Читать книгу Durchs Feuer hindurch - Richard Böck - Страница 8
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Schwer wie Blei
Er saß auf der Kante seiner Bettstatt in dem kleinen Zimmer. Das Gesicht auf die Maserung der Holzdielen gerichtet, dachte er nach. Es waren die stets selben Gedanken, die in ihm auftauchten. Am liebsten hätte er sie irgendwohin verbannt. In einen nie mehr auffindbaren Winkel seines Gehirns. Doch das war unmöglich. Was er am Vortag erlebt hatte, ließ ihn nicht mehr los. Wollte er es aus seinen Gedanken wegschieben, bockte es wie ein Esel. Unverrückbar und wie in Stein gemeißelt sah er das Erlebte auf dem Weg zurück nach Erfurt immer noch und immer wieder vor sich. Dieses höllische Gewitter, der Regen, der wie Nadelstiche auf ihn einstach, der Sturm, der ihn auf den Boden gedrückt hatte, und die mörderischen Blitze, die auf alles eindroschen, hatten ein Untergangsszenario bei ihm eingebrannt. Kaum meinte er, endlich einem anderen Gedanken folgen zu können, so stand der Gewittersturm erneut wie ein Gespenst vor ihm.
Es war ihm nicht mehr möglich, seinen üblichen Tagesablauf aufzunehmen oder sich gar seinen Studien zu widmen.
Er wusste warum, wollte es sich aber nicht eingestehen. Es war nicht in erster Linie die Angst vor dem Gewitter. Vielmehr war es das Gebet, das er in seiner Angst formuliert hatte. Wie die Feuersäule beim Auszug aus Ägypten tauchte es wieder und wieder vor ihm auf. Eine Ermahnung mit drohendem nach oben gerichteten Finger: »Heilige Anna, hilf, ich will ein Mönch werden!« In seiner Todesangst hatte er dieses Versprechen gegeben. Es war nicht nur ein Versprechen. Vielmehr ein Gelübde. Aber nicht an irgendjemanden. Der heiligen Anna und dem Allmächtigen hatte er versprochen, ins Kloster zu gehen, wenn er diesen Weltuntergang überleben würde. Und wie durch ein Wunder überlebt er und die Welt ging nicht unter. Aber anstatt sich wieder des Lebens zu freuen, hatte er ein neues Problem, das fast so unüberwindlich war wie die gestrigen Naturgewalten: Wie sollte er Bärbel, seiner Verlobten erklären, dass er statt in die Ehe nun ins Kloster gehen wollte? Wie sollte er seinen Eltern erklären, dass er die vielversprechende Juristenkarriere an den Nagel hängen und weiterhin als Mönch leben würde? Was würden die Freunde, Verwandte und Nachbarn sagen? Wie sollte er denen das alles erklären? Und galt nicht auch das Eheversprechen an seine geliebte Bärbel als heilig? Welches Versprechen hat nun das größere Gewicht? Wie würde der Vater dastehen, der alles Erdenkliche getan hatte, um ihm eine komfortable Zukunft zu ermöglichen! Martin wusste um seine Herkunft. Sein Vater hatte bescheiden angefangen und durch harte Arbeit ein kleines Vermögen erwirtschaftet. Vom Bergmann zum Ratsherr, darauf waren alle stolz. Und wie stolz war sein Vater, dass er seinem begabten Sohn Martin die beste Schulbildung und ein Universitätsjurastudium ermöglichen konnte. Damit er ihn eines Tages noch übertreffen sollte. Als Jurist standen ihm alle Türen offen. Martin war die große Hoffnung der Familie.
Mit einem Mal schlug Martin die Hände vor die Augen. Könnte er das gestrige Erlebnis nur ungeschehen machen. Er stand auf und ging in der engen Kammer auf und ab. Dann im Kreis. Immer und immer wieder. Und immer wieder fuhr er sich durch seinen Haarschopf, als ob er dadurch irgendwie Ordnung in seine Gedanken bringen könnte: Wie soll ich dies meinem Vater beibringen, meiner Mutter, meiner Bärbel? Sie alle haben große Hoffnungen in mich gesetzt! Was für ein Schuft wäre ich, sie grausam zu enttäuschen! Je länger er nachdachte, desto lauter wurden die Selbstvorwürfe.
Ein leises, ja zaghaftes Klopfen drang an sein Ohr: »Ja, herein«, antwortete Martin mit ungeduldiger Stimme.
Vor ihm stand der schüchterne Franz. »Ich wollte dich fragen, ob du …«, stotterte der Student. »… ob ich dir die letzten Sätze aus der Vorlesung von letzter Woche geben könnte. Ich habe sie aufgeschrieben. Warte!«, unterbrach ihn Martin.
Martin kramte nur kurz in seiner kleinen Truhe, in der er seine Aufzeichnungen aufzubewahren pflegte: »Schau, Franz, schreibe es ab. Aber bringe es mir dann gleich wieder. Und entschuldige bitte meinen etwas ärgerlichen Ton von vorhin. Mit dir hat es nichts zu tun. Mir geht so viel durch den Kopf!«
Dem ängstlichen und schüchternen Franz war die Erleichterung anzusehen. Er wusste, wie sehr er auf seinen Kommilitonen angewiesen war. Wenn niemand mehr weiter wusste, war immer noch Martin die letzte Rettung. Jeder kannte die Begabung und den Fleiß dieses jungen Mannes aus Mansfeld.
»Vielen Dank, Martin. Was wäre ich nur ohne dich? Ich und deine Eltern sind sehr stolz auf dich. Du bist unser Bester – vielleicht wirst du ja mal Advokat beim Kaiser! Jetzt kann ich weitermachen. Manches Mal geht es bei den Vorlesungen so schnell, dass ich nicht mehr folgen kann. Dann höre ich lieber zu, anstatt Papier zu versudeln. Es ist ja nicht gerade billig!«
Martin lächelte verständnisvoll und mitleidig. Wie gerne hätte er in diesem Moment mit den Problemen seines Freundes getauscht. Das Mitleid mit Franz und dessen Langsamkeit hielt sich in Grenzen. Es war an diesem Tag eher Selbstmitleid, das Martin verspürte. Franz hatte ihm – gewiss ohne böse Absicht – gerade vor Augen geführt, dass er kurz davor stand, eine steile Karriere als Jurist aufzugeben. Obwohl er schon einige Zeit unter der Vorstellung litt, sich als Advokat zu sehen, er hatte dem Vater zuliebe dieses Studium angetreten, wurde ihm nun bewusst, was es heißt, von einem auf den anderen Tag jahrelange Studien einfach aufzugeben und Menschen zu enttäuschen. Wie das Papier vorhin in die Hand von Franz, so würde er die wertvollen Bücher hergeben und damit auch die Zukunft und das Ansehen, das Advokaten gemeinhin hatten. Alles Studieren, alle Prüfungen, die ganzen Aufregungen vor den Examina – alles war zunichte, alles war umsonst, verschenkt. Was bekam er dafür? Das harte und entbehrungsreiche Klosterleben! Die Vorwürfe des Vaters! Die Tränen der Mutter! Die Verwünschungen von Bärbel! Franz würde es auch nicht verstehen, keiner würde es verstehen. Martin ein Mönch. Kloster statt Kanzlei. Wie sollte er das erklären? Was sollte er tun? Was wog mehr?
Wie er es auch wendete, wie er es auch bedachte, sein Flehen in Todesgefahr, das Versprechen in Lebensgefahr hatte sich schwer wie Blei auf seine Seele gelegt.