Читать книгу Die Rückseite der Wahrheit - Riccardo del Piero - Страница 19

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Schwierige Zeiten

Es folgten schwere Wochen für Sarah. Sie hielt durch, vor allem auch weil sie wusste, dass ihr Chirurgie-Praktikum bald endete. Bis zu den Sommerferien Mitte Juli musste sie noch durchhalten.

Das Verhältnis zwischen Abteilungsschwester Regula und Sarah wurde zunehmend schwieriger. Sarah belastete das sehr, und sie litt darunter, dass Schwester Regula sie von oben herab behandelte. Verglichen mit früher schien Schwester Regula stark verändert. Sie war ungewohnt zerstreut, unkonzentriert und gähnte häufig.

‚Wahrscheinlich schläft sie schlecht‘, dachte Sarah. Zweimal beobachtete sie, wie die Abteilungsschwester mehrmals hintereinander kontrollierte, ob der Medikamentenschrank abgeschlossen war. Giftschrank, so nannten die Schwestern diesen Schrankteil mit starken Schmerzmitteln wie Dolofug.

Die verschwundene Selbstsicherheit und Zielstrebigkeit kompensierte Schwester Regula mit vermehrter Kritiklust, und darunter mussten vor allem Sarah und Fabienne leiden. Es brauchte nur eine Kleinigkeit, eine Frage zur unpassenden Zeit, und die Abteilungsschwester reagierte unwirsch mit spitzen Bemerkungen.

Sarah betrat das Krankenzimmer eines älteren Diabetikers mit fortgeschrittenen Durchblutungsstörungen an den Beinen. Noch am frühen Mittag meldete er, dass er sich nicht besonders wohlfühlte. Sarah kümmerte sich deswegen besonders sorgfältig um ihn und benachrichtigte auch den Abteilungsarzt. Als sie das Zimmer betrat, um das Abendessen abzuräumen, merkte sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Ihr Patient lag leblos im Bett.

Kurze Zeit später war Schwester Regula zur Stelle.

„Was haben Sie denn da wieder gemacht?“, tönte sie anklagend.

Sarah verschlug es die Stimme.

„Haben Sie denn nicht gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung ist?“, fragte die Vorgesetzte vorwurfsvoll.

„Unser Abteilungsarzt war im Laufe des Nachmittags da und hat den Patienten näher angeschaut“, Sarah war wieder Herr ihrer Stimme.

„Ach so, aber mir haben Sie nichts gemeldet“, hakte Regula nach.

Mittlerweile war das Stationszimmer gefüllt mit Schwestern, die sich auf den nahenden Feierabend vorbereiteten und alles mithörten, aber so taten, als wären sie mit anderen Dingen beschäftigt.

Noch immer schaute Regula mit durchdringendem Blick zu Sarah.

„Bemerkenswert, wie Ihre Patienten, von denen man es gar nicht erwarten würde, so urplötzlich sterben. Ich hoffe, diese Rolle als Todesengel wird nicht an Ihnen haften bleiben.“

Ein eiskalter Schauder lief Sarah über den Rücken. Doch sie hielt dem Blick der Abteilungsschwester stand.

„Wie soll ich das verstehen?“, sie reagierte wie ein verletztes Raubtier und hatte den forschen Ton ihrer Vorgesetzten angenommen.

Schwester Regula schien dadurch ihrerseits etwas in die Defensive getrieben und räusperte sich.

„In Zukunft melden Sie mir Ihre Beobachtungen, wenn sie wichtig sind. Und ein möglicher bevorstehender Tod ist ein wichtiges Ereignis.“

Sarah ließ nicht locker: „Wie hätte ich denn dieses Ereignis verhindern können?“

„Es trifft Sie keine direkte Schuld. Mit etwas mehr Routine werden Sie eben spüren, wenn das Ende kommt und dann beim Patienten sein, wenn es darauf ankommt. Aber gehen Sie jetzt nach Hause.“, damit wandte sich die Abteilungsschwester ab.

