Читать книгу Die Rückseite der Wahrheit - Riccardo del Piero - Страница 8

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Liebe auf den ersten Schnitt

Nach einer traumlosen Nacht trotz Traumgesicht, erlebte ich am Morgen beim Aufwachen eine wahrhaftige Schrecksekunde. Ein Blick auf die Uhr und ich war schlagartig hellwach. Zehn Minuten vor Sieben. Wahrscheinlich hatte ich nicht richtig hingesehen. Nein, es stimmte auch beim zweiten Blick und es war klar: Ich hatte verschlafen. Wahrscheinlich hatte ich versäumt, meinen Radiowecker zu stellen, oder vielleicht müsste ich doch die Bedienungsanleitung nochmals genauer durchlesen.

Ich stürzte aus dem Bett und bemerkte auf dem Weg ins Bad einen heftigen Muskelkater. Ich ärgerte mich, dass die Zeit nicht mehr für einen Kaffee reichte, und rannte zur Straßenbahn. Eine starke Brise umwehte mich eisig.

Atemlos an der Haltestelle Zoo angekommen, wartete und fror ich geschlagene fünf Minuten bis Tram Nummer 6 endlich vorfuhr. Ausgerechnet an diesem Tag würde ich zu spät kommen. An jedem anderen hätte eine kurze Verspätung keine Folgen gehabt, da meine Patienten ohnehin zu spät eintrafen. Doch heute stand eine Gallenblasenoperation beim Chefarzt der Chirurgie, Professor Dr. Caspar Caminada, auf dem Programm. Privatpatientin, versteht sich, und ich war sicher, sie würde pünktlich eintreffen. Die Fahrt mit der Straßenbahn kam mir länger als sonst vor, und ich trommelte mit den Fingern gegen die Sitzfläche meines Stuhles. Was blieb mir anderes übrig?

Endlich in der Klinik angekommen, stand mir der allmorgendliche Umkleidemarathon bevor. Zuerst musste ich die Straßenkleider in mein persönliches Garderobekästchen hängen und weiße Berufskleidung anziehen, danach zur Operations-Garderobe um mich für die grüne Welt passend anzuziehen, dabei blieben die weißen Kleider im Schrank. Je nachdem, in welcher Operationsabteilung man gerade arbeitete, konnten diese beiden Garderoben weit auseinander liegen und ich brauchte manchmal gut und gerne 15 Minuten für diese Prozedur. Doch an diesem Tage stellte ich einen neuen, inoffiziellen Rekord auf. Um 7 Uhr 16, eine Minute zu spät, traf ich im Operationssaal ein. Ausnahmsweise war ich in Saal eins eingeteilt. Alle warteten schon auf mich.

„Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige“, begrüßte mich Huber höhnisch.

„Guten Morgen, Majestät. Ich werde diese Weisheit an die Verkehrsbetriebe der Stadt Zürich weiterleiten“, antwortete ich und zwang mich zu einem Lächeln.

„Beginn jetzt lieber mit der Narkose, statt andere für dein Zuspätkommen verantwortlich zu machen“, versetzte Huber und ließ mich nicht aus den Augen.

Trotzdem liefen die folgenden Narkosevorbereitungen wie am Schnürchen. Diesmal war mir der einzige Pfleger unter lauter Anästhesieschwestern zugeteilt. Er assistierte servil wie ein Oberkellner und kommentierte dabei alles mit seiner hohen, leicht affektierten Sopranstimme. Auch seine übrige Erscheinung wirkte feminin. Alle wussten es: Er hatte einige Gemeinsamkeiten mit Huber, dem zuckersüßen Huber, versteht sich.

Während ich eine heikle Venenpunktion unterhalb des Schlüsselbeins durchführte, um einen Katheter in die obere Hohlvene, nahe zum Herzen vorzuschieben, hörte ich im Gang draußen die Bassstimme von Professor Caminada. Durch die kleinen Fenster in den Türen konnte ich sehen, wie er sich mit Huber unterhielt.

„Jawohl, Herr Professor. Wir werden ohne Verspätung beginnen können“, hörte ich ihn antworten, diesmal natürlich zuckersüß. „Gewiss, Herr Professor, ich werde mich nötigenfalls selbst um die Patientin kümmern“, steigerte er sich beinahe singend in Unterwürfigkeit, obwohl er Bratsche spielte.

