Читать книгу Die Rückseite der Wahrheit - Riccardo del Piero - Страница 17

Оглавление

Das Schweigen der Abteilungsschwester

Sarah beobachtete ihre Abteilungsschwester weiterhin ganz genau. Schwester Regula beschränkte ihre Kommunikation auf ein Minimum. Sie wirkte sogar deprimiert. Ihre Mimik blieb rudimentär, und nicht das winzigste Lächeln huschte mehr über ihre Lippen. So erinnerte sie beinahe an eine Statue.

Regula verlor auch kein Wort mehr über die verhängnisvolle Spritze. Wurde sie von anderer Seite auf Célines Todesfall angesprochen, reagierte sie einsilbig und wechselte rasch das Thema.

Sarah und Fabienne fühlten sich zunehmend verunsichert und wollten das Thema wieder aufgreifen.

„Droht uns jetzt ein Prozess wegen fahrlässiger Tötung?“, fragte Fabienne Schwester Regula in ihrer direkten Art, als sich bei Arbeitsschluss eine günstige Gelegenheit bot.

„Ach, wo denken sie hin? Es gibt immer wieder Todesfälle. Ich habe noch nie einen Prozess erlebt. Die Suppe wird nicht so heiß gegessen.“

„Aber im Krankenblatt steht, es wurde eine Ampulle verabreicht und in der Verordnung ist eine halbe notiert. Sie verstehen, dass ich mir da Sorgen mache, wenn das rauskommt.“

„Aber natürlich verstehe ich Sie. Doch wenn Sie genau gelesen hätten, stand da eine halbe Ampulle alle vier bis sechs Stunden. Also hätte man innerhalb von 24 Stunden sechs Mal eine halbe Ampulle spritzen können, was insgesamt drei ganzen Ampullen entspricht, und wir haben nur eine einzige verabreicht. Die Gesamtdosis wurde bei weitem nicht erreicht, und wie mir der Oberarzt gesagt hat, kommt es darauf an. Er hat mir bestätigt, dass hier niemand einen Fehler gemacht hat und deshalb auch niemand schuldig gesprochen werden wird“, schloss Regula.

„Na ja, ich weiß noch nicht so recht“, meinte Sarah.

„Werden Sie denn aussagen, dass Sie uns aufgetragen haben, die doppelte Dolofugdosis zu spritzen?“, fragte Fabienne nun unmissverständlich.

Die Abteilungsschwester wurde noch blasser.

„Natürlich würde ich alles genau so erzählen, wie es gewesen war“, sagte sie hastig, und dabei zitterte ihr Kopf ein wenig.

Sarah und Fabienne nickten.

„Aber es wird nie zu einem Prozess kommen. Ihre Sorgen sind unbegründet“, fügte Schwester Regula rasch an und lief raschen Schrittes davon.

Nach Sarahs Maßstäben zerrann die Zeit an diesem Tag nach Célines Tod extrem langsam. Dabei ging die Abreise des Ölscheichs völlig unter. Als die unglückselige Woche schließlich zu Ende war und zwei freie Tage bevorstanden, atmete Sarah erleichtert auf.

Das Wochenende verbrachte sie bei ihren Eltern vorwiegend mit Schlafen und ausgedehnten Spaziergängen. Zwischendurch versuchte sie, sich mit ihrem Buch etwas abzulenken, doch sie musste rasch feststellen, dass sie bereits nach wenigen Seiten kaum mehr wusste, was sie gelesen hatte.

Dazwischen telefonierte Sarah mit Bekannten, da sie einfach mit jemandem reden musste. Auch mit ihrer Mutter sprach sie über den Todesfall, allerdings ohne die Missachtung der Verordnung zu erwähnen. Doch schon bald wurde wieder über die eigene Familie gesprochen. Bruder Andreas sei im Moment etwas weniger aggressiv und habe seine Lehre noch nicht abgebrochen.

Am Samstagnachmittag traf sich Sarah mit Fabienne im Kaffee Sprüngli beim Paradeplatz. Lange sprachen sie über alle möglichen Themen, ehe das unvermeidliche auftauchte.

„Es ist gar nicht gesichert, dass Céline wegen dieser Spritze gestorben ist. Es kommen verschiedene Ursachen infrage“, begann Fabienne.

„Ich habe Angst, dass wir zur Rechenschaft gezogen werden und ich glaube nicht, dass Schwester Regula, falls es zu einem Prozess kommen sollte, so aussagen wird, wie es wirklich gewesen ist. Dann werden wir schuldig gesprochen wegen Missachtung der Verordnung“, sorgte sich Sarah.

„Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie eine Falschaussage macht. Sie wird die Sache in ihrer Formulierung wohl etwas beschönigen, aber sicher nicht alles abstreiten“, meinte Fabienne entschieden.

„Ich habe kein gutes Gefühl, so wie sie sich verhält.“

„Ach Sarah, sei doch nicht immer so pessimistisch. Zudem haben wir nur ein einziges Mal das starke Schmerzmittel gespritzt und die Gesamtdosis bei weitem nicht erreicht. Das Ganze ist eine Verknüpfung von unglücklichen Ereignissen. Sehr, sehr tragisch, aber alle Ärzte haben uns gesagt, dass niemanden eine Schuld trifft. Jedenfalls von der rechtlichen Seite her gesehen. Wir beide wissen natürlich, wie es vom moralischen Standpunkt her aussieht. Ja, unsere Schwester Regula kann sich nicht aus der Verantwortung stehlen, obwohl sie genau das versucht. Sie, die uns gezwungen hat das doppelte Dolofugquantum zu spritzen. Wir hingegen, haben nur den Auftrag unserer Chefin ausgeführt“, meinte Fabienne entschlossen. Sie steigerte sich geradezu in einen Wortfluss hinein, der sehr überzeugend wirkte. Ihre lebhafte Mimik und vor allem das Spiel der Augen, hatten Sarah schon so oft beeinflusst.

„Ja, das stimmt schon. Aber wenn wir wissen, dass etwas falsch ist, haben wir doch die Pflicht, dies zu melden. Man kann doch nachher nicht immer alles auf andere abschieben“, widersprach Sarah.

„Da hast du schon recht, nachher ist man immer schlauer. Aber wir können doch nicht jede Anordnung unserer Vorgesetzten hinterfragen. Das Spital ist hierarchisch aufgebaut, und die erfahrenen Fachkräfte leiten die jüngeren mit weniger Erfahrung. Auch Schwester Regula wollte nur das Beste für unsere Patientin. In tausend Fällen hat sie schon recht behalten. Einmal hat sie sich nun geirrt. Das kann passieren. Das kann jedem, wirklich jedem passieren. Stell dir doch mal vor, würden wir über diesen Vorfall sprechen, wenn alles gutgegangen wäre?“ Fabienne fixierte Sarah mit großen Augen eindringlich und stützte ihr Kinn auf dem Handrücken ab, wie sie das häufig tat.

„Wohl kaum“, gab Sarah zu.

„Siehst du. Aber nun ist es eben einmal so, obwohl ich es einfach immer noch nicht fassen kann. Ich fühle mich noch genauso schlecht. Der Fehler kann nicht ausgebügelt werden. Damit müssen wir leben. Aber wir sind auch nur Menschen, und alle Menschen machen Fehler. Bei uns hat das eben einfach ganz andere Folgen, als wenn du im Büro arbeitest.

In der Medizin wird es immer mal Komplikationen geben. Auch bei allem Fortschritt, sogar noch in hundert Jahren, wenn Roboter einen Teil unserer Arbeit übernommen haben, auch dann werden Fehler gemacht, auch dann werden Menschen sterben. Das wird sich nie ändern. Wir müssen das einfach akzeptieren. Es wird noch eine Weile gehen, bis wir das alles verarbeitet haben werden, aber es bleibt uns keine andere Wahl.

Täglich sterben Menschen auf eine Weise, wie es nicht nötig wäre, zum Beispiel im Straßenverkehr, nur weil sie unsinnig schnell gefahren sind. Das wäre einfacher zu verhindern. Bei uns sieht das ganz anders aus. Wir arbeiten mit kranken Menschen, die starke Medikamente benötigen und diese Medikamente haben nun mal Wirkungen und Nebenwirkungen, die nicht immer vorhersehbar sind. Im schlimmsten Fall führt das zum Tod.

In unserem Fall haben alle nur das Beste für die Patientin gewollt, selbst Regula, also kann man nicht von Schuld sprechen, es ist einfach nur tragisch“, erklärte Fabienne, die immer leiser, fast flüsternd sprach, da sich das Lokal mehr und mehr füllte.

„Und vor allem unabänderlich“, stellte Sarah bitter fest, „die Bedeutung dieses Wortes ist mir erst jetzt richtig bewusst geworden.“

Für einen Moment blieb es ruhig.