Fabienne begleitete Sarah auf dem Nachhauseweg und tröstete sie.

„Mir geht es doch auch nicht besser. Seit diesem Ereignis ist Schwester Regula auch mir gegenüber völlig verändert. Nichts kann ich ihr mehr recht machen, und sie schikaniert mich ständig. Ich kann so nicht mehr weiterarbeiten. Ich muss mich mal nach einer neuen Stelle umschauen. Wenn du deine Lehre beendet hast, kommst du eben auch dorthin.“

Sarah erschrak zunächst, verstand Fabienne aber durchaus.

„Ich bin doch auch froh, wenn das Chirurgie-Praktikum zu Ende ist. Ich habe einfach Angst, dass Schwester Regula eine schlechte Beurteilung über mich schreibt. Wegen dieser Todesengelbemerkung muss ich morgen nochmals mit ihr reden.“

Fabienne schüttelte entschieden den Kopf.

„Das würde ich eben nicht tun. Damit wird sie erst recht in die Enge getrieben und du weißt nicht, wie sie dann reagiert. Womöglich erreichst du das Gegenteil.“

„Du meinst, ich soll mir einfach alles gefallen lassen?“, fragte Sarah, leicht erstaunt über diese Aussage.

„Nein, ich werde mit Regula sprechen.“

Und es dauerte nur wenige Tage, da fand Fabienne einen günstigen Zeitpunkt für diese Unterredung. Sarah war gespannt, wie auf die letzte Seite in einem Kriminalroman. Was ihre Freundin danach wohl erzählen würde?

Um ungestört plaudern zu können, lud Fabienne ihre Kollegin zu sich nach Hause ein. Fabienne wohnte im Zentrum von Zürich, nahe dem Central an der Stampfenbachstraße in einem alten Haus im dritten Stock. Zu Fuß war das Universitätsstpital in nur zehn Minuten zu erreichen. Solche Wohnungen waren sehr begehrt. Ein Patient hatte Fabienne diese Wohnung vermittelt.

Als Sarah eintraf, war bereits ein einladendes Abendessen angerichtet. Da Fabienne über Mittag durchgearbeitet hatte – die Schwestern nannten es die ‚Patienten hüten‘ – konnte sie nachmittags früher nach Hause und alles vorbereiten.

Fabienne begrüßte ihren Gast in großen rosa Hausschuhen aus Plüsch.

„Setz dich doch gleich. Ich will dich nicht lange auf die Folter spannen“, sagte sie und servierte ohne zu fragen zwei Gläser Orangensaft. Sie wusste, Sarah liebte Fruchtsaft und zog dies alkoholischen Getränken bei weitem vor.

„Das alles hat überhaupt nichts gebracht“, begann die Gastgeberin kopfschüttelnd und trank ungewohnt hastig einen Schluck Orangensaft. „Regula hat einfach auf stur gestellt und wollte nichts von dem, was ich sagte, wahrhaben. Sie hat alles schöngeredet. Sie meinte, sie behandle alle Schwestern gleich. Das sei schon immer ihre Devise gewesen. Wir würden uns das alles nur einbilden, auch die Sache mit der Bemerkung über dich als Todesengel, das sei überhaupt nicht so gemeint gewesen, sondern eine gängige, zugegebenermaßen überflüssige, Redensart in solchen Fällen. Ich bin dann schon etwas in Fahrt gekommen und habe gesagt, ich könne es mir längerfristig nicht vorstellen, weiter auf dieser Station zu arbeiten.“

Sarah nickte. Sie hatte insgeheim damit gerechnet, dass dieses Gespräch mit Schwester Regula zu keinem Ergebnis führen würde.

