Читать книгу Die Rückseite der Wahrheit - Riccardo del Piero - Страница 7

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Begegnungen

Sarah und ihre Kolleginnen saßen zu einem Kreis formiert im Stationszimmer. Es sprach die Abteilungsschwester, und alle hörten andächtig zu. Offiziell hieß es Mittagsrapport, doch Fabienne nannte es Kaffeekränzchen mit unproduktivem Palaver. Die meisten Kolleginnen, liebten dieses Geplauder, vor allem natürlich Schwester Regula.

Die eher herbe Abteilungsschwester blühte beim Rapport richtiggehend auf und ließ viele persönliche Bemerkungen über die Patienten einfließen. Selbst die Kätzchen der Patientin mit dem Knochentumor kamen zur Sprache, da die Dame nun wegen einer allergischen Reaktion nach Bluttransfusion länger in der Klinik behandelt werden musste. Schwester Regula fand die Liebe zu den Tieren etwas übertrieben, dies hörte man an ihrem ironischen Unterton.

Zuweilen gingen aber Sarah diese Äußerungen zu sehr in den Privatbereich. Doch Schwester Regula, mit ihrer langjährigen Berufserfahrung, lag mit ihren Einschätzungen häufig richtig. Dies anerkannte auch Fabienne.

„Sensibel“, leitete Schwester Regula das Gespräch nun zur nächsten Patientin über „das zierliche Persönchen ist sehr sensibel. Sie kommt aus einem abgelegenen Dorf, aus Niederweningen und ist mit ihren knapp 21 Jahren bereits eine ausgezeichnete Balletttänzerin. Mehrere Preise und Auszeichnungen hat sie bereits gewonnen, das finde ich sehr bemerkenswert.“

Als über die Tänzerin gesprochen wurde, spitzte Sarah ihre Ohren ganz besonders. Die angesprochene zierliche Person war ihre neue Patientin, Céline Muriel Jaquet, Eintritt zur Kreuzbandplastik.

Sarah erinnerte sich an Regulas Worte, als sie ihrer neuen Patientin die eiskalte Hand schüttelte. Die Anspannung war Céline leicht anzumerken, und der ängstliche Blick sprach Bände. Sarah spürte sofort, dass sie die Patientin erst einmal beruhigen musste. Rasch kam sie mit Céline ins Gespräch und fand sie auf Anhieb sympathisch. Gerne wäre Sarah noch länger geblieben, doch draußen wartete noch viel Arbeit.

„Ich komme später wieder“, versprach Sarah mit aufmunterndem Lächeln.

„Ich auch“, antwortete die junge Dame im Spitalbett, „verschieben wir doch die Operation auf ein anders Mal.“

Zuerst dachte Sarah an einen Spaß.

„Unsinn“, ereiferte sie sich „schön hiergeblieben, morgen um diese Zeit haben wir doch alles schon überstanden.“

„Was heißt hier wir? Werden Sie auch operiert?“

Sarah verneinte verlegen. Noch vor kurzer Zeit hatte sie sich über die Formulierungen ihrer Kolleginnen in der Wir-Form gestört, und nun sprach sie selbst auch so.

„Seien Sie kein Nussknacker, Sie wollen doch bald wieder wie ein Schwan tanzen, nicht wahr, Giselle?“

„Ich heiße Céline, aber duzen wir uns doch.“

Da trat Abteilungsschwester Regula ins Zimmer.

„Sie sind noch immer hier, Schwester Sarah? Sie haben noch andere Patienten, die schon auf sie warten.“ Sarahs Vorgesetzte schaute streng. Die Stimme klang harsch. Regula drängte Sarah entschieden aus dem Krankenzimmer. Im Gang wollte Sarah den Grund für ihre Verspätung erklären, doch nach wenigen Worten wurde sie von Regula erneut unwirsch unterbrochen.

„Ach, Patienten, die am Tag vor der Operation kalte Füße bekommen, gibt es immer wieder. Da müssen Sie etwas bestimmter auftreten und ihnen das ein für alle Mal ausreden. Aber dazu haben Sie nicht eine Stunde Zeit. Die Abteilung ist schließlich voll, und die meisten Patienten sind ernsthafter krank als Frau Jaquet. Ich werde das jetzt erledigen. Holen Sie jetzt Herrn al-Haqqaui aus dem Operationssaal ab!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sich die Abteilungsschwester schwungvoll um.

„Wo kämen wir denn da hin, wenn jeder kommt und geht, grad wie es ihm so passt!“, murmelte sie noch kopfschüttelnd.

Sarah war den Tränen nahe, doch sie wagte nicht, zu widersprechen. Wieder fühlte sie sich ungerecht behandelt, da sie ihren Standpunkt nicht hatte darlegen dürfen. Sie wusste, dass ihre junge Patientin noch etwas Aufmunterung nötig gehabt hätte, ein paar Minuten wären ausreichend gewesen. Nun würde die forsche Abteilungsschwester die Sache knapp im Stile eines Generals erledigen, und danach wäre die Patientin unsicherer als zuvor.

