf und gewährte ihm einem Freundlichkeitskredit mit einer Laufzeit von einem Jahr. Offenbar zahlte sich meine Investition nun aus.

Mozarts Ohrwurm verfolgte mich noch in der Straßenbahn. Und sogar auf dem Weg zum OPS pfiff ich die Melodie. Als ich die Umkleidekabine betrat, fiel mein Blick ausgerechnet auf Huber, und ich verstummte augenblicklich.

Normalerweise sprach er morgens kaum in der Garderobe, doch an diesem Tag begann er sogleich ein Gespräch über seine Katze, vermutlich, um die Kratzspuren an den Unterarmen zu rechtfertigen. Schließlich fügte er dann noch auf seine typische, leicht spöttische Weise an: „Genieße deine letzten Tage bei uns!“

„Ja, ich versuche zu genießen, was es zu genießen gibt“, antwortete ich, und mir wurde wieder bewusst, dass ich nun, nach drei Monaten Visceralchirurgie in die Augenklinik versetzt wurde. Alle Assistenzärzte wechselten ihren Arbeitsort innerhalb des Universitätsspitals von Zeit zu Zeit. Diese sogenannte Rotationsplanung lag leider in den Händen von Huber. Aufgrund seiner Einteilung konnte jeder auf den ersten Blick die eigene Beliebtheit ablesen. Eine handverlesene Anzahl Assistenzärzte, die Huber gut mochte, blieben länger in seiner Abteilung, denn darüber waren sich die Anästhesisten einig: Die Visceralchirurgie galt neben der Notfallstation als die interessanteste Rotationsstelle. Die Augenklinik hingegen wurde als langweilig eingestuft. Offenbar floss da zu wenig Blut.

Auf meinem Weg zu Saal 5 begegnete mir Anita.

„Unsere Narkose ist vorerst verschoben worden. Der Patient ist nicht nüchtern, er soll gefrühstückt haben. Es ist dieser Ölscheich, auf den bin ich ja mal sehr gespannt.“

„Wie kann denn so etwas passieren? Jeder sollte doch wissen, dass man vor einer Operation nichts essen darf! Die Verständigung ist wohl ein bisschen schwieriger mit dem Herrn aus Saudi-Arabien. Er spricht zwar ganz leidlich Englisch. Aber es wird wohl noch ein Weilchen dauern, bis er wieder nüchtern ist.“

„Ob der wohl mit Turban in den OPS kommt? Lass uns erst mal einen Kaffee trinken“, forderte mich Anita auf und setzte ein markantes Lächeln auf.

Ich wollte zuerst den Kollegen in den anderen Operationssälen helfen, doch Anita steuerte zielstrebig auf die große Thermosflasche im Kaffeeräumchen zu.

„Nicht nötig, die kommen klar“, meinte sie entschlossen. Sie brachte zwei Kaffeetassen, deren Inhalt noch dampfte und verlockend duftete, und setzte sich auf den Stuhl direkt neben mir. Noch nie wurde mir bisher der Kaffee serviert. Leicht erstaunt bedankte ich mich.

Wir waren alleine im nüchternen, mit Neonlicht erhellten, eher kleinen Pausenraum. Von draußen waren die üblichen monotonen Arbeitsgeräusche zu vernehmen, die auf regen Betrieb schließen ließen.

Anita schlug die Beine übereinander, trank genussvoll einen Schluck Kaffee und lehnte sich zufrieden zurück.

„Selten einen solch ruhigen Morgen erlebt, ist auch mal schön so, nicht?“

Anita war an diesem Tag besonders gesprächig, während ich nur mit einem Ohr hinhörte und mich auf meinen Kaffee konzentrierte.

Plötzlich öffnete sich die Türe lautstark und Huber betrat den Raum. Er musterte uns mit durchdringendem Blick und erstickte damit Anitas Monolog.

„Hört mal“, begann er und hob sein Kinn. „Die wollen den Verbandwechsel bei deinem Scheich trotzdem machen. Ich habe zugestimmt, denn es braucht ja wirklich keine Vollnarkose für einen einfachen Verbandwechsel. Da der Scheich sehr schmerzempfindlich ist, habe ich bereits eine leichte Sedierung verordnet. So wird er ein bisschen indifferent und lässt den an sich sehr kurzen Eingriff problemlos über sich ergehen.“ So schwebte es Huber wenigstens vor.