„Und wie hat sie darauf reagiert?“

„Sie fiel aus allen Wolken und wollte mir das ausreden. Immer wieder hat sie erwähnt, wie zufrieden sie mit meiner Arbeit sei, dass sie nicht auf mich verzichten könne und so weiter. Schließlich habe ich mich überreden lassen noch bis Ende Jahr zu bleiben. Dann aber …“, Fabienne atmete tief ein und schaute Sarah eindringlich an, „… dann aber, habe ich sie gefragt, und zwar ganz spontan und sachlich: Können wir über diese Schmerzmittel-Verordnung sprechen, die zum Tode von Céline Jaquet geführt hat? Du hättest sehen sollen, wie unserer Abteilungsschwester alle Farbe aus dem Gesicht fiel, so habe ich sie noch nie gesehen. Und weißt du, was sie gesagt hat?“

Sarah schüttelte den Kopf und biss sich sanft auf die Unterlippe.

„Nun erzähl schon weiter“, forderte sie, denn sie hielt es vor Spannung nicht mehr aus.

Fabienne versuchte, Regulas manchmal kindlich unschuldig anmutende Stimme nachzuahmen: „Natürlich können wir über alles sprechen, meinte sie und tat so, als ginge es um die Organisation eines Grillabends. Das sei ein tragischer Fall gewesen, der alle auf der Station sehr mitgenommen hätte, erklärte sie wortreich. Sie sprach und sprach, ohne wirklich etwas zu sagen. Als ich sie dann konkret fragte, warum sie unbedingt eine ganze Ampulle spritzen wollte, meinte sie – und ich sage es dir wortwörtlich: Sie habe nicht darauf bestanden eine ganze Ampulle zu spritzen. Sie habe nur gesagt, man hätte eine halbe Ampulle dieses Schmerzmittel schon viel eher verabreichen sollen, dann wären die starken Schmerzen rascher gewichen und man hätte die Möglichkeit gehabt, vier Stunden später nochmals eine weitere halbe Ampulle zu spritzen. Weil nach solchen Operationen eben schon meistens eine ganze Ampulle Dolofug nötig sei, natürlich in diesem Fall auf zwei Einzeldosen verteilt, mit entsprechendem Abstand dazwischen, so hätte sie das gesagt und so hätte auch die ärztliche Verordnung gelautet. Aber es sei ihr natürlich völlig klar, dass wir Schwestern das vielleicht nicht mehr so genau in Erinnerung hätten.“

Sarah stockte fast der Atem.

„Das ist eine Lüge! Wie hast du darauf reagiert?“, stieß sie entrüstet hervor.

„Nun, was soll ich da noch sagen?“, Fabienne zuckte mit den Schultern. „Ich habe deutlich gemacht, dass ich es ganz anders in Erinnerung hätte. Gutmütig meinte Schwester Regula, es sei ja schon eine Weile her. Doch darüber zu reden hielte sie für wichtig, solche Ereignisse sollten nicht einfach verdrängt werden. Ausgerechnet die sagt das! Ein klassisches Eigentor!“

„Das ist einfach unglaublich“, sagte Sarah, „ich fass‘ es nicht. Früher habe ich mal so etwas wie Bewunderung für sie empfunden.“

„Na ja, entweder leidet sie an Gedächtnisschwund, oder sie hat sich ihre eigene Version zurechtgezimmert, eine, mit der sie am besten leben kann. Auch ich habe mich in ihr stark getäuscht.“

Sarah dachte eine Weile nach, während Fabienne den Tisch deckte.

„Ich habe mal gelesen“, nahm Sarah den Faden wieder auf, „dass unsere Erinnerungen wie Bleistiftnotizen auf einem Zettel sind und wir manchmal diese Aufzeichnungen teilweise wieder ausradieren und mit Einträgen ergänzen oder ersetzen, die uns besser ins Konzept passen. So ist die Wahrheit für uns eben subjektiv. Dieses Bild würde bei Schwester Regula wirklich passen.“

„Sie hat nicht nur radiert und ergänzt, sie hat den Zettel umgedreht und ganz neu beschrieben“, meinte Fabienne und drehte dabei den Teller um, den sie in der Hand hielt um

„Ja, sie sieht nur noch die Rückseite der Wahrheit! Doch ihr Unterbewusstsein kennt die Vorderseite. Dieser Widerspruch macht sie krank!“, erklärte Sarah.

