Читать книгу Durchs Feuer hindurch - Richard Böck - Страница 12
Оглавление6.
Wo bist du, Gott?
Ausgestreckt lag Martin auf dem Boden der Klosterkirche. Unter ihm die Grabplatte des Augustinerpredigers Johannes Zachariae. Martin legte die drei ewigen Gelübde ab: Gehorsam, Armut und Keuschheit bis in den Tod.
In dem kühlen Raum herrschte eine besondere Stimmung. Noch hatte der Herbst nicht in vollem Umfang Einzug gehalten. Das Wetter war sonnig, Vogelstimmen klangen durch die dicken Mauern und umrahmten diese höchst feierliche Stunde mit ihrer Musik.
Es war Martin bewusst, auf welcher Grabplatte er gerade lag: Pater Zachariae war als theologischer Sachverständiger am Prozess gegen Johannes Hus beteiligt gewesen. Der kämpferische Zachariae hatte dafür gesorgt, dass der böhmische Ketzer den Feuertod auf dem Scheiterhaufen erleiden musste. Der junge Luther konnte in diesem Augenblick nicht erahnen, wie gefährlich nahe er diesem Hus kommen sollte. Im Augenblick war Martin voller Dankbarkeit gegenüber seinem Gott. Dass er hier lag, sah er als Fügung seines Herrn.
Die Kleidungsstücke, mit denen er jetzt eingekleidet wurde, sollte er fünfzehn Jahre lang tragen. Ein weißes Unterkleid, darüber die schwarze Kutte der Augustiner und als Zeichen, dass er bereit war, das Joch Christi auf sich zu nehmen, ein schmales weißes Tuch über Schultern, Brust und Nacken.
Sein bisheriger Tagesablauf änderte sich. Jetzt hatte er Zeit für das Bibelstudium. Erst im »Schwarzen Kloster« lernte er die Heilige Schrift richtig kennen. Die Augustiner legten Wert auf eine biblische Frömmigkeit und Einhaltung von Regeln. Ein harter Tagesablauf war den Mönchen vorgeschrieben. Der Tag wurde um drei Uhr morgens mit dem ersten Gebet begonnen und um Mitternacht mit der siebten Gebetszeit beendet. Außerdem waren rund hundert Fastentage im Jahr vorgesehen. Dies alles nach strenger Vorschrift.
Das erste Jahr stand Martin ohne große Probleme durch. Doch es kamen Zeiten auf ihn zu, die ihn an den Rand des Zusammenbruchs führten. Er wollte wie kein anderer, ein Gott wohlgefälliges Leben führen. Tadellos, fehlerlos, ein heiliges Leben. Bald aber spürte er, dass es Grenzen gab, Grenzen der menschlichen Möglichkeiten. Es war ihm einfach nicht möglich, ein so heiliges, ein so tadelloses Leben zu führen, wie er sich dies vorgenommen hatte. Damals in Stotternheim hatte er die Todesgefahr im Gewitter als Hölle erlebt. Jetzt aber hatte er das Gefühl, im Vorzimmer der Hölle zu sitzen, wenn er von Zweifeln an der Liebe Gottes geplagt wurde. Es war die Hölle, da er die Vergebung durch Gott nicht mehr annehmen konnte. Nicht, dass er die Vergebung nicht gewollt hätte. Er konnte nicht mehr glauben, dass Gott ihm immer wieder vergeben könnte. Sein Denken war tagtäglich von dieser Furcht ergriffen. »Keine Flucht ist möglich«, sagte er selbst, »nichts gibt es, was einen trösten könnte. Alles ist eine einzige Anklage.«
Nicht einem gnädigen, sondern – im Gegenteil – einem ungnädigen Gott war Martin im Kloster begegnet. Wie sollte er diesen Gott zufriedenstellen? Wie sollte er diesen Gott, der so viel forderte, so viel erwartete, wie sollte er ihm den Gehorsam leisten können, den er ihm schuldig war?
Einen menschlichen Vater könnte man noch zufrieden stellen, das war schon schwierig genug. Aber diesen Gott, der einen absoluten Gehorsam fordert – nie und nimmer.
Es trieb Martin in die Verzweiflung, obwohl er alles versuchte, Gott zufrieden zu stellen, aber diese Ziellinie nie zu Gesicht bekam. Dabei tat er alles Erdenkliche. Zu den üblichen Fastentagen legte er zusätzliche ein. Er verzichtete auf eine Schlafmatte oder einen Strohsack, sondern schlief auf dem harten Steinboden. Manches Mal wurde er in seiner kleinen, nicht beheizbaren Zelle ohnmächtig aufgefunden. Er war ausgelaugt vom Fasten und Beten, vor Kälte erstarrt. Martin war mit seinen Kräften fast am Ende. Er wollte Gott erpressen. Er wollte Gott gnädig stimmen. Doch dies gelang ihm nicht.
Dann versuchte er es mit der Beichte. Einmal in der Woche gingen die Brüder zur Beichte. Martin beichtete stundenlang, sezierte seine Gefühlswelt und suchte nach den letzten Sündenresten, um ja völlig rein zu werden. Doch war eine Beichte gerade eben vorbei, fing er erneut an, sein Inneres nach Verfehlungen zu durchleuchten. Es überraschte und überforderte sogar seine Beichtväter.
Martin zürnte mitunter dem göttlichen Vater, der ihn so zappeln ließ, der es geschehen ließ, dass ein aufrichtiger Christ immer wieder in dieselben Verfehlungen rennen musste und nie ohne belastetes Gewissen sein konnte.
Endlich war der junge Mann dorthin gekommen, wo er hinwollte, nahe zu Gott – und war doch so weit von ihm entfernt. So litt Martin Tag für Tag Höllenqualen.
Sein Leiden blieb seinen Klosterbrüdern nicht verborgen. Wenn auch nicht jeder Einzelne Verständnis für Martins übergroßen, ja mitunter extremen Eifer aufbringen konnte, so hatten die meisten doch Mitleid mit diesem ernsten, um die Liebe Gottes ängstlich eifernden Mitbruder. Jedoch alle bewunderten ihn für seine enormen Bibelkenntnisse.