Skeptisch gespannt begab ich mich in Operationssaal Nummer 5. Auch der Alptraumchirurg war schon wieder da, zusammen mit seinem Oberarzt. Sie boten ein äußerst ungleiches Paar. Der eine war kleingewachsen und mit reichlicher Körperfülle ausgestattet, sein Kollege dagegen groß und hager. Geradezu jovial grüßten sie.

Hoffentlich will mir der Dicke nicht schon wieder seine Geschichten erzählen, über die nur er lacht, hoffte ich still.

Belustigt erzählte der Alptraumchirurg, wie er die Krankenschwester, die dem Scheich das verbotene Frühstück serviert hatte, zurechtgewiesen hatte. Nach seinen Schilderungen musste es eher ein Zusammenstauchen erster Ordnung gewesen sein.

Anfänglich schienen mir die meisten chirurgisch tätigen Ärzte locker und unkompliziert. Doch allmählich merkte ich, dass alles nur Maske war. Sobald etwas nicht nach Plan lief, gerieten sie sofort aus dem Häuschen und explodierten.

Wirklich gute Chirurgen hatten das nicht nötig.

Endlich wurde auch Scheich Abdullah Bin Suleiman al-Haqqaui aus Saudi–Arabien in den Saal gerollt. Trotz all der von Huber bereits verordneten Medikamente konnte ich keinerlei beruhigende Wirkung erkennen. Die Chirurgen begannen ihre Arbeit trotzdem, ohne lange zu überlegen. Kaum berührten sie allerdings den Verband, meldete sich der Patient lautstark, beinahe ohrenbetäubend schreiend. Als sie sich gar erkühnten, diesen Verband leicht abzulösen, krähte Abdullah aus vollen Leibeskräften, als hätte er überhaupt keine Schmerzmittel bekommen. Er musste selbst im Pausenraum hörbar gewesen sein, denn schon bald erschien Huber mit sorgenvoll zerknirschter Miene.

„Was macht ihr denn da? Ist ja nicht auszuhalten, dieses Geschrei. Das ertrag ich einfach nicht, ich kann nicht sehen, wie jemand so leiden muss!“

Umgehend holte er zusätzliche Ampullen, die er sogleich selbst injizierte und mich dabei von meinem Arbeitsplatz am Kopfende des Operationstisches verdrängte. Wir warteten einen Moment und sahen zu, wie der Patient sichtlich müder wurde. Dann lag der Scheich ruhig da, er schien gar friedlich zu schlafen, war aber trotzdem noch knapp ansprechbar und antwortete eher einsilbig. Sobald sich die Chirurgen allerdings auch nur ansatzweise an seinem Verband zu schaffen machten, erwachte er mit Stöhnen.

„In solchen Fällen, nimmt man als kurzwirksames Anästhetikum Ketalar, das wirkt Wunder“, dozierte Huber.

„Hoffen wir mal, dass da keine lebhaften Träume und Halluzinationen auftreten“, warf ich ein, denn dies waren sehr berüchtigte Nebenwirkungen dieses Medikaments.

„Man muss eben die richtige Dosierung kennen. Ich habe das nach dem Gewicht des Patienten berechnet und da passiert schon nichts“, sprach Huber, injizierte das Mittel und schaute interessiert auf den Scheich, der nun plötzlich ruhig dalag.

Jetzt gelang es, den Patienten zu berühren, ohne dass eine Reaktion erfolgte. Huber nickte zufrieden.

„Na also!“, sprach er triumphierend, drehte sich um und verließ den Saal raschen Schrittes, um seinen Kaffee nicht kalt werden zu lassen.

Der Scheich lag noch immer ruhig und scheinbar unbeteiligt auf seinem Schragen.

Anfänglich traute der Albtraumchirurg der Situation noch nicht. Vorsichtig begann er den Verband aufzurollen. Nichts geschah. Ungewohnt behutsam, als galt es eine Mumie zu enthüllen, löste er den Verband noch etwas weiter ab. Noch immer blieb der Patient ruhig, gab nur ein leichtes Schnarchen von sich. Da fuhren die Chirurgen schon fast wieder in ihrer gewohnten Art und ihrem forschen Tempo weiter.