Nach der verspäteten Narkose schlief der Scheich lange, und er ließ alles mit sich geschehen. Stündlich musste Sarah Atmung und Kreislauf kontrollieren. Das Einzige, was man vom Scheich hörte, war ein leises Brummen beim Aufpumpen der Blutdruckmanschette. Sarah war zunehmend beunruhigt, als ihr Patient beim dritten Kontrollgang noch immer nicht wach wurde. So blieb ihr nichts anderes übrig, als Schwester Regula zu rufen, was ihr an diesem Tag besonders schwerfiel.

„Alles in bester Ordnung“, meinte die Stationsschwester sachlich, doch von der vorherigen Verärgerung war ihr nicht die Spur anzumerken, „es gibt eben Langschläfer und unser Patient ist – wen wundert es – sogar ein Siebenschläfer. Nur Geduld, der kommt schon zu sich.“ Schwester Regula strahlte dabei eine solche Sicherheit aus, dass Sarah gar nicht auf die Idee gekommen wäre, an den Worten ihrer Vorgesetzten zu zweifeln. Sie war beruhigt, und eigentlich gefiel ihr der orientalische Patient schlafend am besten.

Eben trug sie ihre Beobachtungen im Krankenblatt ein, da fiel ihr auf dem Gang ein junger Arzt auf, den sie zuvor noch nie gesehen hatte. Er schaute nur kurz zu ihr hin, und Sarah war sofort beeindruckt von seinen großen, blauen Augen. Alles was ihr von diesem Gesicht in Erinnerung blieb, waren diese Augen, dieser Blick brannte sich ein.

Unauffällig versuchte sie, ihm nachzuschauen und bemerkte, dass er einen Moment stehen blieb. ‚Hat er mich bemerkt‘, dachte sie und strich sich verwirrt durchs Haar. Sie wusste nicht einmal mehr, ob sie gelächelt hatte. Alles ging so schnell und für weitere Gedanken blieb keine Zeit.

Diese kurze Begegnung hätte sie vielleicht bald vergessen, doch am späteren Nachmittag sah sie den Arzt erneut. Er kam sogar in ihr Stationszimmer und seine Augen richtete er direkt auf sie. Sofort spürte Sarah eine starke Ergriffenheit und konnte nicht anders, als zu ihm hinsehen. Sie konnte gar nicht woanders hinschauen, und dies erstaunte sie selbst sehr. Ganz unverhohlen blickte Sarah in die großen Augen, wie um darin zu lesen. Von Minute zu Minute faszinierte dieser Arzt sie mehr. Sie hatte ein Gefühl, als würde sie ihm auf der Stelle überall hin folgen, wenn er sie darum bitten würde. ‚Was ist nur los‘, fragte sie sich höchst erstaunt. Sie hatte Mühe, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ihr Puls raste.

Er stellte sich als Anästhesiearzt Martin Kramer vor. Natürlich bat er nicht darum, dass sie ihm folgen solle, sondern kam wegen des Ölscheichs zu ihr, um andere Schmerzmittel zu verordnen. Die Verordnung bekam Sarah nur am Rande mit. Von seinen Augen dermaßen fasziniert, suchte sie immer wieder Blickkontakt.

Der Arzt erzählte belustigt die Geschichte von den Eskapaden des Arabers im Operationssaal. Im Rausch der Narkose soll er sich wie James Bond gefühlt haben und später auch noch John Lennon imitiert haben. Innerhalb kürzester Zeit verbreitete sich diese Geschichte beim Pflegepersonal.

Alle wussten es, nur der Scheich nicht. Seine Erinnerungen an den Operationssaal waren völlig verblasst.

Kurz vor Arbeitsschluss ging Sarah nochmals ins Zimmer der eingeschüchterten Céline. Sie wollte sich vergewissern, wie sich ihre Patientin fühlte. Céline war sichtlich erleichtert, mit jemandem reden zu können. Nachdem Sarah den Ablauf des Operationstages sehr detailliert erklärte und danach alle Fragen beantwortete, spürte sie, wie Céline sich ein wenig beruhigte.

„Ach ja, wenn ich das schon hinter mir hätte; was würde ich nicht alles dafür geben! Ich habe solche Angst“, seufzte die junge Patientin.

„Die hat doch jeder vor einer Operation, ganz besonders natürlich vor dem ersten Mal. Das ist wirklich bei allen so. Nur gibt das eben niemand gerne zu. Was glaubst du, was ich da schon alles gesehen habe. Umso größer ist die Erleichterung, wenn alles gut überstanden ist. Morgen um diese Zeit hast du es geschafft.“

Sarah bemerkte den Teddybären, der leicht verdeckt im Bett lag. Céline hatte noch sehr kindliche Züge, wirkte aber dadurch erst recht sympathisch.

„Na ja, dann werde ich Morgen wohl in den sauren Apfel beißen müssen!“, meinte Céline schließlich.

„Nicht mal das ist erlaubt“, antwortete Sarah „denn für morgen musst du nüchtern bleiben, da wird in gar nichts mehr gebissen.“

Beide lachten.

