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10.

Sobald das Geld im Kasten klingt …

Wie kaum zuvor konzentrierte sich Martin auf seine Arbeit. Die Tage waren ausgefüllt mit Vorlesungen, Briefen und Predigten. Dazu kam, dass er sich nun auch noch um die alten Sprachen bemühte. Er lernte Griechisch und machte sich auch an das Hebräische, die beiden Ursprachen der Bibel. Er wollte dem Wort Gottes ganz nahe sein, so nahe wie möglich; und sich nicht nur auf die übliche Übersetzung ins Lateinische verlassen. Wenn er nicht in der Universität oder in der Kirche war, saß er stundenlang mit Tölpel in seinem Turmzimmer. Martin war verliebt. Nicht in eine Jungfer. Nein, die Liebe zur Bibel hatte ihn jetzt so gepackt, dass er sich am liebsten Tag und Nacht in sie vergraben, in ihr gewühlt und von allen Seiten beleuchtet hätte.

Obwohl er zum Wort Gottes eine große Liebe entwickelt hatte, waren ihm die Menschen aus Fleisch und Blut nicht egal. Er machte sich Gedanken über die ihm anvertrauten Schafe. Er beobachtete sie und es schmerzte ihn, wenn er ihre Angst sah. Eine Angst, die er selbst ja zur Genüge kennengelernt hatte, ihm aber im Moment kaum noch etwas anhaben konnte. Er war so sehr in seine Arbeit vertieft, dass er keine Zeit zum Grübeln hatte. Außerdem ahnte er, dass es noch mehr zu entdecken geben müsse. Ein gutes Stück hatte er schon freilegen können, von dem Schatz, der in diesem Buch zu finden war. Er war aber noch nicht am Ziel. Es müsse noch mehr geben, hoffte er. Und das gute Gefühl, dem Ziel immer näher zu kommen, verstärkte sich. Viel fehlte nicht mehr. Wie eine gebärende Frau kam er sich vor. Das Kind war unterwegs, hatte aber noch nicht das Licht der Welt erblickt. Er wusste, dass Gott die Menschen liebt, doch diese Liebe konnte er noch nicht in ihrer völligen Größe und Deutlichkeit sehen.

Dieses Wissen, dass da mehr war als Drohung und Strafe, ließ Martin aufmerksam werden, aufmerksamer als je zuvor in seinem Leben.

Es war wie jeder Tag, als er von der Predigt zum Kloster zurückging. Martin war noch in Gedanken beim Gottesdienst, als ein ihm entgegenkommender Mann seine ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Der Kleidung nach zu urteilen, musste es ein wohlhabender Mensch sein. Und er hatte es eilig, sehr eilig. »Wo habe ich ihn schon einmal gesehen?«, grübelte Martin. Er hatte das Gefühl, dass ihn dieser Mann an etwas erinnerte. Aber es war nichts Gutes.

Abrupt blieb Martin stehen. Ihm fiel ein, dass er in der Kirche ein Schriftstück vergessen hatte. Schnell kehrte er zurück, denn es handelte sich um ein Fragment des griechischen Neuen Testaments. Martins Herz klopfte wie wild. Am liebsten wäre er gerannt, doch schickte sich dies nicht für einen Mönch. Erleichtert sah er es auf einer Bank liegen. Als er es zu sich nahm, fiel ein Sonnenstrahl durch die dicken Scheiben und malte auf den Vorhang, der zwischen ihm und seinen Beichtkindern hing, kleine Kreise. Als Martin auf das Licht am Vorhang aufmerksam wurde, zuckte er zusammen: »Natürlich, dieser Mann von damals war es!« Jetzt erinnerte er sich. Er konnte ihn während der Beichte nicht sehen. Der Vorhang ließ ihn kein Gesicht sehen. Doch als er hinausging, lächelte er, als ob er gerade etwas eingekauft hätte. Schon damals fand Martin das Auftreten des Mannes provozierend. In seiner Stimme lag etwas auffallend Selbstgefälliges. Er erinnerte sich deutlich daran, wie sehr er sich über ihn geärgert hatte. Warum hatte er sich aber vorhin auf der Straße nicht sofort an diesen Mann erinnert?

