Читать книгу Die Teufelsbibel-Trilogie - Richard Dübell - Страница 66

21.

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„N… n….nich’ n… n… noch mal“, brachte Buh hervor.

„Nein“, sagte Pavel und zerquetschte ein Moospolster zwischen den Fingern. Braunes Wasser lief heraus wie Blut. „Nicht noch mal.“

Sie betrachteten den Weiler abseits der Straße aus ihrer Deckung heraus. Rauchsäulen standen über den Kaminen. Der Frühling hatte zwar inzwischen Tritt gefasst und würde sich nicht mehr vom Winter durcheinander bringen lassen, aber im Inneren der Häuser herrschte immer noch die feuchte Kälte des Tauwetters. Weit entfernt hinter den flachen Hügeln glaubte Pavel ein graues Flimmern in der Luft wahrzunehmen, eher aus dem Augenwinkel zu erkennen als bei direkter Betrachtung. Das würde Prag sein. Auch dort würden die Kamine rauchen.

Ihre Reise hätte genüsslich verlaufen können: Seit ihrem Aufbruch war es warm gewesen, vor den sporadischen Frühlingsregengüssen hatten sie sich jedes Mal rechtzeitig in Sicherheit bringen können, und durch den Umstand, dass die Straßen voller Reisender waren, hatten sie stets gut gegessen – am Anfang der Reisesaison gab man wandernden Mönchen gern ein Almosen, um Gott und die Heiligen günstig für die eigenen Zwecke zu stimmen. Die Vögel sangen so laut in den Wäldern, dass Pavel und Buh, wenn sie ihr Lager im Freien aufgeschlagen hatten, regelmäßig in der Morgendämmerung geweckt worden waren, doch das war immer noch besser als vom Geläut der Primglocken aus dem Schlaf gerissen zu werden, das dünn und misstönend in die Höhlen unterhalb des Braunauer Klosters drang. Das Wasser in den Bächen war klar und frisch gewesen und hatte noch nach Schnee geschmeckt, was man schätzte, wenn die Frühlingssonne die Kutte wärmte und der Winter nur noch eine Erinnerung war. Und doch … und doch waren fünf von den sieben Tagen, die sie unterwegs waren, eine Strapaze gewesen.

Die Ursache war Buh. Es war nicht seine Schuld, es war vielmehr Pavels Schuld, oder wenn man schon einen wirklich Schuldigen suchte, dann war es die Schuld des Teufels, der der Welt sein persönliches Testament hinterlassen hatte, damit sie sich selbst damit verdarb; aber da der Teufel nicht zu fassen war und Pavel dazu neigte, die Dinge persönlich zu nehmen, war es am Ende doch seine Schuld.

Buh, der Fliegen in seinen großen Tatzen fing und sie an der frischen Luft freiließ, der selbst die Asseln, die es in ihrem selbst gewählten Verlies unter dem Kloster zu Tausenden gab, lieber vorsichtig beiseite schubste, anstatt sie wie alle anderen mit einem Fingerschnippen in die nächste Ecke zu katapultieren … Buh, der jetzt gedankenverloren die Knöchel seiner rechten Faust rieb, wo sich die Haut schon wieder über den aufgeplatzten Stellen geschlossen hatte … Ich habe gehofft, dich von allen Sünden fernhalten zu können, dachte Pavel. Ich habe versagt. Er hatte die schlimmste Sünde auf sich genommen, wie Abt Martin es ihm aufgetragen hatte, aber er hatte nicht vermocht, Buh rein zu halten.

„Nicht noch mal“, bekräftigte er.

„V… v… versp…prochen…?“

„Es wird diesmal keine Schwierigkeiten geben. Sie ist eine alte Frau. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Den Leuten auf der Straße waren unsere schwarzen Kutten egal, aber sie wird sie sofort wiedererkennen, und sie wird sich nicht weigern.“

„D… d… der… Kn… Kn…“

„Ja, der Knecht hat sie natürlich auch erkannt und sich nicht beeindrucken lassen. Ich weiß.“ Pavel seufzte. „Aber diesmal ist es anders. Ich verspreche es.“

„V… v… viel… viel… leicht… gnnnnn… vielleicht… viel…“, Buh gab es auf. Pavel nickte. Wie immer wusste er, was der Riese sagen wollte. Vielleicht … vielleicht war die alte Frau nicht zu Hause? Vielleicht waren sie umsonst gekommen und würden somit umkehren? Er schnaubte. Sie würden nicht umkehren, weil sie nicht umkehren konnten. Der düstere Schatz, den sie hüteten, war in Gefahr, solange es auch nur die geringste Möglichkeit gab, dass die Welt wieder auf ihn aufmerksam wurde. Wenn er in Gefahr war, dann war das Kloster in Gefahr; war Abt Martin in Gefahr. Pavel verstand, dass es um mehr ging als nur ihr Kloster oder den Vater Abt, aber in seiner Gefühlswelt war es die Bedrohung für diese beiden, die ihn antrieb.

Er stand auf. Buh musterte ihn von der Seite.

„Hör zu“, sagte Pavel deutlich. Buh war nicht schwer von Begriff, er tat sich nur mit dem Reden hart, doch die Welt neigte dazu, einem Stotterer zu unterstellen, dass seine Gedanken ebenfalls langsam vorankamen. Pavel wusste es besser, und dennoch ertappte er sich manches Mal dabei, dass er mit Buh sprach, als könne dieser noch nicht mal zur Latrine finden, wenn nicht ein Vorgänger auf dem Donnerbalken versehentlich den Deckel offen gelassen hatte. „Es war schwieriger, den Knecht zu finden, weil wir seine damalige Reise mühsam nachvollziehen mussten. Das ist hier nicht der Fall.“

Der Knecht war nicht weit gekommen, nachdem er und die Frau mit Bruder Tomás' Segen und dem Geld von Prior Martin Podlaschitz verlassen hatten – nur bis Kolin. Es war schwer genug gewesen, seine Spur bis dorthin zu verfolgen. Dass die Frau bis in die Nähe von Neuenburg geflohen war, war leichter herauszubekommen gewesen. Nein – es war nicht leichter gegangen, lediglich schneller, und auch das nur im Vergleich mit der tagelangen Suche, die seinem Aufstöbern vorausgegangen war. Es hatte zwei Stunden gedauert, und zwei Stunden mochten kurz erscheinen, waren es aber nicht, wenn sie mit den Geräuschen von Schlägen und von Schmerzensschreien begleitet vergingen. Es war erstaunlich, wie lange ein Mensch Folter ertragen konnte, um jemanden zu schützen, den er nicht einmal gut genug gekannt hatte, um sich mit ihm denselben Ort als neue Heimat auszusuchen. Buh rieb sich erneut die heilenden Knöchel an der rechten Hand, als habe er Pavels Gedanken verstanden; sein Gesicht war finster.

„Andererseits ist Kolin größer als Neuenburg, und sie lebt auch noch außerhalb der Stadt auf diesem Weiler dort vorn. In Kolin konnten wir das Haus finden, einbrechen und den Burschen festhalten, ohne dass die Nachbarn etwas merkten; das geht hier nicht, schon weil wir gar nicht wissen, in welchem Haus sie lebt.“

Buh nickte. Pavels Ortskenntnisse waren nicht überwältigend, aber dass beide Flüchtlinge sich in Richtung auf Prag zu bewegt hatten, war ihm klar. Hatten sie ursprünglich gehofft, in der großen Stadt untertauchen zu können? Oder war es nur um die größere Anonymität dort gegangen, die es leichter machte, die Spur eines kleinen Kindes zu verwischen? Sicher war nur, dass beide sich Orte als neue Bleibe gesucht hatten, die protestantisch beherrscht waren. Es schien, dass sie nicht nur Tagesreisen, sondern auch Konfessionsgrenzen zwischen sich und ihre frühere Heimat hatten bringen wollen.

„Wir müssen sie herauslocken“, sagte Pavel.