„Dann mache ich eben gute Miene zum bösen Spiel.“

„Gute Miene ist immer gut, aber böses Spiel gibt es bei uns nicht“, erwiderte Sarah.

„Natürlich nicht, vielleicht mal abgesehen von diesem Abteilungsarzt. Der hat vielleicht einen Umgangston“, fügte Céline nach einer Pause an.

Sarah war erstaunt über diese Aussage. Sie kannte ihren Alptraumchirurgen und wusste, wie er mit dem Personal sprach, vor allem mit dem weiblichen Personal. Doch wäre sie nie auf die Idee gekommen, dass der Chirurg auch den Patienten gegenüber so auftreten könnte.

„Weißt du, wie er mich begrüßt hat?“, fragte Céline leise.

Sarah schüttelte den Kopf.

„Tag, meine kleine Ballerina aus der Provinz. Du bist wohl immer noch Jungfrau, was Schätzchen?“

Sarah schaute ungläubig und schluckte leer.

„Unglaublich“, mehr brachte Sarah nicht hervor. Ihre Loyalität dem Chirurgen gegenüber erlaubte es ihr nicht zu sagen, was sie dachte.

Sarah empfand echtes Mitleid mit ihrer Patientin, wohl auch, weil sie beide fast gleichalt waren und Sarah sich gut vorstellen konnte, welche Ängste sie selbst in solch einer Situation ausgestanden hätte. Gewisse Schicksale gingen ihr näher als andere.

Céline und Sarah sprachen noch ein Weilchen über private Dinge und merkten nicht, wie die Zeit verging. Als Sarah sich verabschiedete, spürte sie, dass es ihr nicht restlos geglückt war, Célines Ängste zu beseitigen. Deren Unsicherheit hing beinahe noch spürbar im Raum und übertrug sich auch ein wenig auf sie.

Als sie das Krankenzimmer verließ, stieß sie beinahe mit Schwester Regula zusammen. Sarah erschrak kurz, und sie wusste nicht, wie ihre Vorgesetzte reagieren würde.

„Sie sind nochmals zu Frau Jaquet gegangen, obwohl sie eigentlich schon Feierabend hätten. Das finde ich sehr bemerkenswert“, sprach die Abteilungsschwester und nickte sogar aufmunternd.

Sarah war erleichtert.

„Ich hoffe, Sie haben das vorhin nicht persönlich genommen, als ich Sie daran erinnern musste, sich etwas zu beeilen“, meinte Schwester Regula auf dem Weg ins Stationszimmer.

„Ach nein, das ist schon in Ordnung“, antwortete Sarah rasch. Im nächsten Moment jedoch stellte sie fest, dass sie eine ideale Gelegenheit verpasste hatte, ihre eigene Meinung einzubringen.

„Gut. Sie müssen eben noch lernen, mit der Zeit richtig umzugehen. Wenn ein Patient zusätzliche Betreuung braucht, dann gehen sie einfach später nochmals ins Zimmer, sobald die übrige Arbeit erledigt ist. So wie sie das jetzt gemacht haben.“

In Anbetracht des nahenden Feierabends hatte Schwester Regula erstmals an diesem Tag, einen versöhnlichen, beinahe mütterlichen Ton angenommen. Dies war für Sarah eine neue Erfahrung, denn ihre Vorgesetzte sprach sonst fast immer in betont sachlichem Ton.

„Bei Céline ist die Situation schon etwas speziell. Sie ist dermaßen ängstlich, dass ich etwas länger brauchte, um sie zu beruhigen“, wagte sich Sarah doch noch, ihren Standpunkt darzustellen.

„Wir duzen unsere Patienten nicht, das sollten Sie wissen. Es heißt immer noch Frau Jaquet, und außerdem ist jeder Patient speziell“, antwortete Schwester Regula wieder etwas weniger familiär.

Sarah nickte halbherzig.

„Sie haben schon recht, Schwester Sarah“, lenkte Regula nach kurzer Pause nachsichtig ein, „einige Patienten sind eben noch spezieller!“

Erstmals an diesem Tag bemerkte Sarah ein feines Lächeln auf Regulas Lippen.

Die Abteilungsschwester ging mit ihr in den hinteren Teil des Stationszimmers und dozierte unbeirrt weiter. Offenbar schien sie es auch gar nicht eilig zu haben, nach Hause zu kommen. Sie bestätigte, was die meisten von ihr dachten: Sie war mit ihrem Beruf verheiratet.

Im Hintergrund hörte Sarah jemanden eine Melodie von Elvis singen. Irgendwie hatte sie die Melodie anders in Erinnerung.

In der Nacht träumte Sarah von den großen Augen des Arztes. Mal schauten sie fragend, mal freudig. Doch plötzlich blickten diese Augen schreckerfüllt, als würden sie etwas ganz Abscheuliches sehen. Ein Gefühl von Grauen packte Sarah, und sie schreckte aus dem Schlaf auf. ‚Schon wieder ein unsinniger Traum‘, dachte sie. Anschließend gelang es ihr für lange Zeit nicht mehr einzuschlafen.

Die Rückseite der Wahrheit

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