Doch der Frieden währte nicht lange. Unerwartet und blitzschnell setzte sich der Patient plötzlich auf und begann gleichzeitig laut hinauszuposaunen: „Look at me, I am Superman! I am the greatest!“

Alle Umstehenden blickten erstaunt. Kurze Zeit später stand der Scheich gar auf seiner Operationsliege und präsentierte seinen Bizepsmuskel. Superman wollte zum Fliegen ansetzen, wovon wir ihn mit vereinten Kräften gerade noch abhalten konnten.

„I am flying!“, krächzte er, ohne eine Miene zu verziehen.

Da erkannten auch die Chirurgen das unfreiwillige, komische Talent des Scheichs und konnten ihr Lachen nicht mehr zurückhalten – zumal ja ihr Chef nicht zugegen war.

„Please come back to earth and follow me Superman”, beruhigte ich den Scheich.

„Ok“, murmelte al-Haqqaui leise, und legte sich tatsächlich wieder hin.

Erneut konnte der Verbandwechsel für zwei Minuten fortgeführt werden. Währenddessen war nur ein leises Summen vom Patienten zu vernehmen. Doch plötzlich richtete er sich erneut auf, diesmal aber nicht mehr als Superman-Kopie, nein er tat so, als ob er Gitarre spielte.

„I am Elvis Presley“, verkündete er lautstark und begann unüberhörbar mit seiner Bassstimme „Are you lonesome tonight“ zu singen.

Die Situation war einfach zu grotesk; eine noch nie dagewesene Vereinigung von Orient und Okzident. Der saudi-arabische Scheich kniete im Spitalhemd auf dem Operationstisch mit halb eingebundenen Beinen, trug anstelle des klassischen Turbans ein grünes Operationshäubchen und versuchte wie Elvis zu singen. Sein Hüftschwung war ganz passabel, alleine die Qualität des Gesanges ließ zu wünschen übrig.

Inzwischen hatte sich der Operationssaal mehr und mehr mit Personal aus den benachbarten Räumen gefüllt. Nur Huber ließ sich nicht mehr blicken.

„Von wegen keine Halluzinationen“, meinte ich schmunzelnd zu Anita, die sich nicht mehr beherrschen konnte und laut lachte. Das irritierte den Scheich wohl doch ein wenig.

„Do you think I am crazy?”, fragte er, etwas scheu.

Anita wäre es zuzutrauen gewesen, die Frage zu bejahen. Ich musste ihr mit der Antwort zuvorkommen.

„Listen, Elvis was a Superman and I don’t want to be cruel, to say Elvis-Fans are crazy. But, now or never, we need less conversation for the operation.”

Der Elvis-Fan nickte, doch es bereitete ihm sichtlich Mühe, die Augen offen zu halten. Es war ein herzerwärmendes Bild, wie er so dalag.

„Do you want to be my Teddybear?”, fragte er zu Anita gewandt.

Sie schmunzelte. Eine Antwort war indessen nicht mehr nötig, da der Scheich kurz einnickte.

Nach einer kurzen Pause sammelte sich Abdullah wieder.

„And now a hit from the Beatles, do want to hear the Beatles?“, fragte er.

„Let it be!“, teilte ich ihm mit und schüttelte den Kopf.

„What about Simon and Garfunkel?“, fragte er schließlich, nun mit etwas schleppender Stimme.

„We prefer silence without sound“, antwortete ich.

„See you later aligator“, meinte Scheich Abdullah mit traurigem Blick.

„After a while, crocodile“, lächelte ich ihm zu.

Danach verfiel er in einen stundenlangen Tiefschlaf. Das halluzinogene Kurzzeitmedikament war nicht mehr wirksam, dafür alle anderen Narkosemittel, die wir verabreicht hatten, und so konnte der skurrilste und auch unterhaltsamste Verbandwechsel, den ich je erlebt hatte, problemlos beendet werden.