„W… w… wo… wo…?“

„Wohin?“ Pavel deutete auf ein Bauwerk am Waldrand: ein bis zum Boden heruntergezogenes, mit Strohgarben bedecktes Dach, eine Halbtür, deren unterer Flügel offen stand. „Die Ziegen sind irgendwo beim Weiden“, sagte Pavel. „Da kommt so schnell niemand hin.“

„W… w… wie?“

„Wie wir sie herauslocken?“ Pavel deutete auf eine schmale Gestalt, die langsam über den von Gebäuden des Weilers gebildeten Platz schlenderte, zwischen den Hausdächern verschwand und dann wieder auf dem Pfad auftauchte, der von den Häusern zum Waldrand und an ihm entlang führte, bis er irgendwann auf die Straße oder einen anderen Weiler treffen würde. „Er wird uns helfen.“

„Wenn’s so wichtig is’“, sagte der Junge. Er kaute an einem Grashalm und betrachtet die beiden Mönche mit gefurchter Stirn.

„Es ist wichtig“, bekräftigte Pavel.

„Na ja“, sagte der Junge. „Aber ihr seid aufm Holzweg, das sag ich euch.“

„Tatsächlich?“

„Ja. Meine Mutter is’ hier geboren. Die is’ nich’ von woanders gekommen. Die war schon immer hier.“

„Hm“, machte Pavel. „Uns wurde gesagt, es handle sich um deine Mutter.“

„Nee, nee.“

„Der ganze Weg umsonst. Gott prüft uns, Bruder Petr, hast du gehört?“

Buh, der zuerst seinen Namen nicht erkannte und vor sich hinbrütete, schreckte hoch und nickte theatralisch. Der Junge musterte ihn, wie er einen Bären gemustert hätte, den Gaukler an einem Nasenring hinter sich herzogen.

„Vielleicht meint ihr ja die alte Katka?“

Pavel blinzelte nicht. Bruder Tomás hatte ihnen nie die Namen der beiden Menschen genannt, denen er das Kind, das sie hätten töten sollen, stattdessen anvertraut hatte, um es in Sicherheit zu bringen. Der Knecht jedoch hatte geredet … nach jenen zwei Stunden, in denen Buhs Statur und Körperkraft zu einer Perversion ihrer selbst geworden waren. Katerina … Katka …

„Ich dachte, deine Mutter heißt Katerina.“ Pavel beschloss, die Scharade zu Ende zu spielen.

„Nee!“ Der Junge lachte. „Meine Mutter heißt … äh …“, er kratzte sich nachdenklich am Kopf, um einen Namen hervorzuholen, der nicht oft im Gebrauch war, „… Barbora.“

„Wir sind dir dankbar, dass du unseren Irrtum aufgeklärt hast, mein Sohn.“

„Ja?“

„Und wir können sehen, dass du ein kluger junger Mann bist.“

Buh grunzte und nickte. Der Junge beäugte ihn misstrauisch, dann wandte er sich wieder Pavel zu.

„Nun“, sagte Pavel. „Wir wollen kein Aufsehen erregen und euer friedliches Zuhause durcheinander bringen. Aber wir haben eine wichtige Botschaft für Katka. Ich könnte mir keinen Besseren vorstellen als dich, um sie ihr zu überbringen.“

„Ich muss aber nach …“

„Aber sicher musst du. Und Gottes Segen wird dich begleiten, wenn du zwei demütigen Dienern des Herrn vorher eine winzige Spanne deiner Zeit widmest.“

„Ja?“

Es tat Pavel weh, den Jungen so zu missbrauchen. Er sah sich selbst in diesem schmalen, zu klein gewachsenen, sehnigen Halbwüchsigen mit den schmutzigen Füßen und den wirren Haaren. So hatte er ausgesehen, als er seine Reise angetreten hatte, die ihn schließlich vor das Tor des Klosters in Braunau gebracht hatte. Aufgebrochen war er aus einem ähnlichen Weiler. Der Hauptunterschied war, dass der halbwüchsige Pavel schneller von Begriff gewesen war – und sich beeilt hätte, zwei Mönchen einen Dienst zu erweisen; immerhin war sein ganzes Trachten darauf ausgerichtet gewesen, selbst einmal die Kutte in Demut und Bescheidenheit und im Eifer für den Herrn zu tragen.

„Ja.“

„Ich muss aber dringend …“

„Und Gottes Segen wird dich begleiten.“

Der Junge starrte Pavel an. „Gilt das auch für meine kleine Schwester?“, fragte er schließlich.

Pavel war verwirrt. Der Junge deutete hinter sich.

„Meine kleine Schwester. So groß.“ Er deutete etwas an, das ein junger Hund hätte sein können. „Is’ erst ’n paar Tage alt. Vater sagt, sie macht’s nich’. Aber sie tut mir Leid. Vielleicht könnt ihr den Herrn bitten, dass er auf sie ’n bisschen aufpasst? Ich komm schon zurecht.“

„Wir werden für sie beten“, sagte Pavel und fühlte sich wie ein Ungeheuer. Das Ungeheuer erkannte, was nötig war, und verzog Pavels Gesicht zu dem Lächeln, von dem er wusste, dass es Steine schmelzen konnte.

Der Junge lächelte zurück. „Was soll ich sagen?“

„Wir haben eine Botschaft für sie. Von einem jungen Mann. Aus Prag.“

„Aus Prag!“, sagte der Junge beeindruckt.

„Er hat von dem Tuch geträumt, in dem er als Säugling getragen worden ist. Er hat von der Frau geträumt, die ihn getragen hat. Er möchte sich dafür bedanken, dass sie sein Leben gerettet hat.“

„Die alte Katka hat ’nen Sohn?“

„Nein. Es ist eine viel kompliziertere Geschichte.“

Der Junge sah ihn an und hatte offensichtlich große Lust, die viel kompliziertere Geschichte erzählt zu bekommen.

„Wenn du der alten Katka das sagst, können wir sofort für deine kleine Schwester beten.“

„Ah ja!“, sagte der Junge und wirbelte herum.

„Moment. Weißt du noch, was du sagen sollst?“

Der Junge wiederholte Pavels Worte mit der Präzision eines Menschen, dessen Phantasie viel zu unterentwickelt ist, um an einem ihm vorgegebenen Text Änderungen vorzunehmen.

„Gut. Sag ihr, wir warten in dem alten Ziegenstall am Waldrand. Sie wird schon verstehen, warum dies eine Sache ist, die nicht alle Leute hören dürfen.“

„Warum?“

„Nun wollen wir für deine Schwester beten.“

„Richtig!“ Der Junge wandte sich ab und lief zu den Gebäuden zurück. Pavel riss sich von seinem Anblick los.

„Los, schnell“, zischte er Buh zu. „Sie darf uns nicht sehen, bevor sie nicht den Stall betreten hat. Sonst flüchtet sie sofort vor unseren Kutten.“

„W… wa… was is…gnnnh… was is… dran falsch?“, würgte Buh hervor.

“Nichts!” Pavel winkte ab und zwang sich zu einem Lächeln. Buh zuckte mit den Achseln und lächelte zurück. Pavel packte Buh am Arm. „Beeil dich!“

Als Katka endlich kam – was viel länger dauerte, als Pavel erwartet hatte – rannte sie fast. Pavel hatte genügend Zeit gehabt, sich in dem kleinen, scharf riechenden Stall zu orientieren und einen Platz zu finden, an dem Buh sich wenn schon nicht verstecken, so doch im Hintergrund halten konnte. Sein baufälliger Anblick hatte den Stall von Ferne kleiner wirken lassen, als er war. Er musste die Ziegen und Schafe der gesamten Ansiedlung beherbergen, und dem Geruch nach zu urteilen erstreckte sich seine Gastfreundschaft auch auf das eine oder andere Schwein. Hühner scharrten in einem gesondert abgetrennten Pferch und beäugten die Neuankömmlinge mit dem Misstrauen, das sie Pavels Meinung nach auch verdient hatten. Während Buh im Schatten eines Heuhaufens saß und sehnsüchtig zu den Hühnern hinüberschielte in der Hoffnung, dass die Razzia von heute morgen ein Ei übersehen haben mochte, war Pavel nichts anderes übrig geblieben, als zu warten. Er war nervös hin- und hergewandert und hatte alle paar Momente nach draußen gespäht; durch das undichte Dach fielen Sonnenstrahlen, fingen sich im tanzenden Staub und bildeten Säulen aus Licht, in denen der unruhige Pavel als Schatten auftauchte oder zwischen ihnen in der Dunkelheit unsichtbar wurde. Ihm schien selbst, als vollführe er eine Wanderung zwischen Himmel und Hölle, und im wechselnden Licht wurde seine Erinnerung geweckt an jene eine lange Wanderung, die ihn schließlich und endlich hier in diesem Stall hatte ankommen lassen mit Absichten, die umso schwärzer waren, je reiner er ihre Motivation wusste. Jene Wanderung hatte ihn als Halbwüchsigen vor die Klosterpforte von Braunau geführt.

