Читать книгу Die Rückseite der Wahrheit - Riccardo del Piero - Страница 15
ОглавлениеDas Geständnis
Es war der Tag der Tränen. Sarah sah nach Célines unfassbarem Tod nur niedergeschlagene Gesichter. Nur eine weinte nicht und saß mit versteinertem Gesicht beim Morgenrapport: Regula.
Anfänglich fiel dies niemandem auf, doch aus ihren geröteten Augen bemerkte Sarah schon bald, dass die Stationsschwester keinerlei Gefühlsregungen zeigte. Merkwürdigerweise verhielt sich Schwester Regula ungewohnt passiv. Sarah erwartete von ihrer Vorgesetzten, dass sie auch in dieser schwierigen Situation die Abteilung, wie gewohnt, souverän führen würde. Immer wieder schaute sie zu Regula hin, doch von ihr ging keinerlei Initiative aus.
Fabienne und Sarah fühlten sich allein gelassen.
Schon bald machten diverse Gerüchte über die Todesursache die Runde. Die Verunsicherung wuchs in der ersten Stunde nach Arbeitsbeginn.
Plötzlich kam Heidi von der benachbarten Station auf Sarah zu. Heidis Haltung war ungewohnt: Der Kopf, den sie sonst immer stur gerade hielt, war für einmal leicht seitlich geneigt und ihr Blick voller Anteilnahme. Sie schloss Sarah einfach nur in die Arme. Worte fanden beide nicht, aber das war auch nicht nötig.
Dieser kurze Moment genügte Sarah, um zu spüren, wie Heidi mit ihr fühlte. Ausgerechnet Heidi! Von ihr hätte Sarah das am allerwenigsten erwartet. Wieder flossen die Tränen, Trauer mit Rührung vermischt. Die Schwestern sahen sich gegenseitig an und Sarah wusste, dass sie sich in Heidi getäuscht hatte.
Von diesem Moment an war Sarah noch verwirrter. Ihr logischer Gedankenfluss stockte. Mehr und mehr drang ein schmerzlich bohrendes Schuldgefühl langsam in ihr Bewusstsein vor. Ihr wurde klar, dass die Missachtung der Verordnung der Grund für Célines Tod gewesen sein musste. Zuerst war dieses Gefühl noch diffus, doch es verdichtete sich stetig und ließ sie nicht mehr los. Hätten die Krankenschwestern nach der Verordnung des Arztes gehandelt, würde Céline noch leben, davon war Sarah nun felsenfest überzeugt. Sie fand keine Ruhe mehr. Was für ein entsetzlicher Fehler! Ein Fehler, der sie ihr ganzes Leben lang verfolgen würde. Ausgerechnet sie, die immer alles richtig machen wollte und nie eigenmächtig handelte.
Todesfälle auf der Abteilung waren keine Seltenheit, daran hatten sich auch die jungen Schwestern schon nach kurzer Zeit gewöhnen müssen. Doch diesmal war alles anders. Der Tod traf keinen schwerkranken Greis, sondern eine junge, gesunde Frau. Das war für alle neu und unfassbar.
Selbst die Oberschwester der chirurgischen Abteilung, die sich sonst selten blicken ließ, war im Laufe des Morgens gekommen und versuchte vergeblich zu beruhigen.
Noch immer saßen alle Schwestern im Stationszimmer tatenlos um den Tisch. Sie warteten auf den Chirurgieoberarzt. Die Minuten vergingen ungewohnt ruhig. Endlich kam der Chirurg. Nach kurzer Begrüßung begann er ohne weitere Einleitung: „Wir gehen davon aus, dass der Tod bei Frau Céline Jaquet durch Atemstillstand eingetreten ist, bedingt durch eine Ampulle des Opiatanalgetikums Dolofug. Die Wirkung des Analgetikums wurde potenziert durch die Opioide, die bereits intraoperativ verabreicht wurden.“
Sarah fand es absolut herzlos, wie er die Sachlage formulierte. Eine Ampulle hat er gesagt, schoss es Sarah durch den Kopf. Dann wissen es jetzt alle, dass eine ganze Ampulle gespritzt wurde. Neben dem Schmerz über den Tod der jungen Patientin jetzt auch das noch. Sarah blickte zu Fabienne hinüber, die ebenfalls bei diesen Worten leicht zusammenzuckte.
Regula schaute indessen stur geradeaus und verzog kaum eine Miene, lediglich ihr Mundwinkel zuckte kurz leicht.
Würde der Chirurg als nächstes erwähnen, dass den ärztlichen Verordnungen nicht Folge geleistet worden sei? Sarah fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Doch die Information war rasch beendet. Der Arzt schloss damit, dass der normale Pflegealltag nun wieder seinen Gang nehmen könne, und die anderen Patienten sollten von diesem Vorfall, wie er es nannte, möglichst nichts bemerken.