Der Frischoperierte befand sich im Tiefschlaf, als wir ihn aus Saal 5 rollten. Huber lief uns über den Weg, musterte den Patienten zufrieden und meinte triumphierend: „Hat ja alles prima geklappt. Siehst du, wie der tief und gut schläft. Und du hast schon gemeint, da könnten Halluzinationen auftreten. Das war mal wieder eine Lektion, wie man die Medikamente richtig mischt. Du musst eben noch viel lernen!“

Diesmal gelang es Anita gerade noch, ihr Lachen zu unterdrücken, während ich das Bett schnell weiterschob und Huber zunichte, ohne die Mundwinkel zu verziehen.

„Effektiv, das war eine eindrückliche Lektion. Wir alle sollten immer wieder dazulernen!“

Beim Mittagessen in der Kantine erzählte ich die Geschichte eben zum zweiten Male, da sich laufend Kollegen zu uns an den Tisch setzten und wieder lachte die Runde mitsamt der Kollegen vom Nachbartisch. Nur Huber und sein blasser Oberarztkollege, der auch nicht viel besser war, saßen so weit weg von uns, dass sie nichts hören konnten. Die beiden wirkten wenig amüsiert.

Ausnahmsweise wurde an diesem Tag weniger operiert als sonst, so konnte unser Anästhesieteam die Mittagspause etwas ausdehnen. Es waren fast nur noch Chirurgen und Anästhesisten in der Kantine, als ich mir einen Kaffee und ein Erdbeertörtchen holte.

Da setzte sich der Alptraumchirurg zu uns, ohne zu fragen, direkt neben Anita, die rasch etwas beiseite rückte.

„Das Essen habt ihr wohl besser im Griff als die Narkose bei einem Scheich. Muss bei denen wohl besonders schwierig sein; vielleicht solltet ihr es mit Feuerwasser probieren oder auf die gute alte Bleihammermethode setzen.“

„Das werden wir gleich jetzt bei dir ausprobieren, wenn du uns weiter solche Patienten servierst“, konterte ich.

„Gegen Feuerwasser ist nichts einzuwenden. Doch Spaß beiseite“, beruhigte der Alptraumchirurg, „ich muss euch unbedingt einen Witz erzählen, da werdet ihr euch totlachen.“ Dabei klopfte er sich kurz auf die Schenkel und holte aus: „Da treffen sich zwei in einer Bar, ein junger Mann und eine attraktive junge Frau“, vielsagend schmunzelnd, blickte er zu Anita. „Die beiden finden sich sehr sympathisch, nach jedem Glas noch etwas mehr. Nach Mitternacht entschließen sie sich, die Nacht bei ihr zu verbringen.“

Weiter kam er mit seiner Erzählung nicht mehr, da sein Sucher piepste und er sogleich wegen eines Notfalles die Kantine wieder verlassen musste.

Am späteren Nachmittag besuchte ich, wie jeden Abend, all meine frisch operierten Patienten. Postmedikationsvisite nannten wir das, denn häufig gab es noch etwas zu verordnen, zur Kreislaufstabilisierung oder vor allem gegen die Schmerzen. Danach sahen wir die Operierten dann aber meist nicht mehr, außer, wenn sie sich einem weiteren Eingriff unterziehen mussten.

Es dürften große Strecken sein, die ich auf all diesen Visiten zurücklegte. Schier endlos lang waren die Gänge im Universitätsspital mit all den Nebengebäuden und Anbauten. Ich hatte dabei ausreichend Zeit über meine Patienten nachzudenken, und natürlich war ich auf den Ölscheich besonders gespannt. Auf der Station FO III angelangt, traf ich erneut auf den Alptraumchirurgen. Er begleitete den Chefarzt auf der Visite, ein ungünstiger Moment, um den Witz fortzusetzen, stattdessen grinste er breit mit angedeutetem Kopfnicken und hob die Hand locker zum Gruß, während der Chefarzt stur geradeaus schaute.

Ich atmete erleichtert auf.

Gedankenverloren passierte ich das Stationszimmer FO III, den Raum der Krankenschwestern. Beiläufig schaute ich durch die gläserne Trennwand ins Innere des Zimmers, da geschah etwas derart Eigenartiges, wie ich es in meinen bisherigen 27 Jahren noch nie erlebte hatte. Es sollte mein Leben von einem Moment zum andern verändern.