Als er dort angekommen war, hatte Pavel sich am Ziel aller Wünsche gewähnt. Am fünften Tag seines Verharrens vor dem Tor verstand er, was die erste Mönchsregel für den Eintritt neuer Brüder bedeutete: Prüfet die Geister, ob sie aus Gott sind.

Wenn es regnete, regnete es hartnäckig im Braunauer Talkessel. Die Wolken trieben von Westen her über den Riegel hinweg und sanken danach in das Braunauer Land, in ihrem weiteren Vormarsch nach Süden und Osten gehindert durch die bewaldeten Kuppen, die das Sterngebirge, die Heuscheuer und das Heidelgebirge ihnen entgegentürmten. Wenn sie diese Hindernisse überqueren wollten, mussten sie sich erleichtern, und das dauerte eine Weile. Wenn es regnete im Braunauer Land, regnete es immer ein paar Tage hintereinander.

Fünf Tage, um genau zu sein, dachte Pavel resigniert. Natürlich war all die Wochen zuvor schönes Wetter gewesen – ein Altweibersommer, der in einen goldenen Herbst überging, das Heu auf den Feldern von allein trocknen und die größeren Ansiedlungen – Braunau, Adersbach, Starkstadt – unter Staubglocken verschwinden ließ, während auf die Straßen, die sie und die vielen Dörfer verbanden, die Sonne herunterbrannte. Der Schweiß war über Pavels Körper nicht nur getropft, er war förmlich geronnen auf seiner Reise und hatte sein bisheriges Leben abgewaschen. In der Mühle von Liebenau hatte er angegeben, aus Schömberg zu stammen, als man ihm einen Schluck Wasser gegeben und nach seiner Herkunft gefragt hatte. In Buchwaldsdorf hatte er erklärt, der neue Lehrling des Müllers von Liebenau zu sein; in Lochau war er angeblich aus Buchwaldsdorf und in Weckersdorf angeblich aus Lochau gewesen, und was er von den Leuten in der jeweils vorherigen Ortschaft erfahren hatte, während er Wasser aus dem Dorfbrunnen schöpfte, hatte genügt, um ihn in der nachfolgenden Ortschaft zu legitimieren.

Schließlich hatte er vor dem schroffen Graben gestanden, der das Kloster und den Hauptteil der Tuchmacherstadt vom sanft auf sie zulaufenden Umland trennte, hatte die hölzerne Brücke darüber betreten und sich am Ziel seiner langen Reise gewähnt, die selbstverständlich auch in Schönberg nicht ihren Anfang genommen hatte. Es gibt Schicksale, bei denen auch noch so viele Schweißtropfen nicht reichen, um das bisherige Leben eines Vierzehnjährigen abzuwaschen.

Dies war das Ziel von Pavels Reise, in physischer wie in psychischer Hinsicht: das Kloster des heiligen Wenzel, gebaut auf dem Stadtfelsen Braunaus und in gewisser Weise längst selbst der Stadtfelsen geworden mit seinen festungsartigen Mauern, Türmen und Bollwerken.

Schließlich hatte Pavel an die Klosterpforte geklopft und dem faltigen alten Gesicht, das sich in der kleinen Luke gezeigt hatte, erklärt, er wolle die Welt hinter sich lassen und sein Leben dem Dienst an Jesus Christus und der Erlangung von Wissen widmen – was der Wahrheit entsprach –, und er sei zwanzig Jahre alt und seine Eltern mit seiner Wahl einverstanden – was beides gelogen war –, sein Elternhaus sei weit entfernt und seine Familie zu arm, um ihn mit einer Spende für das Kloster auszustatten – was wiederum stimmte –, und so erbitte er voller Demut, der Welt entsagen und ins Kloster eintreten und die niedrigsten Dienste verrichten zu dürfen, um seine Lauterkeit zu beweisen; das alles gefolgt von dem Lächeln, dessen Wirkung Pavel erstmalig als Zwölfjähriger erfahren hatte, als er bei einem Diebstahl im Haus des Gutsherrn ertappt und statt bestraft von der massigen Köchin in eine dunkle Ecke der Küche gezogen worden war, wo er sich den Ablass für seine Sünde zwischen zwei prallen Schenkeln erarbeitete und ganz nebenbei seine Unschuld verlor; er hatte als Zwölfjähriger schon wie sechzehn ausgesehen, genau wie er nun, mit vierzehn, ohne weiteres als Zwanzigjähriger durchging – kleiner und schmaler als der Durchschnitt, aber mit einem Gesicht, das seiner Zeit voraus gereift war.

Das Lächeln strahlte in das Gesicht des Klosterbruders, der durch die Luke schielte, prallte daran ab und starb, noch bevor es wusste, wie ihm geschehen war.

„Prüf deinen Geist, ob er aus Gott ist“, hatte der Klosterbruder gebrummt und die Luke geschlossen. Geschlossen war auch die Pforte geblieben.

In den fünf Tagen, die darauf folgten, hatten sich weitere Leidensgenossen um Pavel geschart. Im Herbst fanden sich regelmäßig mehr Bittsteller als sonst vor den Klosterpforten ein und baten um Aufnahme – der Winter stand bevor, die Gutsherren brauchten weniger Hilfsarbeiter und ihre Pächter wurden geiziger beim Teilen ihrer Vorräte mit Herumtreibern und Entwurzelten. Seit die Christenheit gespalten war und sich ganz handfest mit Armeen bekämpfte im Namen dessen, der gestorben war, um der Welt den Frieden zu bringen, waren die Aufnahmezahlen ohnehin höher als sonst; die saisonale Herbstspitze war dennoch spürbar. Die jungen Männer hatten sich wie Pavel in den dürftigen Schutz gekauert, den der Torbogen über der Klosterpforte bot, hatten kleine Dienste für die weltlichen und geistlichen Besucher des Klosters verrichtet, hatten die dünne Suppe geschlürft, die der Bruder Pförtner zweimal am Tag für sie herausbringen ließ, hatten seinen kurzen Ermahnungen gelauscht und ganz allgemein ihren Geist geprüft, während die Pfützen, in denen sie standen und saßen, immer tiefer wurden. Am Ende hatten sie alle bis auf Pavel und einen weiteren Jungen gefunden, dass ihr Geist nicht aus Gott stammte, und aufgegeben.

Der andere Junge hatte sich von Anfang an von allen fern gehalten. Mit der Zeit hatten sie festgestellt, dass das Ausmaß seiner Intelligenz den Vergleich mit seiner Körpergröße nicht aushielt. Vom Körperbau her war er ein Bär, der selbst unter Bären groß gewirkt hätte; doch er reagierte kaum auf irgendwelche Reize und sprach so gut wie nicht; die hauptsächlichen Geräusche, die aus seinem Mund kamen, waren das Rülpsen nach der Suppe und das Schnarchen in den Nachtstunden. Irgendwann hatte einer es lustig gefunden, sich leise von hinten an den Jungen heranzuschleichen, seine Lippen ganz nahe an dessen Ohr zu bringen und lauthals „Buh!“ zu brüllen. Der Junge schoss vor Schreck in die Höhe und sprang gegen die Klosterpforte, die zwar beachtlich erzitterte, ansonsten aber standhielt, rutschte daran herab und begann zu weinen. Die anderen nahmen um ihn herum Aufstellung und lachten und schrieen „Buh! Buh! Buh!“, bis Pavel unter sie trat und ihnen erklärte, was er davon hielt, einen Menschen zu necken, der die Arme um den Kopf geschlungen hatte und versuchte, sich in einer Schlammpfütze zu verstecken und Rotz und Wasser heulte. Pavel machte zu seiner Erklärung eine Miene, die nicht zu Widerspruch einlud. Er war kleiner als die anderen, aber ein Blick in sein Gesicht zeigte jedem halbwegs für stumme Signale Empfänglichen, dass sein Besitzer durch seine bisherige Lebensführung gut darin geübt war, seine Ansichten durchzusetzen. Der Junge war in Ruhe gelassen worden, wenngleich die anderen ab sofort einen Spitznamen für ihn hatten: Buh. In Ermangelung der Information, wie der Junge tatsächlich hieß, nannte auch Pavel ihn schon bald in Gedanken Buh.