Ich schmunzelte. Das war also die zweite Seite unseres Oberarztes. Jetzt wusste ich, warum er auch „Häuptling braune Zunge“ genannt wurde, und dies hatte nun nichts mit seiner Vorliebe für Kaffee zu tun.

Die Venenpunktion war nicht ungefährlich, denn es bestand stets die Gefahr, die Lungenspitze zu treffen. Doch es gelang mir ohne Komplikationen auf Anhieb, und ich atmete erleichtert auf. Auch die Narkoseeinleitung verlief ohne Probleme, und wir konnten die Patientin auf die Minute pünktlich vom Vorbereitungsraum in den OPS fahren.

Ausnahmsweise war selbst Huber zufrieden. „Du bist ja pünktlich!“, stellte er erstaunt fest.

„Ich arbeite wie immer. Wenn die Patienten rechtzeitig eintreffen, ist es auch kein Problem den Zeitplan einzuhalten“, erwiderte ich sachlich.

„Pass auf, die Patientin hat eine Koronare Herzkrankheit“, unterbrach er mich.

Ich nickte, denn natürlich wusste ich das bereits, und aufgepasst hätte ich ohnehin. Schließlich verschwand Huber Richtung Kaffeeraum, mit der Androhung, bald wieder vorbeizukommen.

Die Narkose verlief problemlos, und der Herzrhythmus der Patientin war anfangs regelmäßig. Doch etwa 40 Minuten nach Beginn des Eingriffes verlangsamte sich der kurze hohe Piepston des EKG-Monitors drastisch. Ich war sehr überrascht. An und für sich war das kein seltenes Ereignis. Solche Reflexe des vegetativen Nervensystems hatte ich auch schon erlebt. Ich blieb innerlich noch ruhig und zog sofort eine Ampulle des Gegenmittels Atropin auf, während meine Augen immer wieder hilfesuchend auf den EKG-Monitor blickten. Der Herzrhythmus blieb weiterhin sehr langsam, aber noch einigermaßen regelmäßig. Nun spritzte ich die Ampulle Atropin via Venenkatheter.

Auch den Chirurgen musste die langsame Pulsreaktion aufgefallen sein. Caminada erkundigte sich nach dem Befinden der Patientin.

„Sollte gleich behoben sein“, antwortete ich optimistisch.

Typisch Anästhesie, schoss es mir durch den Kopf; zuerst 40 Minuten Arbeit ohne besondere Vorkommnisse, und urplötzlich mündete das Ganze aus dem Nichts in eine hochgefährliche Situation. Noch immer hatte ich das Gefühl, die Situation alleine in den Griff zu bekommen, obwohl sich der Puls inzwischen auf die beängstigende Frequenz von 38 Schlägen pro Minute verlangsamte, während sich mein eigener Herzschlag enorm beschleunigte.

Ich war alleine, von den Anästhesieschwestern oder -pflegern war, wie üblich, während einer komplikationsfreien Narkose, niemand mehr im Saal. Ich rief nach Hilfe, indem ich eine Spitalgehilfin beauftragte, nach Huber oder einem anderen Oberarzt in ihrem Lieblingsraum zu suchen.

Längst hatten die Chirurgen einen Schritt zurück getan, ihre Arbeit unterbrochen und blickten gebannt auf den EKG-Schirm, der schon beinahe eine Nulllinie anzeigte. Nur ganz selten noch war der Piepston des Herzschlages zu hören. Dazwischen lagen nicht enden wollende Pausen von unheimlicher Stille.

Aller Augen waren auf mich gerichtet, Caminada schaute noch grimmiger und skeptischer, als er es ohnehin schon tat. Dies fiel mir auf, obwohl ich den Blick nicht vom Monitor abwendete.

Inzwischen musste ich mir, stark verunsichert, das weitere Notfallszenario überlegen, denn mein Medikament Atropin schien nicht zu wirken. In ähnlichen Fällen, hatte der Effekt bisher jeweils unverzüglich eingesetzt, aber hier passierte einfach nichts, und jede Sekunde kam mir wie eine kleine Ewigkeit vor. In diesem Moment trat mein Anästhesiepfleger wieder in den Saal.

„Aber Herr Doktor, was ist denn bei Ihnen hier los?“, fragte er gekünstelt.

„Mit der Herzaktion unserer Patientin ist eben im Moment nicht so viel los.“

„Aber warum rufen sie denn um Gottes Willen nicht um Hilfe“, meinte der Oberpfleger, „ich hole den Oberarzt.“

Für eine Antwort hatte ich nun definitiv keine Zeit, ich konnte nichts anderes tun, als gebannt zwischen meiner Patientin und dem EKG-Monitor hin und her schauen.