Fabienne holte nach dieser verbalen, schwer verdaulichen Vorspeise Salat und Spaghetti aus der Küche.

„Für mich ist jetzt endgültig klar, dass ich in einer anderen Klinik arbeiten muss“, bemerkte sie entschlossen und platzierte die Schüsseln auf dem Tisch.

„Aber vielleicht werden wir zur Rechenschaft gezogen und haben dann keinen Rückhalt mehr von unserer Vorgesetzten“, gab Sarah zu bedenken, denn sie führte sich gerade die weiteren Konsequenzen vor Augen.

„Aber Sarah, zweifle doch nicht immer. Während dieser gerichtsmedizinischen Untersuchung wurde ich doch genau befragt, und die Leute haben mir immer wieder gesagt: Schwester Fabienne, Sie müssen sich wirklich nichts vorwerfen, Sie haben keinen Fehler begangen, eine ganze Ampulle zu spritzen.“

„Können die denn nicht lesen, dass nur die halbe Dosis verordnet wurde und im Kardex die volle Dosis eingetragen wurde?“, beharrte Sarah.

„Nein, sie haben mir gesagt, sowohl Zeitpunkt der Verabreichung als auch Gesamtdosis seien garantiert korrekt – und die müssen das schließlich wissen. Das habe ich dir aber auch schon hundert Mal erklärt.“

„Wollen wir es hoffen“, sagte Sarah leise.

„So, nun lass uns über Erfreulicheres reden“, meinte Fabienne beim Anstoßen. „Was hältst du davon, in den Ferien mit mir nach Schweden zu fahren?“

Der plötzliche Themenwechsel überraschte Sarah ebenso wie das unerwartete Angebot.

„Aber wolltest du nicht mit deinem Freund fahren?“, wandte sie ein.

„Ja, eigentlich. Aber unser Verhältnis hat sich stärker abgekühlt als der skandinavische Winter.“ Fabienne lachte.

„Ja dann …, warum eigentlich nicht? Ursprünglich wollte ich mit Barbara nach Griechenland, doch sie will nun nicht mehr, und ich muss diese Pläne begraben. Skandinavien ist zwar nicht ganz das Gleiche, aber ich komme sehr gerne mit dir mit, auch wenn es dort etwas kühler ist.“

„Super“, antwortete Fabienne erleichtert. „Das Dessert ist ein Vorgeschmack auf meinen geliebten Norden“, und sie holte ein Coup Danmark aus der Küche.

Sarahs Puls beruhigte sich wieder etwas, und sie lehnte sich nach dem letzten Löffel Eis zufrieden zurück.

Schwester Regulas unglaubliche Lüge beschäftigte sie jedoch noch lange, aber letztlich überwog die Freude auf die bald bevorstehenden Ferien. Dass sie eigentlich als Lückenbüßerin fungierte, verzieh sie Fabienne großzügig.

Leider sah Sarah ihren Anästhesiearzt nur noch selten. Sie erfuhr, dass er in der Augenklinik arbeitete. Falls es sich einrichten ließ, spazierte sie auf ihren Gängen durch das große Spital über diese Station oder auch am Büro der Anästhesisten vorbei. Leider ohne Erfolg. Die Kantine blieb der einzige Ort, wo auch er regelmäßig anzutreffen war, allerdings stets zu unterschiedlichen Zeiten. Falls sie ihn ab und zu in der Warteschlange erblickte, schien er sie kaum zu beachten, selbst wenn sie nahe hintereinander standen. Wenn sie grüßte, so grüßte er höflich zurück, doch viel mehr als ein „Wie geht’s“ folgte nicht mehr.

Die Rückseite der Wahrheit

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