Am fünften Tag, als er und Buh nur noch zu zweit waren, bekam Buh einen Hustenanfall, der länger dauerte, als Pavel die Luft anhalten konnte. Als er endlich verklang, lag der riesenhafte Junge auf dem Boden, rang mit bleichem Gesicht und blauen Lippen nach Atem und krümmte sich schaudernd vor Kälte zusammen – und Pavel verlor die Geduld. Er hämmerte gegen das Tor. Nach einigen Augenblicken ging die Luke auf und zeigte das Gesicht des alten Torhüters. Der greise Mönch musterte Pavel mit zusammengekniffenen Augen.

„Prüf deinen Geist, ob er aus …“, begann der Mönch und unterbrach sich dann. „Dich kenne ich ja“, murmelte er. „Schön, dass du immer noch hier bist. Dein Herz ist stark in der Demut.“

„Ich begehre Einlass“, sagte Pavel.

„Na, na …“, begann der Torhüter.

„Ich begehre Einlass, nicht in meinem Namen, aber im Namen der Barmherzigkeit. Ich begehre Einlass, aber nicht für mich, sondern für meinen Freund hier, der sich den Tod holen wird, wenn die Gemeinschaft von Braunau nicht einen Weg findet, unseren Geist mit einem Dach über dem Kopf zu prüfen!“

Das Gesicht des alten Torhüters erstarrte. Das war’s, dachte Pavel, da geht meine Hoffnung dahin in zwei unbedachten, ärgerlichen, zum falschen Zeitpunkt gesagten Sätzen. Dennoch fühlte er sich hitzig, aufgebracht und gut. Der Torhüter schlug die Luke zu.

Pavel drehte sich um. Buh hatte sich aufgerichtet und gegen den Torbogen gelehnt. Um seine Augen waren Schatten. Er sah resigniert zu Boden.

Die Klosterpforte schwang auf, und zwei Mönche traten heraus. Sie hatten Decken in den Händen. Der Torhüter folgte ihnen.

„Unser Dienst ist der Dienst am Herrn und seinen Geschöpfen“, sagte der Torhüter. „Wir verrichten ihn in Demut. Zur Demut gehört vor allem auch die Demut vor dem Wert des Lebens, und daher müssen wir sprechen, wenn wir es in Gefahr finden, und keine Mühe scheuen, um es zu schützen. Dein Herz ist stark, mein Junge. Ihr dürft eintreten.“

Die Gestalt bewegte sich voller Hast zwischen den Hütten des Weilers. Wenn sie noch schneller gewesen wäre, wäre sie gerannt. Pavel sah ihr mit leerem Blick zu, wie sie dem Weg aus der Ansiedlung heraus folgte und auf den Waldrand zusteuerte, den Oberkörper vorgebeugt, als kämpfe sie gegen Sturm an, die Beine in trippelnder Bewegung. Sie hastete die leichte Steigung hinauf. Am Waldrand gabelte sich der Pfad; der breitere Teil führte um den Wald herum zum Rest der menschlichen Zivilisation. Eine ausgetretene Spur brachte einen zum Ziegenstall. Die Gestalt blieb auf der Weggabelung stehen und verschnaufte. Der helle Fleck eines Gesichts wandte sich dem Stall zu. Pavel blinzelte und erkannte, worum es ging.

„Sie kommt“, zischte er über die Schulter zu Buh. Buh verkroch sich in sich selbst. Pavel fing seinen besorgten Blick auf und bemühte sich, ihn zuversichtlich anzulächeln. Er spähte wieder zur oberen Hälfte der Tür hinaus und schmiegte sich gleichzeitig an den Türpfosten, um nicht gesehen zu werden.

Die Gestalt hatte bereits ein gutes Stück von der Weggabelung zurückgelegt. Allerdings hastete sie in die falsche Richtung. Pavel starrte ihr ungläubig nach.

„Sie haut ab“, flüsterte er. Dann schrie er Buh zu: „Sie haut ab!“, doch zu diesem Zeitpunkt war er schon draußen und rannte mit pumpenden Beinen auf die Weggabelung zu.

Die rundliche Gestalt war eine ältere Frau. Sie hörte seinen Schrei und drehte sich um. Was er von ihrem Gesicht erkennen konnte, verzerrte sich. Sie versuchte, schneller zu laufen, und kam ins Stolpern. Pavel rannte, dass die Kutte flog. Wenn sie es auf die Straße hinaus schaffte, waren ihre Pläne dahin – so wie der Verkehr in den letzten Tagen gewesen war, würde sich irgendjemand in Rufweite befinden. Nicht, dass dieser irgendjemand eingegriffen hätte, wenn zwei Mönche eine alte Frau packten und in den Straßengraben zerrten, aber im nächsten Ort würde dieser Jemand eine Menge zu erzählen haben; und alles hing davon ab, dass Pavels und Buhs Mission geheim blieb.

Pavel hörte Buh hinter sich, der aufholte. Auf lange Strecken war Buh nicht zu schlagen; seine muskulösen Beine trieben ihn ungeachtet seines massigen Körperbaus vorwärts, und wenn er erst einmal in Fahrt war, zog ihn das schiere Gewicht vorwärts. Pavel war viel kleiner und viel leichter – es gehörte zu seinem Schicksal, dass er stets das Gefühl hatte, gar nicht von der Stelle zu kommen, wenn er lief.

Die Frau – Katka, daran konnte kein Zweifel bestehen – drehte sich erneut um. Pavel sah ihr ins Gesicht. Hass und Angst waren fast körperlich und trafen ihn über die Distanz hinweg. Katka versuchte zu beschleunigen, stolperte, und diesmal fiel sie zu Boden. Als sie auf die Beine zu kommen versuchte, war Pavel heran.

„Lass mich!“, kreischte sie. „Lass mich, du Teufel! Lass mich!“

„Wir tun dir nichts“, keuchte Pavel.

Sie warf sich auf den Rücken und krabbelte auf allen vieren von ihm weg, ins Dickicht neben der Straße. Ihre Füße traten nach ihm. Er versuchte einen zu packen und verlor ihn wieder, erhielt einen Tritt gegen die Schulter und einen zweiten gegen das Knie.

„Lass MICH LOS!!“

„Halt dich ruhig, wir wollen doch nur …“

„Teufel! Teufel! TEUFEEEEL!!“

Pavel griff erneut zu. Ein Fuß in einem abgelatschten Lederschuh schoss nach oben. Pavel riss den Kopf beiseite. Der Tritt schrammte über seinen Wangenknochen und trieb Tränen in seine Augen. Katka wühlte sich rückwärts in das Dickicht hinein. Sie kreischte wie von Sinnen. Ihr Gesicht war dunkelrot und ihr Blick irr. Jeden Moment würden die wenigen Leute, die im Weiler zurückgeblieben und nicht auf die Felder gezogen waren, herauskommen und nachschauen, wer solchen Lärm machte.

„Heiliger Wenzel!“, zischte Pavel und machte einen Satz ins Gebüsch, um ihr den Mund zuzuhalten. Sie strampelte. Pavel fühlte eine Schuhspitze, die sich in seine Weichteile grub, und erstarrte; dann fühlte er den Tritt wirklich und sank langsam zu Boden. Er hörte sich selbst grollen, während die Welt im Nebel versank und zu rotieren begann, wobei der Mittelpunkt in seinem zerquetschten Hodensack lag. Katka verstummte; er hörte das Rascheln und Knacken, mit dem sie sich vorwärts kämpfte, und ihr triumphierendes Ächzen, als sie auf der anderen Seite ins Freie unter die höher gewachsenen Bäume gelangte.

Dann war Buh heran und flog durchs Dickicht, und wo Katkas Strampeln gebrochene Zweige hinterlassen hatte, war nun plötzlich eine Schneise, in der es frische junge Blätter regnete. Pavel vernahm Katkas Entsetzensschrei und Buhs Stammeln: „B… b… bi… gnnn… bitte!“

Aufzustehen war eine Heldentat. Pavel versuchte Luft zu bekommen und taumelte in Buhs breiter Spur in den Wald hinein. Seinen Leib überrollten Wogen von Übelkeit. Er schlang die Arme um den Körper. Er sah Buh, der neben Katka auf den Knien lag und ihre Schultern mit beiden Händen auf den Boden drückte. Sie starrte ihn an, von der Angst stumm gemacht. Pavel wusste, dass unter dem sanften Druck von Buhs Händen rohe Eier heil geblieben wären. Er hörte eine Stimme, die aus den Tiefen eines Brunnens kam und beim Heraufkommen durch Feuer, Eis und schnappende Reisszähne hatte hindurch müssen. Dass es seine eigene Stimme war, erkannte er nur daran, dass sie das sagte, was er hatte sagen wollen.