„Trotzdem, ich mache mir auch Sorgen wegen Martin Kramer. Er hält uns jetzt sicher für schlechte Schwestern, da wir seine Verordnung nicht eingehalten haben.“

„Das glaube ich nicht, du bist noch Schülerin, die Verantwortung lastet nicht auf dir. Eher wird er seine Meinung über mich oder vor allem über unsere Abteilungsschwester ändern“, entgegnete Fabienne.

Sarah zuckte die Schultern.

„Du empfindest etwas für ihn, nicht wahr? Mir kannst du es ja sagen“, fragte Fabienne nach einer weiteren Pause und einem Schluck Kaffee.

Nun musste Sarah Farbe bekennen.

„Ich bin mir noch nicht so ganz im Klaren“, stockte Sarah erstmals und errötete leicht, da es ihr doch nicht so leichtfiel, über dieses Thema zu sprechen.

„Das heißt bei dir so viel wie ja. Ich kenne dich schließlich und habe das auch sofort gespürt.“

„Na, vielleicht ein bisschen.“

„Oh, ihr würdet ausgezeichnet zusammen passen. Auch das habe ich im Blut.“ Fabiennes Augen leuchteten dabei, und Sarah lächelte erleichtert.

Es kam der Montagmorgen, und für Sarah war es ein ungewöhnlich schwieriger Weg zur Klinik. An diesem Tag war alles anders. Sarah wusste nicht, was sie erwartete und wie es mit ihr weitergehen würde. Die Selbstsicherheit, die sie sich während ihrer Ausbildung nur sehr mühevoll aufgebaut hatte, schien sich mit einem Schlage verflüchtigt zu haben. Das unheimliche Gefühl, es könnte wieder so etwas passieren, war stets präsent. Immer mehr wurde ihr bewusst, welch weitreichende Folgen ein einziger, kleiner Fehler in ihrer Arbeit haben könnte.

Es kostete Sarah große Überwindung ins ehemalige Zimmer von Céline zu treten. Im Raum erinnerte überhaupt nichts mehr an die verstorbene Balletteuse. Es roch nach medizinischem Alkohol und alles war fein säuberlich weggeräumt. Nur die Erinnerung an die letzte Patientin, die konnte niemand beiseiteschieben.

Kaum hatte Sarah das Krankenzimmer betreten, waren sie wieder da, die nagenden Selbstvorwürfe, die bohrenden Gedanken. Sie ließen sich nicht mit Desinfektionsmittel abtöten.

Es lag nun eine andere Patientin in jenem Bett, die von all dem nichts wusste. Die Dame war bedeutend älter, sodass es wenigstens vom Äußerlichen her keine Gemeinsamkeiten gab.

Manchmal war Sarah den Tränen nahe, doch sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und war beinahe überzeugt, ihre Patienten würden nichts davon bemerken. Im Laufe des Vormittages kam Sarah etwas besser in den Trott. Wegen dem ausgedehnten Arbeitspensum blieb ihr kaum Zeit für weiteres Nachdenken.

Erst in der Kaffeepause wagte es Sarah, das im Raum schwebende Thema wieder anzusprechen.

„Ich kann einfach nicht so tun, als wäre nichts geschehen. Alles erinnert mich sofort wieder an Céline Jaquet, und die ganze Trauer ist wieder da.“

„Das ist ganz natürlich, aber wir können nichts mehr daran ändern. Wir müssen unser Leben weiterleben. Die Verarbeitung ist schwierig. Ich war dieses Wochenende viel in der Natur, das hat mir sehr geholfen“, meinte eine etwas ältere Kollegin.

Sie war etwa zehn Jahre älter als Sarah. Zudem war sie verheiratet und auch bereits Mutter. Für sie schien das weniger belastend zu sein.

„Ich kann meine Gefühle beim besten Willen nicht einfach ausschalten. Nur wenn ich an dieser Türe vorbei gehe, kommt wieder alles in mir hoch“, widersprach Sarah.

„Das ging mir als Schülerin anfangs genauso“, erwiderte die verheiratete Kollegin, „du darfst die Gefühle auch nicht ausschalten, du musst sie zulassen. Aber du wirst noch lernen, damit besser umzugehen. Mit der Zeit berühren dich die Todesfälle nicht mehr so stark.“

Sarah schwieg, sie mochte die Kollegin sehr gut, doch von dieser Aussage war sie alles andere als überzeugt. Für eine kurze Zeit herrschte eher peinliche Ruhe, bevor noch ein gut gemeinter psychologisierender Ratschlag einer anderen Kollegin folgte.