Martin setzte sich. Er hoffte, dass er ungestört bleiben konnte, um nachdenken zu können. Wieder hatte sich ein für diese Jahreszeit seltener Sonnenstrahl den Weg in die Kirche gebahnt. Martin rückte dorthin, um wenigstens ein wenig dieser Wärme einfangen zu können. Dazu schlug er seinen Umhang enger um die Beine.

Langsam kehrten die Erinnerungen an die damalige Beichte zurück. Vor geschlossenen Augen tauchten Bilder aus seinem Gedächtnis auf:

Martin saß im Chorraum, vor sich das Stundengebet, mit einem Ohr trotzdem aufmerksam horchend, ob nicht jemand zur Beichte käme. Für ihn war es nicht eine beliebige Handlung, wie er es in Rom erleben musste. Nein, die Beichte war für Martin eines der heiligen Sakramente, die Gott den Menschen geschenkt hatte, um ihr Leben wieder lebenswerter zu machen. Darum war er immer mit Herz und Seele bei der Sache, Gott und Mensch gleichzeitig zugewandt. Mit ganzer Seele. So auch damals, als er den Windhauch spürte. Der Vorhang war ein Stück zur Seite gedrückt worden: »Vater, darf ich?«

»Setz dich, mein Sohn«, gab Martin zurück und lächelte freundlich.

»Ich habe gesündigt, Vater«, begann der Beichter und streckte Martin mit den Worten »Wie froh bin ich um diese Möglichkeit!« ein Papier entgegen.

Selbstverständlich und begleitet mit diesem selbstgefälligen Ton in der Stimme war dieser Satz dahin gesagt: »Wie froh bin ich um diese Möglichkeit!« Dieser lockere Ton war es, der Martin sofort störte.

Natürlich kannte Martin dieses Papier schon lange; es war ein Ablassbrief. Er fand nichts Schlimmes dabei, wenn ein Mensch aus Reue etwas Geld für einen guten Zweck an die Kirche gab. Doch dieses Mal kroch in ihm ein unangenehmes Gefühl empor. Er konnte nicht sagen, was ihm so missfallen hatte.

Er nahm das Papier und staunte über die außergewöhnlich hohe Summe. Als er die Sünden einzeln gehört hatte, konnte er sich den hohen Betrag erklären. Martin fragte: »Bereust du deine Vergehen?«

»Ja, was denn sonst!«, kam fast vorwurfsvoll zurück. Wie konnte der Priester ihn so etwas fragen? Wo er doch soviel Geld dafür bezahlt hatte?

Widerwillig sprach Martin die übliche Formel: »Im Namen des dreieinigen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, sage ich dir, dass dir diese Sünden …«

Plötzlich hielt Martin inne. Ein lautes Glockengeläut hatte eingesetzt. Es war die Sterbeglocke. Martin stockte. Noch einmal begann Martin, dem ebenfalls irritierten Beichter die Absolution zu erteilen.

Martin erinnerte sich, dass er damals mit Widerwillen die Worte der Absolution ausgesprochen hatte. »Denke nach, Martin«, sagte er leise zu sich selbst. Hat dich wirklich das Glockengeläut gestört? Lächerlich!« Martin senkte seinen Kopf. Er betrachtete nachdenklich den Holzboden, er ließ seine Augen die Maserung verfolgen. Ein Geräusch ließ ihn aufschauen. Ein paar Meter vor sich bemerkte er eine Frau. Er hatte sie zuerst nicht hereinkommen sehen und beobachtete sie daher erstaunt. »Das ist es!«, dachte er und begab sich zur Kirchentür.

Martin atmete tief durch. Jetzt wusste er, was ihn gestört hatte. Die demütige Haltung dieser betenden Frau hatte ihn beeindruckt. Sie stand da mit geschlossenen Augen, ihr Gesicht ein wenig nach unten und die gefalteten Hände gen Himmel gerichtet. Ihre Lippen beteten leise und eindringlich. Welcher Kontrast zu dem hochmütigen Mann damals. Hätte auch diese Frau ihm einen Ablassbrief überreicht, wäre ihm die Absolution leichter über die Lippen gegangen. Aber diese Frau verhandelte wohl direkt mit Gott über ihr Seelenheil. Geld für einen Ablassbrief hatte sie wohl nicht.