„Dir geschieht nichts, Katerina. Wir wollen dich nur etwas fragen …“

WOCK! Ein durchgehender Stier rammte Pavel und schickte ihn erneut zu Boden. Pavel dachte, er würde zerbrechen. Der Stier fiel über ihn her und drosch und trat ihn. Die aufgeschrammte Stelle auf seiner Wange flammte auf; ein Ohr wurde zu Brei geschlagen; in seinen Magen grub sich der Rammbock eines Belagerungsheers. Verspätet riss er die Arme hoch und wehrte die nächsten Schläge ab.

„Verschwindet!“, keuchte der Stier. „Mörderbande! Verschwindet! Lasst sie in Ruhe.“

Das Gewicht verschwand. Das Schimpfen ging weiter. Pavel mühte sich, seinen Blick zu fokussieren. Er sah eine zappelnde Gestalt, die in Buhs Armen hing. Buhs Blick war gehetzt. Die Gestalt spuckte Gift und Galle.

„Ich scheiß auf euer Gebet!“, schrie sie. „Was wollt ihr von Katka? Lasst sie in Ruhe!“

„Wir wollen ihr nichts tun, Junge, wir wollen sie nur etwas fragen …“ Pavel hatte das Gefühl zu lernen, wie schwer es Buh jeden Tag fiel, Silben aneinanderzureihen.

„Scheiße!“, schrie der Bursche. Er trat um sich und erwischte Buh am Knie. Buh riss die Augen auf und knickte ein. Sein Griff ließ nach, und der Junge wand sich heraus und sprang auf die Straße zu. Pavel angelte verzweifelt nach seinem Fuß und brachte ihn zu Fall. Dann war Buh wieder da und packte den Jungen erneut.

„Katka!“, rief der Junge. „Ham sie dir was getan? Ich dacht, ich geh dir nach, weil du mir die Tür so vor der Nase zugehau’n hast …“

„Sie ist in Ordnung!“, sagte Pavel aufgebracht. „Halt den Mund, sonst hält Buh ihn dir zu.“

„B… b… gnnn… bitte!“

„Lasst den Jungen gehen“, sagte Katka matt.

Die Augen des Jungen verengten sich, aber Pavel hatte es auch schon gehört: Stimmen, die aus dem Weiler heraufdrifteten. Pavels Gedanken begannen sich zu überschlagen.

„HIIIILFEEEE!“, schrie der Junge aus Leibeskräften. Er strampelte wie verrückt in Buhs Griff. Buhs große Hand presste sich auf seinen Mund. Der Junge bewegte sich so wild, dass Buh ins Stolpern kam und auf ein Knie sank. Seine Hand verrutschte. Die Zähne des Jungen gruben sich hinein. Buh ächzte. Er riss den Jungen zu Boden und drückte ihm wieder die Hand auf den Mund. Der Junge wehrte sich weiter, hielt aber endlich still, als Buh sich wirklich auf ihn lehnte. Der riesige Mönch sah verzweifelt aus.

„Sie erwischen euch!“, zischte Katka. „Dann steinigen sie euch.“

Die Stimmen aus dem Weiler kamen heran. Pavel sah sich plötzlich selbst, in seinem früheren Leben, die magere Beute irgendeines Diebstahls in den Händen, irgendwo in die Enge getrieben, während sich draußen die Meute mit Prügeln, Mistgabeln und einem Strick näherte. Angst schoss in ihm hoch. Erstaunt erkannte er, dass es hauptsächlich Angst um Buh war. Er hatte ihn mit hineingezogen; wenn ihm etwas zustieß, würde es ganz allein Pavels Schuld sein.

„Ihr seid widernatürlich!“, spuckte Katka. Man hört den alten Tomás reden, dachte Pavel zusammenhanglos.

„Gnnn…gnnnn…!“, machte Buh, der den Jungen noch immer zu Boden drückte. Es sah fast wie eine Umarmung aus.

„Hallo?“, kam eine Stimme vom Weg her. Sie war leise, aber sie war nicht mehr weit genug entfernt, als dass sie sich hätten tief in den Wald zurückziehen können.

„Haltet euch still“, hörte Pavel sich sagen. „Ganz still! Ich regle das.“

„Ich brauche nur zu schreien“, sagte Katka.

„Und Buh braucht nur zuzudrücken. Wir wollen niemandem wehtun. Aber wir tun es, wenn wir müssen. Hast du das verstanden?“

Die alte Frau öffnete den Mund, doch dann warf sie einen Blick zu Buh und dem Jungen hinüber. Sie biss die Zähne zusammen.

„Ihr lasst ihn gehen!“, flüsterte sie.

„Wir lassen euch beide gehen“, sagte Pavel. Er bohrte seinen Blick in Katkas Augen. Sie wandte sich ab und senkte den Kopf.

„Buh!“

Der Riese blickte auf. Sein Gesicht war waidwund.

„Halt den Burschen ganz fest. Wir haben eine Chance. Er darf nicht schreien, hörst du? Auf keinen Fall! Kriecht dort hinter den umgefallenen Baum. Schnell!“

Buh nickte. Seine Augen flackerten, und auch er wich Pavels Blick aus. In Pavel krampfte sich etwas zusammen. Buh schleifte den Jungen mit sich hinter den Baumstamm. Katka folgte ihm auf allen vieren.

Pavel trat in die Schneise hinein, die Buhs Vordringen geschaffen hatte. Von draußen vernahm er das Murmeln der Leute, die sich näherten. Er sah sich hastig um. Am Rand der Schneise stand, von Buh nur gestreift, eine verfilzte Mischung aus Hundsrose und Schlehe. Die Rose hatte sich in die Schlehe verkrallt; die Dornen der einen und die Stacheln der anderen starrten nach allen Richtungen wie eine Verteidigungsformation von Landsknechten. Pavel schluckte. Er breitete die Arme aus, öffnete den Mund, schrie aus Leibeskräften: „HIIIIILFEEEE!“ und ließ sich in das mörderische Gestrüpp hineinfallen.

Die Kutte fing einiges auf; sein Kopf und seine Hände waren schlimmer dran. Er spürte, wie die Dornen und Stacheln seine Kopfhaut dort, wo sich seit der Abreise aus dem Kloster ein dünner Flaum auf der Tonsur gebildet hatte, aufschlitzten. Etwas riss ihm fast ein Ohr ab, sein Nacken und seine Wangen wurden aufgekratzt. Links bohrte sich ein langer Stachel unter die Haut seines Handrückens, schob sich eine halbe Handspanne weit darunter und brach ab. Der Schmerz war wie ein Feuerstoß. Dann lag er in den Ästen und Zweigen und stöhnte. In seinen Augen standen Tränen. Er versuchte die linke Hand zu drehen, um nachzusehen, wie monumental der Schaden war, aber er hing in den Dornen fest wie in einer Fessel.

Drei Gesichter schoben sich in sein Blickfeld. Sie verzogen sich vor Überraschung, dann vor Anteilnahme.

„Au!“, sagte eines.

„Au Mann, Bruder, wie bist du denn dort reingekommen?“, sagte das zweite.

„Hast du so geschrieen?“, fragte das dritte.

Es waren drei ältere Männer mit wettergegerbter Haut, ledrigen Falten, Stoppelbärten und vereinzelten Zahnruinen in staunend offenen Mündern. Es waren die Sorte Männer, die man von der Feldarbeit aussparte und im Dorf oder dem Weiler ließ, weil sie für die Arbeit draußen schon zu langsam waren, aber um auf die Feuer, die Tiere und die kleinen Kinder aufzupassen immer noch genügend Verstand und Kraft besaßen. Es wäre Buh nicht schwer gefallen, sie alle drei kampfunfähig zu machen, aber es hätte eine weitere Sünde auf dem Gewissen des Riesen bedeutet, und es hätte ihr Hiersein und ihre Mission noch mehr kompromittiert.

„Helft mir“, ächzte Pavel.