Dann, zunächst nur sehr zögerlich, aber doch kontinuierlich, beschleunigte sich der Herzschlag der Narkotisierten. Nach einer unheimlich langen Minute, einer gefühlten Ewigkeit, war die Herzaktion wieder wie zuvor, als wäre nichts geschehen. Endlich konnte ich aufatmen.

Natürlich blieb ich angespannt und aufgeregt, doch die Gewissheit, eine Notfallsituation selbständig gemeistert zu haben, erfüllte mich mit Erleichterung und Genugtuung. Viele meiner Kollegen brauchten solche Ereignisse, waren geradezu süchtig danach. Ich selbst konnte allerdings auch ganz gut ohne Komplikationen leben.

Inzwischen hatte Professor Caminada seine Arbeit wortlos wieder aufgenommen.

Da betrat Huber den Saal.

„Läuft ja alles tip-top! Wieso rufst du mich?“, konstatierte er und verschwand auch gleich wieder.

‚Hast du eine Ahnung‘, dachte ich, war aber in erster Linie froh, an diesem Tag erst ein kritisches Wort von Huber gehört zu haben. War heute wirklich mein Glückstag?

Meine Überlegungen wurden jäh unterbrochen, denn urplötzlich donnerte Caminada los. Sein Zorn entlud sich an der neuen Operationsschwester. Vorhin, als eine kleine nicht bedrohliche Blutung im Bauchraum auftrat, hatte sie zum zweiten Male ein falsches Instrument gereicht. Es dauerte dadurch unwesentlich länger, bis die Blutung zum Stillstand gebracht werden konnte. Eine Nichtigkeit eigentlich, und weit davon entfernt, als Komplikation bezeichnet werden zu können.

Die noch unerfahrene Schwester kannte wohl die Vorlieben des Chefarztes noch nicht im Detail und wusste nicht, welches Instrument er jeweils wünschte. Beim ersten Fehler ließ Caminada ein kurzes Knurren vernehmen, doch beim zweiten Mal vergaß er sich völlig.

„Was soll denn das? Eine Schwester wie Sie kann ich hier ja zu überhaupt nichts gebrauchen. Wo haben Sie Ihre Ausbildung gemacht? In einer Bananenrepublik? Das ist doch einfach nicht zu glauben, sowas! Wenn es blutet, brauche ich die Klemme, und zwar subito, das wird sonst sehr gefährlich. Sie sind sich wohl nicht bewusst, welch fatale Auswirkungen Ihre Fehler haben. Zum Donnerwetter noch mal! Falls Sie kein Blut sehen können, sollten Sie eben den Beruf wechseln!“

Die Schwester tat mir leid. Sie schaute nur noch schweigend auf ihre Skalpelle, Scheren und Tupfer. Leider waren Vorfälle solcher Art im Operationssaal keine Seltenheit.

Die Operationsschwester war ein dankbarer Sündenbock, oder vielleicht korrekter: eine dankbare Sündenzicke, die man oft mit hochdosierten verbalen Schlägen eindecken konnte. Sie diente dem Machochirurgen als Puffer, wenn es nicht nach seinen Wünschen lief.

Nach seiner Schimpftirade stand Professor Caminada eine Weile mit erhitztem rotem Kopf untätig da und atmete schnaubend wie ein Hengst, ansonsten hörte man außer den monitorisierten, nun regelmäßigen, Herztönen aus dem EKG-Gerät kaum etwas im Saal.

Schließlich ging Caminada zur Tagesordnung über und operierte weiter, als wäre nichts geschehen. Nach diesem verbalem Schlag wurde noch weniger als vorher gesprochen.

Die Operationsschwester assistierte tapfer weiter. Es musste sie wohl große Anstrengungen gekostet haben, dies zu tun, ohne weinen zu müssen.

Erst als Professor Caminada den Operationstisch wie üblich vorzeitig verließ und dem Alptraumchirurgen den Wundverschluss überließ, entspannte sich die Situation etwas.

„Tja, so ist er halt“, meinten die Assistenzärzte zur verunsicherten Operationsschwester, „wir kennen das nur zu gut.“

‚Das soll sie wohl unheimlich trösten‘, dachte ich. Sie selbst seufzte nur leise, und kaum war der die letzte Naht gesetzt und die Instrumente weggeräumt, verschwand sie wortlos.