Direkt hinter der Scheibe stand eine großgewachsene, blonde Krankenschwester, die ich aus dem Augenwinkel wahrnahm. Ich drehte meinen Kopf unwillkürlich in diese Richtung und schaute direkt in ihre Augen, in die Augen einer unbekannten Schönheit. Und es geschah das Unerklärliche. Auf einen Schlag befand ich mich in Trance und sah in eine andere, mir unbekannte Welt. Mit diesem Anblick war ich verzaubert.

Ihr Blick. Er widerspiegelte eine solch süße Offenheit, dass es nur natürlich war hinzuschauen, und ich konnte auch gar nicht anders.

Ihr Gesicht. Es war schlicht ein Traum. Es hübsch zu nennen, wäre eine glatte Untertreibung gewesen. Es war die absolute Schönheit, gepaart mit weiblich, anmutiger Ausstrahlung voller Charme und noch viel, viel mehr.

Das Traumgesicht lächelte sanft, nur dezent, nur angedeutet, aber umso strahlender. Kraftvoll leuchtend wie ein Sonnenaufgang. Ihr Lächeln war nur für mich bestimmt und berührte mich mitten in meinem Herzen. Nie zuvor hatte ich ein solch intensives Gefühl der Zuneigung erlebt. Ein metaphysisches Schaudern aus dem Nichts traf mich völlig unvorbereitet, und in diesem kurzen Moment kristallisierten sich alle positiven Emotionen. Es kam mir wie eine kleine Ewigkeit vor.

Dann senkte sie ihren Blick, schaute auf den Apfel in ihrer Hand und blickte nochmals kurz zu mir auf. Ihre blauen Augen funkelten nun geheimnisvoll unergründlich und es schien, als wollten sie eine Geschichte erzählen. Danach wandte sie sich ab und entschwand.

Ich träumte weiter von der schneeweiß gekleideten Gestalt mit den wunderschönen honigblonden Haaren und bemerkte erst etwas später, dass ich schon eine Weile vor der Glaswand stehen geblieben war und alles um mich herum völlig vergessen hatte. Ich holte tief Luft, denn wahrscheinlich hatte ich während dieser atemberaubenden, magischen Begegnung tatsächlich auch das Atmen vergessen.

Leicht verlegen, aber glücklich ordnete ich meine Gedanken. Es dauerte einen weiteren kurzen Moment, bis ich wusste, wohin ich ursprünglich wollte. Da ich noch zu verwirrt war, ging ich nicht direkt zum Zimmer des Scheichs, sondern schritt den Gang weiter entlang, dehnte meinen Spaziergang etwas aus um mich wieder zu sammeln. Erst als sich mein Puls wieder etwas beruhigt hatte, kehrte ich um und trat ins Zimmer meines orientalischen Patienten.

Er schien gut gelaunt zu sein und antwortete auf alle Fragen ganz angemessen. So merkte ich rasch, dass er sich an gar nichts mehr erinnern konnte, was im Operationssaal geschehen war. Al-Haqqaui war zwar noch etwas müde und erwähnte leichte Beinschmerzen, aber sonst ging es ihm wieder sehr gut.

Als ich gehen wollte, bemerkte ich auf dem Tischchen neben dem Bett einen Stapel CDs.

„Sie mögen Elvis? Heut habe ich ‚are you lonesome tonight gehört‘.“, erzählte ich.

„Das ist genau mein Lieblingssong!“, bemerkte der Scheich leicht verwundert, „Elvis singt einfach einmalig, niemand hat ihn je übertroffen.“

„Da haben Sie vollkommen recht; es geht eben nichts über das Original!“, verabschiedete ich mich und begab mich Richtung Stationszimmer, um ein etwas stärkeres Schmerzmittel zu verordnen. Sehnlichst hoffte ich, dort mein Traumgesicht von eben anzutreffen. Vor der Türe vernahm ich ein Stimmengewirr vermischt mit Lachen. War das der Klang ihres Lachens?

„Pass auf, dass du nicht in seinem Harem landest!“, hörte ich eine sich überschlagende, prustende Stimme, danach erneutes Kichern.