Die Männer sahen sich nach abgebrochenen Ästen um, ermaßen dabei die Schneise und nickten anerkennend. Schließlich fanden sie, was sie suchten, drückten die dornenbestückten Äste beiseite und streckten die Hände aus, um Pavel herauszuziehen. Pavel versuchte nicht zu schreien und versagte. Als sie ihn hinstellten, knickten seine Knie ein. Seine linke Hand brannte und tobte. Das Blut war über sein Handgelenk und in den Ärmel geronnen wie bei Darstellungen des Gekreuzigten. Der Stachel war eine fast fingerdicke, blaurote Erhebung, die unter der Haut quer über den Handrücken verlief; er ragte eine Daumenbreite aus der Eintrittswunde. Pavels Magen drehte sich um.

„Au“, sagte der eine der alten Männer nochmals. Pavel fühlte an einem Dutzend Stellen an Kopf, Gesicht und Nacken kleine Blutrinnsale.

„Das musst du rausmachen, Bruder.“

„Sieht so aus“, sagte Pavel schwach.

„Soll’n wir dir helfen?“

„Ich bitte darum.“

Die Männer sahen sich an. Einer zuckte mit den Schultern. Sie nötigten Pavel, sich am Waldrand hinzusetzen. Pavel war alles recht, solange es sie nur davon abhielt, der Schneise zu folgen. Der umgefallene Baum lag keine zwanzig Schritte von hier entfernt, halb unsichtbar hinter dem Vorhang der Hecke, aber dennoch weniger als einen Steinwurf weit. Pavels Herz klopfte. Einer der Männer zog ein Messer mit einer so kurzen Klinge heraus, dass feststand, es war nur ein Bruchstück eines größeren Dolchs, der vermutlich noch zu drei, vier anderen Messern geführt hatte. Eisen war immer kostbar. Der Besitzer des Messers starrte von Pavels Hand zu seinem Instrument und zurück. Pavel sah die Flecken und die Fettschmiere auf der kurzen Klinge; offenbar hatte das Messer vor kurzem noch dazu gedient, Fleisch oder Speck abzuschneiden. Der Mann hob das Messer, leckte es sorgfältig ab und wischte danach mit der Klinge unter seiner Achsel hindurch. Schließlich legte er Pavels linke Hand auf sein Knie, nagelte sie mit seiner eigenen Linken fest – der geübte Griff eines Mannes, der strampelnde Jungtiere ebenso halten konnte wie einen erregten Schafbock, der zu einem Schaf geführt wurde – und setzte die Klinge sanft auf Pavels Handrücken. Pavel schaute weg und spannte alle seine Muskeln an.

„Was is’n einglich hier passiert?“, fragte einer der anderen und pflückte mit nachdenklichem Gesicht einen Dorn aus Pavels Kopfhaut. Pavel zuckte zusammen und wartete auf den Schnitt, der seine Handfläche entlang des eingedrungenen Stachels aufschlitzen würde, damit man den Stachel herausheben konnte. Ihn herauszuziehen hätte die Wunde noch schlimmer aufgerissen. Pavel wusste das; dennoch war ihm schlecht.

„Ein Hirsch“, sagte er. „Kam plötzlich aus dem Wald und sah mich.“ Er produzierte ein Lachen, das falsch klang, was den drei Männern aber für Pavels Lage nur natürlich schien. „Er erschrak wohl genauso wie ich. Er brach da durch zurück in den Wald und stieß mich in den Dornenbusch.“

„Was hast’n da gemacht, Bruder?“

Pavel ahnte, dass falsche Zurückhaltung fehl am Platz gewesen wäre, wenn er wollte, dass sie seine Geschichte glaubten. Nur zwanzig Schritte trennten sie von der Entdeckung Buhs und seiner Gefangenen, von einem Strick um den Hals oder der Steinigung. Er machte ein tragisches Gesicht.

„Mich gerade zum Kacken hingehockt“, sagte er.

Die drei Männer sahen ihn verblüfft an. Dann begannen sie zu lachen.

„Fertig geworden?“

„Noch nicht mal angefangen“, sagte Pavel.

Die drei alten Männer brüllten vor Heiterkeit. Einer schlug Pavel auf die Schulter und trieb einen Dorn, der in der Kutte hängen geblieben war, in seinen eigenen Handballen. „Autsch, verdammt!“ Er räusperte sich. „Tschuldigung, Bruder.“

„Nein, mein Sohn“, sagte Pavel, der zwanzig Jahre jünger war als der jüngste von ihnen. „Du hast ganz recht: Verdammt!“

„War’s ’n großer Hirsch?“, fragte der Mann mit dem Messer.

„Riesig“, sagte Pavel.

„Großes Geweih?“

Pavel sah dem Mann ins Gesicht. „Warum fragst du?“

„Fleischvorrat“, sagte einer der anderen. „An so ’nem Riesenvieh können alle ’ne Woche essen.“ Er zwinkerte. „Vorausgesetzt, der Grundherr merkt’s nich’, dass wir ihn erlegt haben.“

Das Messer lag immer noch leicht auf der Eintrittswunde des Stachels. Pavels Hand glühte und pochte. Die Schmerzen an den anderen Stellen, an denen er sich aufgerissen oder gestochen hatte, verblassten dagegen zu nichts. Seine Augen wurden immer wieder mit kranker Faszination zu seiner Verletzung hingezogen und zu dem ruhigen, unbeweglichen Messer.

„Im März“, sagte Pavel langsam, „haben die Hirsche kein Geweih. Das haben sie im Herbst vorher abgeworfen. Die Rosenstöcke waren zu sehen.“

Der Mann mit dem Messer machte eine leichte Bewegung mit den Fingern, und einen schwindelnden Moment lang sah Pavel, wie die gespannte Haut über dem eingedrungenen Stachel sich von dem Fremdkörper zurückzog und ihn freigab. Ein Flicken mit dem Messer, und der Stachel löste sich aus seinem Fleisch und fiel zu Boden. Die Rinne füllte sich mit Blut und lief über. Erst dann kam der Schmerz. Pavel hätte gedacht, dass er nicht schlimmer werden konnte, aber er hatte sich geirrt. Er stöhnte.

Der Mann mit dem Messer packte Pavels andere Hand und drückte sie auf die Wunde, um der Blutung Einhalt zu gebieten. Pavel krümmte sich über seiner linken Hand zusammen.

„Kennst du Spitzwegerich, Bruder?“, fragte der Mann.

„Ja“, ächzte Pavel. „Hilft bei offenen Wunden … Blätter zerkauen und Brei auf die Wunde … mit unzerkautem Blatt fixieren … Herr im Himmel, tut das weh!“

„Du kennst dich aus, Bruder“, sagte der Mann mit dem Messer und stand auf. „Was suchst’n hier bei uns?“

„… auf Wanderschaft“, sagte Pavel.

„Franziskaner? Kapuziner?“ Das Messer deutete, mit dem Griff voran, auf Pavels unbekannte Kutte. Von allen tumben Bauern, dachte Pavel erbittert, muss ich auf den stoßen, der offensichtlich ein wenig in der Welt herumgekommen ist. Seine Gedanken machten Bocksprünge.

„Benediktiner“, sagte er schließlich wahrheitsgemäß. „Ich tue Buße, daher die schwarze Kutte.“ Der zweite Teil seiner Aussage war gelogen, doch er verließ sich darauf, dass der Mann wenigstens das nicht wissen konnte. Ein Benediktinermönch im Stadium der Buße würde nicht in die Welt draußen ziehen, sondern niedere Dienste in der Gemeinschaft verrichten, bis der Abt und die Brüder ihn wieder in Gnade aufnahmen.

„Wolltest du zu uns kommen?“

„Nur für eine Nacht … Es gehört zu meiner Buße, Dienste zu verrichten.“

„Was willst’n für uns tun?“

„Was habt ihr?“

„Barboras Kind liegt im Sterben, vielleicht kannst du da was tun, Bruder.“ Der Bauer zuckte mit den Schultern. „Sonst … mit der Pfote kannst du nich’ mal helfen, die Jauche auszubringen.“

„Ich danke euch“, sagte Pavel.