Martin war so tief in Gedanken versunken, dass er das herannahende Fuhrwerk gar nicht bemerkt hatte. Erst das laute Schnauben der Pferde sowie das Fluchen des Kutschers rissen ihn aus seinen Gedanken und ließen ihn schnell auf die Seite springen. Auf der anderen Straßenseite lachten einige Trunkenbolde über den unvorsichtigen Mönch. Vorsichtiger, aber nicht weniger nachdenklich kehrte er zurück in sein Studierzimmer und setzte sich an den Tisch. Den Kopf schwer auf beide Hände gestützt dachte er laut nach: »Wie weit ist es mit unserer Kirche gekommen?« Martin bückte sich und kraulte Tölpel am Hals. Der Hund war an Martin gewöhnt. Gerne lag er neben ihm, wenn er in seine Studien vertieft war und grübelte. Schon oft hatte sich Martin über das blinde Vertrauen des Hundes gewundert. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und rief: »Genauso müssten wir unserem Gott vertrauen. Stattdessen erzählen wir den Menschen seit Jahren, dass sie sich die Liebe und Vergebung Gottes mit Geld erkaufen können.« Tölpel sprang erschrocken auf und glotzte Martin mit großen Augen an.

Mit erst achtundzwanzig Jahren war Martin, der Augustinermönch, nun Doktor der Theologie und Universitätsprofessor. Darüber hinaus war ihm die Aufsicht über rund ein Dutzend Klöster des Augustinerordens anvertraut worden. Er hätte zufrieden sein können, er hätte sich nun zurücklehnen und sein Ansehen genießen können. Als Mönch wäre für ihn gesorgt gewesen – und er hätte ausgesorgt.

Aber Martin war anders. Zurücklehnen konnte und wollte er sich nicht. Unzufriedenheit und Unruhe trieb ihn um. Ständig war er auf der Suche. Er musste Raum um Raum durchschreiten auf der Suche nach der einen Türe zur Freiheit. Schon länger ahnte er es, dass da eine Freiheit war, die er noch nicht vollumfänglich begriffen und ergriffen hatte. So vertiefte er sich noch intensiver in die Heilige Schrift, klopfte sie ab, durchsuchte sie nach Stellen, die er noch nicht kannte oder doch noch nicht in ihrer ganzen Tiefe begriffen hatte. Er musste an die Quelle kommen. An das möglichst klare Wasser, durch das er bis zum Grund hinabschauen konnte.

Und es gelang immer besser. Tiefer und tiefer wurde seine Erkenntnis. Zwischendurch verwehrten ihm ein paar Wellen und Strudel den klaren Blick. Doch mit Geduld und ebenso großer Demut trieb er seine Studien voran. Irgendwann müsste er doch das sehen können, worauf es ankam.

Dabei kam ihm Jakob in den Sinn, die Erzählung im Buch Genesis der Heiligen Schrift. Dem Erzvater Jakob hatte sich ein Mann in den Weg gestellt. Als er mit ihm rang, wurde Jakob bewusst, dass er mit einem Engel Gottes kämpfte. Den Ausruf Jakobs »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn« kannte Martin aus seinem Bibelstudium in Genesis 32. So wollte auch er nicht aufgeben. Er wollte festhalten, nicht aufgeben. Um die Wahrheit wollte er ringen, bis er den Weg zur Freiheit, zu Gott, gefunden habe. Denn er kannte Gott als einen, der die Sünde hasste, aber er kannte auch die Stellen in der Schrift, in denen er als der Liebende beschrieben wurde. Wenn es nun ein liebender Gott war, der die Menschen erschaffen hatte, so muss es einen Weg der Liebe geben, der zu diesem Gott führt. Doch mit Geld konnte diese Liebe doch nicht erkauft werden.

Martin war müde, seine Augen brannten. Er war gerade dabei, seine Bibel für heute zuzuschlagen, als sein Blick doch noch an einer Stelle haften blieb. Warum es diese Stelle war, die seine vom vielen Lesen müden Augen noch erblickten, konnte kein Zufall sein. Plötzlich war er wieder hellwach.