Als ich eintrat, sah ich im hinteren, etwas abgetrennten Teil des Stationszimmers vier junge Frauen in weißer Berufskleidung. Sie alle schienen belustigt zu sein, außer einer. Sie stand etwas abseits, wirkte leicht verärgert und hatte einen leicht roten Kopf. Es war sie mit dem faszinierenden Traumgesicht. Selbst in ihrer offensichtlichen Verlegenheit ein wunderschöner Anblick! Ich hatte sie wiedergefunden! Sie stand mir nun ganz nah, ohne trennende Glasscheibe, gegenüber und ich blickte zum zweiten Mal direkt in ihre Augen. Automatisch beschleunigte sich mein Puls.

Das Lachen im Raum verstummte, und alle Blicke richteten sich auf mich. Um die unangenehme Situation zu überbrücken, begann ich etwas verlegen mit meiner Verordnung für den Elvis-Fan. Beinahe versagte mir die Stimme.

Welch ein Glück, als ich erfuhr, dass mein Traumgesicht für den Scheich zuständig war. So konnte ich mich also direkt an sie wenden und mit ihr ins Gespräch kommen. Unter erneutem Kichern verließen zwei Krankenschwestern schließlich das Zimmer. Ich war nun alleine mit zwei jungen Damen, hatte aber nur Augen für die eine, natürlich für sie mit dem faszinierenden Gesicht.

Sie schien erleichtert zu sein, als die andern gegangen waren.

„Es ist lustig hier. Ist das alles wegen des Scheichs?“

„Ja, aber ich finde das nur begrenzt zum Lachen. Im Moment frage ich mich eher, was ihr mit dem Scheich gemacht habt, denn nach der Operation hat er fast die ganze Zeit nur geschlafen. Warum ist er so vollkommen weg?“, fragte sie.

Das war eine wunderbare Gelegenheit, um ins Gespräch zu kommen. Ich erzählte ein weiteres Mal die amüsante Geschichte aus dem OPS und konnte mich dabei an ihrem beeindruckenden Gesicht aus nächster Nähe sattsehen. Mir fiel auf, wie lebhaft ihre Mimik war. Schon bald begann sie selbst wieder zu lachen, die Verärgerung über ihre Kolleginnen von eben schien verfolgen. Ihr Lachen war erfrischend herzhaft und trotzdem nicht zu laut.

Ihre Augen hielten den Blickkontakt zu mir jeweils kurz und schweiften dann rasch wieder überall hin ab, vor allem immer wieder auf das Krankenblatt des Scheichs, der sie offensichtlich doch stark beschäftigte. Schließlich trug sie die Schmerzmittelverordnung ein.

„Tja, dann muss ich wohl weiter“, erklärte ich, da mir einfach nichts Passendes mehr einfiel, um die Unterhaltung fortzusetzen, und das Traumgesicht blickte etwas verlegen zur Seite. Schließlich verließen wir gemeinsam das Stationszimmer. Die anderen Schwestern waren damit beschäftigt ihren Patienten das Abendessen zu bringen. Da erblickten wir beinahe gleichzeitig am anderen Ende des langen Ganges den Albtraumchirurgen, der uns entgegen kam.

Sie atmete unwirsch aus. „Dieser Chirurg ist ein Albtraum für mich!“, raunte sie mir zu, erschrak aber wohl selbst ein wenig über ihre Äußerung, kannten wir uns doch erst seit einigen Minuten.

„Nicht nur für euch“, antwortete ich, während sie bereits das Essen des Scheichs aus dem großen fahrbaren Essenswagen nahm. Als sie mit dem Tablett ins Privatzimmer des Scheichs eintreten wollte, kreuzte der Alptraumchirurg ihren Weg.

„Jetzt dürft ihr ihm das Essen servieren“, witzelte er, „aber bitte nicht vor der Operation, merken wir uns das doch mal bitteschön.“

So langsam ging mir dieser Typ mit seinem unmöglichen Verhalten richtig auf die Nerven.

Ich wartete ziemlich lange auf den Lift. Als ich endlich eintreten konnte, stieg leider auch der Alptraumchirurg zu. Wir waren alleine im Lift, und noch bevor sich die Türe schließen konnte, begann er, wie befürchtet, auf mich einzureden.