„Komm, wir helfen dir runter.“

„Nein, nein … ich … ich muss noch beten. Lasst mich hier meine Gebete verrichten und Gott danken, dass Er mir den Hirsch geschickt hat, um meine Buße zu vergrößern, und euch, um mir zu zeigen, wie gütig Er ist. Ich komme am Ende des Tages zu euch.“

„Soll’n wir dir was zu essen bringen?“

„Nein, fasten gehört zu meiner Buße.“ Pavel brachte es nicht übers Herz, zur Lüge auch noch die Beleidigung hinzuzufügen, indem er den Bauern ihr Brot nahm, ohne eine Gegenleistung zu erbringen – oder jedenfalls keine, die willkommen gewesen wäre. Er dachte an den Jungen und die alte Katka in der Deckung hinter dem Baum. „Aber vielen Dank.“

„Na, dann …“, sagten die Männer. Sie zögerten. Pavel brachte sein strahlendes Lächeln zustande. Die drei lächelten zurück.

„Pass auf dich auf, Bruder“, sagte einer.

„Und vergiss nich’ zu kacken. Jetzt kommt kein Hirsch mehr.“

„Nein, ich glaube nicht“, sagte Pavel.

„Denk an den Spitzwegerich“, sagte der Mann mit dem Messer.

Pavel nickte. „Gott behüte euch.“

Sie nickten und marschierten langsam zum Weiler zurück. Pavel sah ihnen hinterher, bis sie in verschiedene Hütten eintraten und nicht wieder herauskamen. Wacklig kämpfte er sich auf die Füße, stolperte zu dem umgefallenen Baum hinüber und hockte sich dahinter schwer auf den Boden. Buh hatte auf Sicherheit gesetzt und hielt dem Jungen immer noch die Hand vor den Mund. Der Junge hatte sich Buhs überlegenen Kräften ergeben und starrte ins Leere; er fand es nicht einmal der Mühe wert, Pavel einen hasserfüllten Blick zuzuwerfen. Katka tat sich in dieser Hinsicht keinen Zwang an.

„Wir werden es so machen“, sagte Pavel. Er drängte die Erschöpfung zurück, die sich plötzlich auf ihn legen wollte. „Du beantwortest uns unsere Fragen. Danach lassen wir dich in Ruhe. Den Jungen nehmen wir mit und geben ihn, wenn wir genügend Strecke zwischen uns und hier gebracht haben, frei. Er kann dann zurücklaufen. Mein Wort darauf.“

„Auf dein Wort ist geschissen“, sagte Katka. „Monster!“

„Nicht alles, was der alte Tomás dir damals gesagt hat, muss stimmen.“

„Ich hab gesehen, was mit den Franzosenweibern geschehen ist damals. Das war einer von euch.“

Pavel antwortete nicht. Katka kämpfte mit sich und seufzte schließlich. „Tut ihm nichts“, bat sie. „Er ist der Sohn meiner Schwester.“

„Barbora ist deine Schwester?“

„Darum bin ich seinerzeit hierher zurückgekommen“, sagte Katka.

„Zurückgekommen? Von wo?“

„Prag.“

„Prag?“

„Wenn ich euch alles erzähle, kommt ihr dann nie wieder hierher?“

„Ich verspreche es. Auch wenn du auf mein Wort nichts gibst.“

„Schwör’s beim heiligen Benedikt.“

„Ich schwöre“, sagte Pavel ohne zu zögern.

„Sag dem Riesen, er soll den Jungen loslassen.“

Pavel schüttelte den Kopf. „Er ist mir zu unberechenbar. Erzähl, was du zu erzählen hast.“

„Was soll’s“, sagte Katka. „Ihr werdet sie ohnehin niemals finden.“

„Wer ist ‚sie’?“

„Das Kind. Das Mädchen, das Bruder Tomás hätte töten lassen sollen, wenn es nach dem Ungeheuer von Prior gegangen wäre.“

„Das Kind war ein Mädchen?“

„Was weißt du überhaupt, du Schwarzkutte?“, sagte Katka verächtlich. „Daran hab ich gemerkt, dass deine Geschichte faul ist. Dass du von ’nem jungen Mann gesprochen hast.“

„Ich weiß, dass ich die Arbeit des Herrn tue, auch wenn du es nicht glaubst.“

„Pah!“ Katka spuckte auf den Boden.

„Sprich“, sagte Pavel und presste die verletzte Hand gegen seinen Leib. Er hätte sich am liebsten hingelegt und geschlafen. Buh hatte die Augen halb geschlossen; der Junge hatte seinen ausdruckslosen Blick auf Pavel gerichtet oder schien vielmehr durch ihn hindurch zu sehen. Pavel erschauerte. „Sprich“, sagte er nochmals. „Lass uns das hier hinter uns bringen.“

Dies war Katkas Geschichte: Bruder Tomás hatte getan, was der Gehorsam ihm befohlen hatte; er hatte zwei Menschen ausgesucht, eine junge Frau – Katka – und einen jungen Mann – den Knecht –, hatte ihnen das Kind anvertraut und einen Beutel mit Münzen. Dann hatte er gegen den Gehorsam verstoßen und ihnen gesagt, sie sollten das Kind in Sicherheit bringen.

Wohin, Bruder?

Nach Prag. Die Stadt ist groß. Seine Spur wird sich dort verlieren.

Wir tun, was wir können, Bruder.

Gott der Herr und der heilige Benedikt werden euch beschützen.

Katka hatte das Kind wie ihr eigenes angenommen; ihr Kind war nach der Geburt gestorben, und zu der Trauer kam die Milch hinzu, die sie plagte. Das Kind trank wie jemand, der wusste, dass ihm Strapazen bevorstanden. Der Rest verlief nicht so glatt. Der Knecht begleitete Katka bis hinter Kolin, dann war er eines Nachts verschwunden, und mit ihm das Geld. Katka wusste, dass der Mann in Kolin Verwandte hatte. Ihm in die Stadt zu folgen, war sinnlos. Er würde alles abstreiten, einschließlich der Tatsache, dass er sie jemals gesehen hatte, und seine Verwandten würden, selbst wenn sie die Wahrheit kannten, hinter ihm stehen. Immerhin ging es um das Geld, das er mitgebracht hatte. Sie überlegte, ob sie seine Annäherungsversuche nicht stets hätte zurückweisen sollen und was schlimmer war: sich von einem Mann bestrampeln zu lassen, der sich ihr aufgedrängt hatte, oder alleingelassen mit dem Kind zusammen im Straßengraben umzukommen? Katka biss die Zähne zusammen. Sie wusste, dass ein, zwei Tage weiterer Fußmarsch sie zu dem Weiler bringen würde, in den ihre Schwester eingeheiratet hatte. Fußmärsche waren nichts Besonderes, und tatsächlich war sie noch nicht einmal aus der Grafschaft herausgekommen – aber sie war noch von der Geburt und den nachfolgenden Tagen vergeblichen Bangens geschwächt; es war November, der Regen bitterkalt, die Straße war nicht sicher, und sie war eine junge Frau. Sie hätte sich von ihrem Begleiter vergewaltigen lassen sollen, er hatte wenigstens echtes Interesse an ihr gehabt und hätte dem Kind nichts angetan. Mit diesen Gedanken kam sie zu ihrem eigenen Erstaunen unbeschadet bis nach Neuenburg.

„Ich bewundere deine Stärke“, sagte Pavel.

„Ich scheiß drauf“, sagte Katka.

In Neuenburg hatten sie die Kräfte verlassen. Die Milch begann zu versiegen, das Kind wurde immer stiller und blasser. Sie hatte ihm keinen Namen gegeben; sie hatte es nicht übers Herz gebracht. Ihr eigenes Kind hatte sie nach ihrer eigenen Großmutter Yolanta nennen wollen; ihre Großmutter war ursprünglich aus dem Herzogtum Luxemburg gekommen, aber von dort nach Osten ausgewandert, und hatte ihrer Enkelin immer wieder die Geschichte ihre Namenspatin erzählt, der Prinzessin Yolande, die um ein Leben im Kloster gekämpft hatte. Etwas in ihr weigerte sich jedoch, diesen Namen an den Findling weiterzugeben, der ihr anvertraut worden war. Natürlich war da der Gedanke, das Kind einfach selbst zu behalten, doch sie war ehrlich zu sich selbst: war sie nicht trotz aller Trauer auch ein wenig erleichtert gewesen, als ihr eigenes Kind gestorben war? Es hatte eine Zeit gegeben, in der zwei junge Männer in Podlaschitz um sie geworben hatten, während der Rauhnächte, in denen die Menschen in immer wechselnden Häusern zusammentrafen, Geschichten erzählten, wenn draußen die unheimlichen Gestalten des Jahreswechsels umgingen, tranken, sich zulächelten … die Kaminfeuer brannten, bis die simplen Räume der Bauernkaten vor Hitze brüllten … bis die jungen Leute sich genügend Mut angetrunken hatten, um in die Ställe zu schleichen, weil es ja möglich war, dass es stimmte: dass die Tiere in den Rauhnächten sprachen und die Zukunft vorhersagten. Katka war in zwei aufeinander folgenden Nächten schwach geworden, erst mit dem einen, dann mit dem anderen. Die Tiere hatten ihr nicht vorausgesagt, dass dies damit enden würde, dass sie neun Monate später in Schande über die Dorfstraße ging, dass sie wenig später ihr eigenes Kind zu Grabe tragen musste und dass sie mit einem fremden Kind, das an ihren Brüsten hing, aus ihrer Heimat floh.