»Moment, ist das möglich? Sollte es das sein?« Martin stand auf, den Kopf in die Höhe gereckt schritt er aufgeregt in seinem Zimmer auf und ab. Es war still. Das Kloster schlief, nur Martin war noch wach. Er stützte sich auf die Lehne seines Stuhles. Langsam sprach und dachte er: »Christus hat am Kreuz gerufen: ›Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!‹ Ja, so schrie er! Tölpel, ich glaub, jetzt hab ich’s gefunden. Er schrie, weil er die Schuld der ganzen Welt auf sich geladen hatte. Auch meine Schuld. Und wenn Paulus im Brief an die Römer schreibt ›Der Gerechte wird aus Glauben leben‹, dann bedeutet das doch, dass der, der an ihn glaubt, der ihm vertraut, neues Leben erhält, neues Leben, frei von Schuld. Denn Christus hat sie für mich getragen! Für mich und alle Menschen.«

Martin redete vor sich hin, schneller, immer schneller und voller Begeisterung formulierte er seine neue Erkenntnis. Wie einer, der jahrelang einen Schatz gesucht und nun endlich entdeckt hatte. Endlich ausgegraben. Er fühlte sich leichter denn je. Eine Last war von ihm abgefallen. Da war etwas gelöst. Erlösung. Von diesem Moment an wusste er, was Erlösung bedeutete. Immer wieder schüttelte er den Kopf und grummelte: »Da predigen wir tagaus, tagein von Erlösung und haben es doch nicht verstanden.« Er setzte sich erneut und redete leise, ganz vorsichtig zu sich: »Ich bin erlöst, weil Jesus mir die Schuld vergibt. Wenn etwas vergeben ist, dann ist es nicht mehr da. Es ist vergeben, weggegeben. Er schenkt mir Vergebung. Ich kann und muss sie nicht erkaufen. Nicht mit Geld, nicht mit guten Werken. Ich muss und kann sie nicht verdienen. Die Vergebung ist ein Geschenk!«

Er lehnte sich zurück und atmete tief durch, wie einer, dem gelungen war, was er nie für möglich gehalten hatte.

»Ich muss das zu Papier bringen!« Schnell war er beim Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Da flatterte ein Schatten vom Turm weg. Martin wusste um die Fledermäuse unter dem Dach und rief ihnen nach. »Am liebsten würde ich es euch erzählen.« Er drehte sich zu Tölpel: »Oder dir, Tölpel. Nein, der ganzen Welt.«

Er hielt in seiner Begeisterung kurz inne und dachte: »Wie werden sie reagieren, wenn ich sage, dass die Vergebung als Geschenk zu haben ist. Dass sie nicht zu verdienen und nicht zu kaufen ist?«

Martin schloss das Fenster und entzündete an der Kerze einen größeren Kienspan, um helleres Licht zu bekommen.

»Egal, wem oder wann ich es erzähle. Jetzt muss ich es festhalten!« Und die Feder des begeisterten Mönchs flitzte nur so über das Papier.

»Wir alle sind sündige Menschen«, begann er, »wir haben keine Möglichkeit, uns freizukaufen. Es gibt kein Mittel, unsere Sünden zu bezahlen. Christus hat sie bezahlt, am Kreuz. Mit seinem Blut hat er für unsere Schuld bezahlt. Wenn wir ihm vertrauen, wird sie hinweg genommen. Dann sind wir frei. Er, Christus, will nur unser Vertrauen! Nur unser Vertrauen. Sonst nichts!«

Erneut lehnte er sich zurück und drückte seinen verspannten Rücken durch. Er schloss die Augen: »Bin ich jetzt angekommen?« Eine ganze Weile verharrte er in dieser Körperhaltung und fühlte, wie ihn eine noch nie erlebte Zufriedenheit durchflutete.

Als er eine kurze Zeit später auf seinem Strohsack lag, wusste er, dass er nicht mehr schweigen kann. Jetzt wurde ihm klar, dass dieser Abend sein Leben verändert hatte. Egal was kommen werde. Er lag glücklich und geborgen auf seiner Bettstatt. »Gott liebt mich und lässt mich nicht mehr los.«

Durchs Feuer hindurch

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