Читать книгу Durchs Feuer hindurch - Richard Böck - Страница 14
Оглавление8.
Am Rande der Zivilisation
Wie trübsinnig erschien den sieben Mönchen dieser wolkenschwere, graue Himmel, als sie vor den Toren Weißenbergs standen. Später sollte Weißenberg einmal als die berühmte Stadt Wittenberg in die Geschichte eingehen. Doch als Martin und seine Mitbrüder endlich nach langem Fußmarsch angekommen waren, konnten sie nichts Besonderes an diesem Städtchen in der Provinz ausmachen. Der weiße Elbsand gab der Stadt ihren Namen. Weißenberg war die Hauptstadt des kleinen kursächsischen Fürstentums, rund achtzig Kilometer südwestlich von dem auch damals unbedeutenden Berlin gelegen. Das »schwarze Kloster« hatte die sieben Mönche, einer davon war Martin, an die junge Universität Weißenbergs versetzt. Damals hatte die Stadt gerade mal 2.000 Einwohner, lockte aber im Laufe des Jahrhunderts 50.000 Studenten an und wurde damit zur begehrtesten deutschen Universität.
Für Martin begann nun eine seiner strengsten Zeiten. Als Philosophiemagister wurde ihm eine Hilfsprofessur übertragen. Am Nachmittag hielt er seine Vorlesungen, in der übrigen Zeit studierte er Theologie.
Obwohl seine Versetzung an die Universität Weißenberg eine Beförderung war, ärgerte es ihn: »Es ekelte mich an. Am liebsten hätte ich nur studiert, mich in die Bibel vertieft.« Martin war von diesem Buch überaus fasziniert. Er hatte sehr schnell erkannt, dass darin große Weisheiten verborgen waren, Antworten auf Fragen, die ihn schon lange beschäftigten. Schnell war es für ihn das Buch der Bücher und zum Mittelpunkt seines Denkens und Handelns geworden.
Der junge Gelehrte saß in seinem Studierzimmer. Eine Kerze flackerte und gab ihm das nötige Licht. Obwohl es draußen langsam dämmerte und die Dunkelheit zunahm, was das Lesen zunehmend erschwerte, konnte sich Martin nicht von den Zeilen losreißen. Er ahnte und spürte, dass hier mehr als nur nüchterne Buchstaben standen. Hatte er das erste Atmen der Schrift vernommen? Noch konnte er es nicht verstehen. Noch begriff er nicht, aber er spürte, dass diese Schrift sein Innerstes berührte. Sie entfachte nicht nur Neugierde, sondern auch die Liebe zum Wort. Diese Liebe zum Wort Gottes begann sich zu entfalten. Ja, Martin fühlte in sich ein Drängen zu diesem Wort. Er musste und wollte tiefer in diese Wahrheiten eindringen. Er war jetzt dabei, die ersten Türen zu öffnen. Türen zu neuen, bisher unbekannten Räumen. Noch hatte er aber den Riegel nicht ganz zu fassen bekommen. Aber er war nahe davor. Und einer mit diesem sturen Schädel würde sich erst dann zufrieden geben, wenn er die ersten Räume durchschritten und den Schatz entdeckt hatte, nach dem er und viele andere schon so lange gesucht hatten.
Im Garten des »Schwarzen Klosters« in Erfurt wehte ein lauer Wind. Die Blätter an den Bäumen raschelten leise. Johann von Staupitz, der Generalvikar der Augustiner stand unter einem schön gewachsenen Apfelbaum und dachte nach. Er dachte an seinen Zögling. Der feinsinnige Kirchenmann war sich sicher, dass Martin in der Welt etwas bewegen könnte. Noch nie hatte er solchen Eifer, verbunden mit großem Ernst bei einem jungen Mönch beobachtet. Und all das mit tiefer Ehrfurcht vor der Heiligen Schrift.
Von Staupitz setzte sich auf die Bank vor dem Baum und stöhnte leise vor sich hin: »Wie kann dieser Eifer, diese Ehrfurcht in gute Bahnen gelenkt werden?« Solcher Eifer barg auch Gefahren. Aber ihm war wohl bewusst, dass ein solch kompromissloser Eifer das Merkmal großer Persönlichkeiten war. Sollte Martin zu höherem berufen sein als hier in Erfurt möglich war? Vielleicht. Der ergraute Generalvikar überlegte und wägte ab, was er tun könnte, um Martin vor einem falschen Weg zu bewahren, der ihm mehr schaden als nützen würde. Ohne einen Zusammenhang zu erkennen, wanderten seine Gedanken zu Johannes Hus. Vor fast hundert Jahren hatte dieser auch so eifrige Christ aus Böhmen berechtigte Kritik an Rom geübt. Wie Martin war auch Hus leidenschaftlich bemüht, Gott mit seiner ganzen Kraft zu dienen. Konstanz! Von Staupitz erschrak. Wie grausam musste damals beim Konstanzer Konzil ein aufrichtiger Diener seiner Kirche sein Leben lassen. Bei lebendigem Leib wurde er verbrannt und das trotz Zusicherung freien Geleits. »Wie gut und heilsam ist es,« dachte von Staupitz, »dass uns Gott kritische Geister schickt. Doch ist die Kirche heute bereit, auf eine solche Kritik zu hören? Bei Hus war sie es nicht.« Von Staupitz kannte seine Kirche. Und er liebte sie. Trotz all ihrer Unvollkommenheit. Er spürte die Angst, dass sich Martin durch seine Liebe zur Schrift und seinem Eifer für Wahrheit und Gerechtigkeit auf einen ähnlichen Weg begeben könnte. Einen Weg, der ihn in Gefahr bringen könnte. Und grausame Wölfe lauerten damals wie heute in der Kirche an etlichen Wegen und Biegungen.