In Neuenburg hatte sie ihre Scham überwunden und zu betteln begonnen. Der vermutlich letzte Warentreck dieses Jahres hatte dort Station gemacht, umfangreich genug, um ihr den Gedanken einzugeben, dass sein Besitzer ein wohlhabender Mann war. Der Mann zeigte sich nicht nur wohlhabend, sondern auch großzügig. Er lud Katka ein, sich an seinen Tisch zu setzen, als er ihre nur leicht verfälschte Geschichte gehört hatte; darin war das fremde Kind ihr eigenes, aber die Schande der Geburt war geblieben; und der feige Knecht der Vater, aber dass sie theoretisch wusste, wohin er sich gewandt hatte, verschwieg sie. Der Mann hatte das Kind nur einmal kurz angeschaut und eine nichts sagende Bemerkung gemacht; Katka nahm ihm sein Desinteresse nicht übel.

Es zeigte sich, dass das Zusammentreffen ein Glücksfall für Katka war. Der Mann bot ihr an, im Schutz seines Trecks nach Prag mitzukommen.

„Und dort?“, fragte Pavel atemlos.

Katka zuckte mit den Schultern. „Er hat mir geholfen, es in ’nem Findelhaus unterzubringen, und sogar noch gespendet, damit die Schwestern dort es besser behandeln als die anderen. Er sagte, ein Kind, das all das überlebt hat, was ich ihm erzählt hatte, ist von Gott geliebt, und er will das seine tun, damit es ’ne Zukunft hat. Er sagte, es gibt ’ne Menge gute Leute auf der Welt, die immer wieder Kinder aus Findelhäusern holen und in ihre eigenen Familien bringen, und vielleicht klappt das hier auch.“

„Ist das geschehen?“

„Weiß ich nich’. Ich hab mich bei ihm bedankt, der Kleinen Lebwohl gesagt und bin gegangen.“

Pavel spürte den Schmerz, den die alte Frau vermutlich sogar vor sich selbst verheimlichte. In seinem Hals war ein Kloß. Er konnte keine Rücksicht darauf nehmen.

„Du weißt nicht, was aus ihr geworden ist?“

„Sag ich doch.“

Pavel schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, was er erwidern sollte. Er wechselte einen Blick mit Buh, der nicht reagierte.

„Welches Findelhaus war das? In Prag gibt es bestimmt mehrere.“

„Weiß ich nich’. Es war irgendwie außerhalb der Mauern, daran erinnere ich mich, direkt am Fluss. Irgendein Schwesternorden hat es geführt. Er sagte, dass die anderen Findelhäuser von den Prager Behörden kontrolliert werden oder so, aber dass dort, wo die Schwestern waren, keiner fragen würde, was das für’n Kind wäre und warum wir es nich’ selber behielten und so Sachen.“

„Ein Haus für die Kinder gefallener Frauen“, sagte Pavel. „Nur dort fragt keiner nach. Der Kaufmann war ein kluger Bursche.“

Katka reagierte nicht. Sie atmete aus und spuckte erneut auf den Boden.

„Das war’s“, sagte sie. „Ich will jetzt gehen.“

Pavel sah durch sie hindurch. „Wir müssen nach Prag“, sagte er. „Ich hatte gehofft, es wäre nicht nötig, aber wir müssen nach Prag.“

„Ich will jetzt gehen.“

Pavel bemühte sich, sich auf die alte Frau zu konzentrieren. Die Erkenntnis, dass sie immer noch am Anfang standen, hatte ihn erschüttert. Er durfte den Mut nicht verlieren. Es stand zu viel auf dem Spiel.

„Gut“, sagte er. „Es geschieht wie folgt: wir gehen los und nehmen deinen Neffen mit. Wir lassen ihn später frei, wie versprochen. Er wird hierher zurückkommen, in dieses Versteck. Ihr könnt dann gemeinsam in euren Weiler zurückkehren. Ich möchte, dass du dich vorher nicht von der Stelle rührst, verstanden?“

„Wie lange wird das dauern?“

„Bis zum Einbruch der Dämmerung … Es kommt darauf an, wie schnell wir auf der Straße vorwärts kommen und wie schnell er zurückläuft.“ Pavel lächelte. An Katka war seine Mühe verschwendet.

„Ich hab’ wohl keine Wahl“, brummte sie.

„Wenn du nach unserem Weggang deine Leute alarmierst und sie uns verfolgen, ist der Junge tot.“

„Hab ich schon verstanden. Schweinekerl!“

Pavel stand auf. „Buh, nimm den Jungen mit. Lass ihn nicht entkommen. Lebwohl, Katka. Ich möchte dir noch mal sagen, dass du meine Hochachtung hast.“

„Steck dir deine Hochachtung wohin“, sagte Katka.

Sie stolperten quer durch den Wald davon in die Richtung, in der Pavel die Straße vermutete. Der Junge hielt sich in Buhs Armen still, nicht zuletzt, weil Buh ihm immer noch den Mund zuhielt. Buhs Gesicht war dunkel und wie aus Stein, und er sah Pavel nicht an. Pavel trottete ihm voran, unglücklich und ratlos, wie es in Prag weitergehen sollte. Mehrmals drehte er sich um und sah Katka, die regungslos auf dem Boden saß und ihnen nicht hinterhersah. Schließlich verschwand ihr Anblick zwischen den Bäumen und hinter einigen Bodenwellen. Pavel blieb stehen.

„Ich habe kein gutes Gefühl“, sagte er zu Buh. „Wir hätten sie fesseln sollen.“

Buh grunzte etwas. Pavel ballte die gesunde Hand zur Faust. „So wie den Knecht“, sagte er. „Da bin ich auch noch mal zurückgegangen und habe ihn gefesselt, für alle Fälle. Wir hätten das hier auch tun sollen.“ Er sah Buh an. Buhs Blick war nicht zu lesen. Pavel gab sich einen Ruck.

„Ich gehe noch mal zurück“, sagte er. „Sicher ist sicher. Warte hier.“

Buh gab keine Antwort. Pavel wandte sich ab und schritt so schnell er konnte zurück zu ihrem Versteck. Seine linke Hand war starr; er konnte sie nicht verwenden, so wie er es in Kolin im Haus des ehemaligen Knechts getan hatte. Nur seine Rechte funktionierte. Er hob einen abgebrochenen Ast vom Boden auf, ohne innezuhalten. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, dass Buh ihn schon nicht mehr sehen konnte. Er schwang den Ast durch die Luft – hartes, luftgetrocknetes Holz, unterarmdick, ein paar Borkenreste verrieten seine Herkunft von einer Eiche. Der Ast pfiff, als er ihn schwang.

Katka sah auf, als sie ihn herankommen hörte. Zuerst lächelte sie, doch dann erkannte sie, dass er nicht ihr Neffe war. Ihr Gesicht verzog sich vor Erstaunen, dann vor Entsetzen, als ihr klar wurde, wozu er zurückgekommen war. Sie rappelte sich auf und versuchte auf die Beine zu kommen. Pavel begann zu rennen. Diesmal war er bei weitem schneller als sie. Sie kletterte über den Stamm, da war er heran und riss sie zurück. Sie fiel zu Boden und sah zu ihm auf, die Augen aufgerissen und die Hände flehend erhoben.

„Herr, vergib mir, ich bin dein Knecht!“, stieß Pavel hervor und begann zuzuschlagen.

Die Teufelsbibel-Trilogie

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