Immer wieder schaute Sarah, beinahe hilfesuchend, zu Schwester Regula.
Endlich näherte sich die Abteilungsschwester und legte ihre Hand auf Sarahs Schulter.
„Solche Dinge gehören eben auch zu unserem Beruf. Der Tod ist immer mit dabei, und es trifft so manches Mal die Falschen. Diejenigen, von denen man es nicht erwarten würde. Es ist sehr schlimm, aber wir müssen lernen, das zu akzeptieren. Man wird sehen, was die Ursache für diesen schrecklichen Todesfall ist. Sie müssen sich keine Sorgen machen wegen dieser Dolofug-Injektion. Natürlich trage ich die Verantwortung und sicher nicht Sie als Schülerin.“
Sarah spürte, dass Regulas Hand leicht zitterte.
Anschließend sprach sie auch kurz mit Fabienne unter vier Augen.
Als sich Sarah und Fabienne wieder an die Arbeit machen wollten, entdeckten sie den Anästhesiearzt Kramer auf dem Gang. Er kam mit hängendem Kopf auf sie zu und hantierte umständlich an seiner Brille.
„Ich kann das Ganze auch nicht fassen und bin völlig sprachlos“, sagte er leise und versuchte die Schwestern zu trösten. Sarah fand es, trotz all ihrer seelischen Schmerzen, rührend. Insbesondere gefiel ihr die Selbstverständlichkeit, mit der er die Verantwortung trug – doch er wusste eben noch nicht alles.
Sarah und Fabienne schauten einander an.
„Nun, was ich noch sagen wollte“, begann Sarah umständlich, „Sie wissen es noch nicht. Nun, ich meine, da ist eben noch etwas, dass wir Ihnen sagen sollten …“, Sarah schluckte leer.
Der Anästhesiearzt sah sie erwartungsvoll an: „Na ja, dann sagen Sie es mir doch einfach.“ Und er schaute Fabienne und Sarah aufmunternd an.
„Sie hatten doch eine halbe Ampulle Dolofug verordnet.“
„Ja, natürlich. So viel weiß ich noch“, antwortete der Arzt.
Hier schaltete sich Fabienne ein.
„Wir haben eine ganze Ampulle gespritzt!“ Sie sprach leise, und erst nachdem sie sich versichert hatte, dass niemand aus der Umgebung mithören konnte.
Kramer erblasste.
„Was? Das gibt’s doch nicht! Ich habe doch ausdrücklich nur eine halbe Ampulle verschrieben“, versetzte er in ungewohnt lautem Ton.
Die Schwestern schwiegen und schauten zu Boden.
Der Anästhesiearzt war völlig aufgewühlt und bemühte sich um Fassung, schien aber innerlich zu hadern.
„Wozu machen wir diese peinlich genauen Verordnungen und füllen unzählige Blätter aus, wenn am Schluss alles anders gemacht wird?“
Schweigen.
Der Anästhesiearzt dachte angestrengt nach. Dabei blieb er regungslos stehen, nur seine Unterlippe bewegte sich andeutungsweise.
„Alles wird dadurch noch viel schlimmer. Wir fühlen uns so schlecht, so … schuldig. Ein solch schwerwiegender!“, brach Fabienne das unerträgliche Schweigen.
„Nachdem die erste Dosis Mezalgin nichts genützt hat, meinte Schwester Regula es sei eine ganze Ampulle Dolofug nötig.“
„Ich fasse es nicht“, entrüstete sich Kramer und wandte sich ab. Langsam, Schritt für Schritt, lief er den langen Spitalgang entlang, und die Schwestern schauten ihm nach.
Am liebsten wäre Sarah im Boden versunken.
„Wenigstens ist es jetzt raus. Wir haben die Wahrheit gesagt. Gehen wir nun an unsere Arbeit“, meinte Fabienne.
„Du willst der Wahrheit jetzt einfach den Rücken zukehren?“, fragte Sarah.
„Was willst du denn?“, entgegnete Fabienne eine Spur lauter als gewohnt. „Nur rumstehen und warten bis sie dich auffrisst?“
„Es geht mir alles ein bisschen zu schnell, aber ich bin es gewohnt, der Wahrheit in die Augen zu schauen“, meinte Sarah nun beinahe entschuldigend.
Da ertönte ein kurzer Piepston. Ein Patient hatte die Glocke betätigt. Fabienne und Sarah schauten beide auf den Gang und entdeckten, es war das Zweierzimmer neben Céline. Einer von Sarahs Patienten. Eine Spitalgehilfin war schon unterwegs.
„Ich übernehme das“, beeilte sich Sarah. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, da sie bisher noch kaum etwas getan hatte. Der bettlägerige Patient benötigte die Urinflasche. Welch eine einfache Aufgabe!