Als von Staupitz aufstand, seufzte er tief. Er war froh, dass die Glocken zum Abendgebet riefen. Seine Gedanken mussten in andere Bahnen gelenkt werden.
Fleißiger denn je war Martin am Arbeiten. Einerseits hoffte er, seine Studien bald abschließen zu können, andererseits hängte er an den Worten der Bibel wie ein Säugling an der Mutterbrust. Bald täglich erschlossen sich ihm neue Erkenntnisse. Jedoch konnte er sie noch nicht in Bezug zu seinem bisher Gelernten setzen; es passte nicht zueinander. Und doch hatte er neue Pfade entdeckt. Ihnen wollte er nachgehen, um Wahrheit und Klarheit zu finden. Diese offenbarte ihm die Schrift immer wieder neu.
Bisher hatten Worte der Kirche und des Papstes stets Vorrang, Worte der Schrift bedeuteten nichts. Aber sie standen zuweilen im Widerspruch zu den Worten der Heiligen Schrift. Er lehnte sich zurück und griff sich an die Stirn: »Warum bin ich darauf noch nicht gekommen? Das Wort eines Papstes kann nicht Gotteswort sein. Er ist nur Mensch, es ist also immer Menschenwort. Warum stellt man sein Wort dieser Schrift gleich, oft sogar darüber?« Martin streichelte zart die Seiten der Heiligen Schrift, schüttelte den Kopf und murmelte: »Ich muss die Wahrheit finden, ich werde erst ruhen, wenn ich verstanden habe, was die Wahrheit ist!« Er war auf einem guten Weg. Dies spürte er. Und er dachte an von Staupitz. »Wie denkt er? Weiß er um die falschen, ja die gefährlichen Wege auf welchen die Kirche wandelt?«
Martin hatte sich von seinem Stuhl erhoben und ging unruhig im Zimmer auf und ab. »Wie wenig habe ich vor meinem Eintritt ins »Schwarze Kloster« zu Erfurt und erst recht vor Weißenberg vom wahren Glauben gewusst. Denn es kann doch nur das der wahre Glaube sein, der dem Menschen in der Schrift entgegen tritt.« Plötzlich blieb er stehen, denn er erschrak: »Wie wenig weiß das Volk draußen von der Wahrheit der Schrift. Sie können sie ja nicht lesen, geschweige denn verstehen. Woher sollen sie wissen, was Gott ihnen zu sagen hat?« Die Glocke schlug erneut. Martin blieb stehen und schaute nachdenklich seine lateinische Bibel an: »Man müsste sie für das Volk …« Doch die Idee schien ihm zu ungeheuerlich.
Martin schloss die Augen, dachte nach und hielt plötzlich inne. In ihm reifte die Erkenntnis: »Bevor ich die neuen Räume der göttlichen Wahrheit durchschreite, sein Wort begreife, sein Wort schmecke, kaue und verdaue, muss Gott selbst erst meine Räume, mein Innerstes berühren, durchschreiten, in mir Wohnung nehmen.« Einerseits begeisterten ihn diese Gedanken, andererseits erschrak er davor. Galt denn alles, was bisher das Frommsein ausgemacht hatte, nichts mehr? Die Prozessionen, die Pilgerreisen, die Ablasszahlungen, das Fasten und so vieles mehr. »Habe ich mich wirklich in so vielem getäuscht?«
Martin war durcheinander. Seine lateinische Bibel lag aufgeschlagen auf dem Studiertisch. Vom unaufhörlichen Lesen brannten seine Augen und fingen an zu tränen. Das viele Lesen und Nachdenken hatten ihn müde gemacht. Sein Kopf wog schwer auf seinen Schultern. Er brauchte dringend einige Stunden Schlaf. Nach alter Gewohnheit bekreuzigte er sich. Seine rechte Hand lag liebevoll auf der Bibel und er nickte nachdenklich. Links neben dem Tisch döste eingerollt der Klosterhund, dem Martin den Namen »Tölpel« gegeben hatte: »Denn, wenn mir einer so treu und unnachgiebig nachläuft, der kann nur ein Tölpel sein. So einfach ist es mit mir wahrlich nicht immer.« Schon seit Wochen wich er Martin nicht mehr von der Seite. Langsam und behutsam nahm er seine Hand von der Heiligen Schrift. Sein Blick fiel auf das Tier und neidvoll bekannte er: »So zufrieden wie du, Tölpel, wäre ich gerne wieder einmal!«
Er wusste, dass er erst zufrieden sein konnte, wenn er verstand, was dieses Buch ihm sagen wollte. Die Ahnung, dass der Weg dorthin noch weit sein würde, ließ Martin nicht los.
Zur gleichen Zeit verließ von Staupitz nachdenklich die Klosterkirche. Ihm war klar, wie sehr die Menschen den bewahrenden Schoß der Kirche brauchten, so sprach er halblaut vor sich hin: »Sie brauchen die vorgeschriebenen Gebete, sie brauchen die Bilder, die Madonnen, sie brauchen die Prozessionen, ja sie brauchen auch uns, die Priester, die ihnen einen Weg zeigen.« Dachte er an seinen Zögling, wurde ihm mit Bangen klar, dass sich hier einer aufmachte, neue Wege zu gehen: »Martin will sich nicht mehr mit den alten Liedern und Gebeten zufrieden geben. Er will mehr. Ja, gewisslich braucht er mehr, wenn er nicht am jahrhundertealten Staub unserer Kirche ersticken will. Ihm reichen keine Bilder und Prozessionen. Doch«, und da erschrak von Staupitz, »die Menschen sind ohne diese Dinge nicht fähig, zu glauben. Ach, Martin, du meinst es ehrlich, so grundehrlich. Wohin wird uns das führen?«