„Wir müssen jetzt vorwärts schauen!“, beendete Regula schließlich die Diskussion gefühllos, und Sarah gewann den Eindruck, als sei das Thema Céline für die Abteilungsschwester zum Tabu geworden.

Langsam begann der Geräuschpegel wieder etwas anzusteigen, und so kehrte der Alltag wieder auf die Station zurück.

Zum Kaffee wurde wie üblich Schokolade gegessen und auch schon bald wieder gelacht. Nur Regula blieb weiterhin humorlos und ungewohnt wortkarg.

So ging es die Woche weiter, über Céline fiel kaum mehr ein Wort. Erst als Ärzte und die Abteilungsschwester für die gerichtsmedizinische Untersuchung befragt wurden, kam das Thema wieder ins Gespräch. Später musste auch Fabienne Auskunft geben, während Sarah als Schülerin vorerst nicht befragt wurde. Aber sie wollte alles im Detail wissen.

„Nie hätte ich das gedacht, ich kann es nicht fassen, da stirbt ein junger Mensch auf unserer Station auf tragische Weise, noch keine Woche ist vergangen, und schon spricht niemand mehr davon. Kaum sind die Tränen getrocknet, geht es mit der Alltagsarbeit weiter, und die Toten sind anscheinend vergessen.“ Sarahs Stimme klang ungewohnt laut und anklagend.

„Das erstaunt mich schon auch“, antwortete Fabienne ruhig und kühl, „andererseits ist das eben auch ein Selbstschutz, den du in unserem Beruf brauchst. Wenn du dir jeden Fall so zu Herzen nimmst, dann kommst du aus dem Trauern gar nicht mehr heraus. Schließlich kommen immer wieder neue Patienten und die wollen auch gut behandelt werden. Wenn du gedanklich noch immer am Todesfall von vorher nagst, geht das eben nicht“, führte Fabienne weiter aus.

„Ich glaube schon, dass das geht“, widersprach Sarah, „wir sind schließlich keine Roboter und dürfen auch Gefühle zeigen. Wenn du einen solchen Todesfall nicht richtig verarbeitest, bleibt das als ungelöstes Problem in dir drin und kommt irgendwann wieder an die Oberfläche. Der Selbstschutz, den du meinst, funktioniert nur, wenn wir unsere Probleme beim Namen nennen und uns damit auseinandersetzen. Wir müssen darüber sprechen, sonst belastet es uns mit der Zeit noch mehr.“

„Ja, das Unterbewusstsein. Du hast im Prinzip schon recht, Fräulein Freud“, nickte Fabienne anerkennend, „aber trotzdem, die zu nahe Beziehung zum Patienten erschwert die Sache. Eine gewisse Distanz muss sein. Wir müssen mitfühlen, aber deswegen nicht auch jedes Problem des Patienten zu unserem eigenen machen.“

„Was deine Anspielung an Sigmund Freud betrifft, ich bin keine Psychologin, aber ich habe da mal ein Buch über Menschenkenntnis gelesen, und ich muss sagen, vieles was da drin steht, trifft hier bei uns in der realen Welt voll zu. Schau dir doch nur Schwester Regula an, sie ist das klassische Beispiel für Verdrängung.“

„Bemerkenswert, ich glaube, sie verdrängt noch so manch anderes“, witzelte Fabienne.

„Sie ist eine alleinstehende, nicht mehr junge Frau. Sie hat wohl einiges in ihrem Leben verpasst“, antwortete Sarah ernst und mitfühlend.

„Ob die überhaupt jemals einen Freund gehabt hat?“, fragte Fabienne.

„Das ist doch allein ihre Sache.“

„Man sagt, sie habe andere Laster“, fügte Fabienne vielsagend hinzu.

„Ach, die Leute sagen so manches.“

„Natürlich, aber bei Regula könnte ich mir das schon vorstellen. Beim letzten Personalfest hat sie ganz schön gebechert, so ausgelassen wie damals habe ich sie noch nie gesehen“, beharrte Fabienne.

„Im Moment ist sie alles andere als ausgelassen“, meinte Sarah.

„Allerdings. Ich habe sogar den Eindruck, dass sie mir aus dem Weg geht“, meinte Fabienne.

Sarah fühlte sich nach diesem Gespräch besser und erstmals seit Tagen verstanden. Sie fanden zwar keine Lösung, doch die Aussprache tat gut.

Noch vor kurzem hielt Sarah es kaum für möglich, dass Fabienne zur besten Freundin und einzigen Ansprechperson würde.

Die Rückseite der Wahrheit

Подняться наверх