„Jetzt muss ich dir den Witz weitererzählen: ‚Da treffen sich also zwei in einer Bar‘, nicht wahr, das hatten wir schon?“

„Ja, sicher.“

„Kurz, ‚sie fühlen sich gegenseitig voneinander angezogen, und im Verlaufe des späteren Abends gehen sie zu ihr nach Hause. Sie verbringen die Nacht miteinander und am Morgen nach dem Aufwachen, sagt er zu ihr …‘“

Hier endete seine Erzählung bereits wieder, denn der Fahrstuhl hielt und Professor Caminada, der Chefarzt der Chirurgie, stieg zu. Dies hinderte selbst den Albtraumchirurgen, der sich sonst kaum je in seinem Redefluss hemmen ließ, an der Fortsetzung seiner Erzählung. Von diesem Moment an sprach niemand mehr ein Wort im Lift, und so war ich froh, bald aussteigen zu können. Auf die Pointe des Witzes war ich inzwischen nicht mehr besonders gespannt. Die war wohl, wie bei allen Scherzen dieses Chirurgen, für ihn selber am komischsten.

Zu den letzten Aufgaben des Tages gehörte es, alle meine Patienten, die morgen operiert würden, zu besuchen. Schließlich folgte die Vorbesprechung des kommenden Operationstages mit den Oberärzten. Die Narkoseverfahren wurden festgelegt. Die Besprechung dauerte meist nur kurz, und danach war Feierabend. Diesmal widersprachen Huber und sein blasser Kollege meinen Vorschlägen nicht, und ich machte mich beschwingt auf den Weg zu meiner Garderobe. Dabei legte ich einen kleinen Umweg ein über die Station, wo sich der Scheich befand. Natürlich ging ich den weiteren Weg nicht in erster Linie wegen al-Haqqaui, sondern ich hielt nach meinem Traumgesicht Ausschau. Nachdenklich schritt ich langsam an den Zimmern entlang und sang gut gelaunt ‚It`s now or never‘ leise vor mich hin. Natürlich tönte es nicht besonders. Ich konnte nicht singen.

Am Ende des Ganges hielt ich an, um etwas Zeit zu gewinnen, denn von ihr sah ich nirgends eine Spur. ‚Die Tagesschicht ist natürlich schon beendet, da sind die meisten zu Hause‘, dachte ich enttäuscht.

Indessen tat ich so, als würde ich ein an der Wand aufgehängtes Bild genauer betrachten. Mein Song war bereits zu Ende, da mir der Text nicht mehr in den Sinn kam. Plötzlich hörte ich ein Geräusch hinter mir, drehte mich reflexartig um und blickte geradewegs in das lachende Gesicht des Scheichs. Er schien schon wieder recht munter und hatte meinen Gesang peinlicherweise gehört.

„Nett, Ihr Gesang“, meinte er, „aber das Original ist eben doch am schönsten!“

Eine halbe Stunde später war ich im Saal des Fechtclubs Zürich. Der Club befand sich bei der Allmend Brunau am Fuße des Uetlibergs am anderen Ende der Stadt, und dieser lange Weg war nicht eben motivationsfördernd. Seit Wochen hatte ich mich hier nicht mehr blicken lassen. Meist fühlte ich mich nach der Arbeit zu müde. Doch kaum war ich in meinen weißen Schutzanzug geschlüpft, so freute ich mich riesig aufs Fechten. Natürlich wollte ich auch wieder mal richtig Dampf ablassen.

Ich traf zuerst auf Peter, meinen Lieblingsfechtpartner, den ich schon seit Jahren kannte und mit dem ich schon viele Turniere besucht hatte. Peter studierte Germanistik und hatte viel freie Zeit.

Nach einer halben Stunde mündlichen Aufwärmens setzten wir uns endlich die Masken auf und packten die Degen aus der Sportstasche mit dem roten Schottenmuster.

Ich verlor einen Trainingskampf nach dem andern. Auch die Vorstellung, unter der Maske meines Trainingspartners stecke Huber, änderte daran nichts. Irgendwie fühlte ich mich nicht so richtig bei der Sache, und zwischen den Gefechten kam mir für kurze Momente immer wieder das Traumgesicht in den Sinn. So beschloss ich, mich in den Zuschauerraum zu setzen und trank Orangensaft. Bald setzte sich auch Peter dazu.