Da ich bis zur nächsten Narkose noch etwas Zeit hatte, betrat ich den Pausenraum. Ausgezeichnet, dachte ich, weder Huber noch sein blasser Kollege waren anwesend, obwohl die Oberärzte in diesem Raum noch am ehesten auszuhalten waren. Stattdessen erblickte ich die lächelnde Schwester Anita und auch die Chirurgen von eben waren da. Natürlich fehlte ihr Chefarzt, der schon wieder in seinem Büro saß.

„Euren Chef habe ich noch nie so ausfallend erlebt wie eben. Kommt das öfters vor?“, fragte ich.

„Da bist du wohl noch nicht lange hier!“, witzelte der Alptraumchirurg und provozierte eine erneute Lachrunde.

„Das ist bei ihm absolut an der Tagesordnung. Auch uns Ärzten gegenüber kann er sich so gehenlassen. Man muss echt ein dickes Fell haben. Er bestimmt einfach alles alleine, er ist der reinste Diktator. Demokratie, Mitsprache? Fremdwörter bei uns auf der Chirurgie. Wir nennen ihn auch den Vulkan, man weiß nie, wann er ausbricht. Operieren lässt er dich auch kaum. Du bist hier ein reines Arbeitstier, das andauernd zurechtgewiesen wird“, seufzte der zweite.

So schlimm hätte ich mir das alles gar nicht vorgestellt. Selbst wenn vielleicht etwas Übertreibung im Spiel war, aber was ich vorhin gesehen und gehört hatte, war Beweis genug und bekräftigte mich in meinem Entschluss, niemals in die Chirurgie einzusteigen. Obwohl natürlich auch nicht alle Chefärzte patriarchalische Vulkane waren.

„Ich wundere mich, dass ihr immer wieder Operationsschwestern findet. Ich würde mir das nicht gefallen lassen.“

„Viele bleiben deshalb auch nicht lange im Geschäft“, antwortete der neue chirurgische Assistenzarzt.

„Aber in vielen Kliniken ist es doch ähnlich. Mir ist es schlicht unbegreiflich, wie man diesen Beruf überhaupt ergreifen kann, der vorwiegend aus Zudienen besteht und bei dem Beschimpfungen und Erniedrigungen an der Tagesordnung sind. Vielleicht muss man da masochistisch veranlagt sein?“, fragte ich.

„Auf diese Idee bin ich noch nie gekommen. Was gibt es denn Besseres als im OPS zu arbeiten. Was willst du mehr?“, meinte der Alptraumchirurg amüsiert.

„Das kann auch nur ein Chirurg sagen. Sie hat etwas Faszinierendes, eure chirurgische Welt. Die einen zieht es an, und die anderen stößt es ab. Bei den Operationsschwestern habe ich mir meine eigene Theorie zurechtgelegt.“

„Und die wäre?“, erstmals zeigten die Chirurgen Interesse.

„Nun, ich nenne es die Liebe-auf-den-ersten-Schnitt-These“ antwortete ich. „Fast alle Operationsschwestern sind als Mädchen selbst einmal operiert worden und damals von diesem Erlebnis derart beeindruckt gewesen, dass sie unbedingt auch einen Beruf aus dieser geheimnisvollen Welt ergreifen wollten. Sie wurden damals geprägt, sozusagen grün geprägt, und so eine Prägung oder Beschneidung hält fürs Leben. Einmal grün, immer grün. Natürlich konnten sie nicht wissen, in welche hierarchischen Strukturen sie sich hineinbegeben. Vielleicht sehen sie im Chirurgen auch einen Vaterersatz.“

„Reichlich an den Haaren herbeigezogen“, meinte einer.

„Ich glaube, dann solltest du Psychiater werden“, witzelte ein anderer, der Alptraumchirurg.

Kurze Zeit später verließen die Grüngekleideten den Raum. Wahrscheinlich hielten sie mich nun für einen Spinner, der nicht in ihre Welt passte.

Im Verlaufe des Morgens erklärte mir Oberarzt Huber, er sei wegen diversen Notfalloperationen zu Umstellungen gezwungen, und ich müsse außerplanmäßig eine Knie Operation übernehmen. Kurz erklärte er mir das Wichtigste.

Meine Patientin hieß Céline Jaquet und ich wusste von ihr nur, dass sie jung, ängstlich und Privatpatientin war. Ich begab mich in den dafür vorgesehenen OPS im Erdgeschoss.

Die Rückseite der Wahrheit

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