„Du kommst doch sicher auch mit zum Skiweekend des Clubs ins Toggenburg?“, fragte mich Peter.

„Geht leider nicht, ich habe dann Notfalldienst. Mich ärgert das natürlich ganz besonders. Du weißt ja, Ski fahren ist mein absoluter Lieblingssport und kommt sogar noch vor dem Fechten.“

„Das ist wirklich sehr schade. Kommst du vielleicht im April zum Turnier nach Genf?“

„Mal sehen, bis April habe ich noch nicht geplant.“

Die Vorstellung, ein ganzes Wochenende in einer Turnhalle in Genf zu verbringen, erfüllte mich nicht eben mit Begeisterung.

In jenem Moment merkte ich, dass ich mich im Fechtclub nicht mehr so ganz zu Hause fühlte. Es war nicht mehr so wie früher. Der Elan, die Begeisterung, das Feuer brannte nicht mehr wie einst. Noch vor kurzer Zeit hätte ich für das internationales Turnier in Genf blindlings zugesagt.

„Weißt du, ich bin schon den ganzen Tag über im Operationssaal, da würde ich am Wochenende gerne mal ein bisschen frische Luft schnuppern. Zum Skifahren, da wäre ich selbstverständlich mitgekommen, wenn ich freigehabt hätte. Ich glaube für den Sommer muss ich mir einen Outdoorsport suchen. Reiten vielleicht, das würde mir gefallen.“

Diese Idee kam mir mit einem Male in den Sinn, und da wurden alte Kinderträume in mir wach. Von klein auf wollte ich reiten. Den Wunsch konnte ich mir nie erfüllen, doch er schlummerte noch immer in mir. Früher meldete sich mein Kindheitstraum vom Reiten jeden Frühling und das so sicher, wie das Murmeltier aus dem Winterschlaf erwacht. Doch in den letzten Jahren war mein Traum offenbar etwas eingeschlafen.

„Reiten, das wäre toll!“, wiederholte ich begeistert. „Das wollte ich schon von klein auf. Doch immer ist etwas dazwischengekommen, und ich fand nie jemanden, der mit mir mitgekommen wäre. Was meinst du, würdest du da auch mitmachen?“

Peter überlegte kurz.

„Reiten, meinst du? Ich glaube, das ist nicht so ganz meine Sache. Ich denke, ich bleibe beim Fechten, zudem spiele ich auch ab und zu noch Fußball.“

„Sehr schade, aber überlege es dir nochmals. Ich hoffe doch noch jemanden für das Reiten begeistern zu können, damit es kein Traum bleibt.“

„Wenn es keine Albträume sind, haben Träume ja so viel Schönes und Unverbindliches und müssen gar nicht in Erfüllung gehen, sonst wären es ja keine Träume mehr“, antwortete Peter nüchtern sachlich.

Typische Antwort eines Germanistikstudenten, dachte ich.

„Nun, ich habe immer noch genug andere Träume. Reiten, das will ich in die Tat umsetzen, dann ist es eben kein Traum mehr, sondern eine Idee. Und Ideen sollten auch mal realisiert werden.“

Statt auf einem Schimmel reitend, fuhr ich wenig später träumend im Tram nach Hause und fragte mich, ob Reiten für mich Traum bliebe oder einst zur verwirklichten Idee würde.

Vor dem Einschlafen wirbelten mir all die Ereignisse dieses turbulenten Tages nochmals durch den Kopf: die Klinik, der Scheich und das Fechten. Dazwischen mischte sich immer wieder sie, die Schönheit mit dem Traumgesicht, mein Traumgesicht. Zuerst konzentrierte sich meine Erinnerung auf ihr Lachen und die dabei entstehenden Wangengrübchen, dann mehr auf die leuchtend blauen Augen. Ja, die Augen strahlten und lachten mit. Vielleicht war es das Zusammenspiel ihrer Mimik, das mich so faszinierte. Während sie lächelte, hatte ich den Eindruck, als öffnete sich die Türe zu ihrer Seele einen Spalt und ließ dabei einen kurzen Blick ins Innere zu. Gerne hätte ich mehr gesehen.

Die Rückseite der Wahrheit

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